Wer ent­schei­det, ob ich eine Schwan­ger­schaft aus­tra­ge? Wer bestimmt, ob ich Kin­der bekom­men darf? Seit 1994 unter­sagt die Agen­da von Kai­ro den Staa­ten, mit­hil­fe von Gebur­ten­kon­trol­le das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum zu beein­flus­sen. Statt­des­sen ste­hen sie in der Pflicht, das Wohl­erge­hen und die Selbst­be­stim­mung der Frau­en zu för­dern. Doch damit ist es nicht getan …

Für Müt­ter war Kin­der­krie­gen nie Pri­vat­sa­che. Seit je kon­trol­lie­ren und regu­lie­ren Fami­li­en, Gesell­schaf­ten und Staa­ten die weib­li­che Frucht­bar­keit. ‚Zu vie­le‘ oder ‚zu weni­ge‘ Men­schen – die­se Sze­na­ri­en bestimm­ten die Geschich­te der euro­päi­schen Staa­ten­bil­dung. Gebur­ten­steue­rung gehör­te zu den pri­mä­ren, oft mit Gewalt durch­ge­setz­ten Auf­ga­ben des moder­nen Staa­tes. Die „rich­ti­ge“ Bevöl­ke­rungs­grös­se war die Basis für die mili­tä­ri­sche, poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Macht eines Staates.

Bis in die jüngs­te Zeit hin­ein ver­such­ten west­li­che Staa­ten Gebur­ten im Glo­ba­len Süden zu kon­trol­lie­ren. Sie stütz­ten sich dabei auf einen Jahr­zehn­te geführ­ten Dis­kurs um eine angeb­li­che Über­be­völ­ke­rung. So knüpf­ten etwa der IWF oder die Welt­bank Ent­wick­lungs­hil­fe­gel­der an die Auf­la­ge, soge­nann­te Drit­te-Welt-Län­der hät­ten ihre Bevöl­ke­rungs­zah­len zu redu­zie­ren – mit der Fol­ge, dass in Indi­en Mil­lio­nen von Frau­en und Män­nern zwangs­ste­ri­li­siert wur­den. Gegen die­se Poli­tik gab es welt­wei­te Pro­tes­te sowohl von NGOs also auch Frauenbewegungen.

Die Agen­da von Kairo

Im Jahr 1994 schaff­te die UNO an der Welt­be­völ­ke­rungs­kon­fe­renz von Kai­ro die Bevöl­ke­rungs­po­li­tik offi­zi­ell ab. Nach lan­gen Ver­hand­lun­gen ver­ab­schie­de­te die inter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft die Agen­da für Repro­duk­ti­ve Gesund­heit und Rech­te (United Nati­ons 1994). Mit ihr wand­te man sich von einer Poli­tik ab, die auf die Bevöl­ke­rung als Gan­zes ziel­te, und ver­pflich­te­te sich statt­des­sen auf Prin­zi­pi­en der indi­vi­du­el­len Selbst­be­stim­mung und der Gesund­heits­för­de­rung. 179 Län­der stell­ten die Fort­pflan­zung auf die Basis von Men­schen­rech­ten. Von nun an woll­te man für die Gesund­heit der Frau­en sor­gen, statt deren Fort­pflan­zungs­ver­hal­ten kon­trol­lie­ren. Das Abschluss­do­ku­ment hat bis heu­te glo­ba­le Gül­tig­keit und dient als Richt­li­nie, an der sich Regie­run­gen und NGOs ori­en­tie­ren (soll­ten). Es war zwei­fel­los ein wich­ti­ger Schritt, um Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Bereich der repro­duk­ti­ven Frei­heit zu sanktionieren.

Die norwegische Premierministerin und spätere UNO Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland (ganz links) : "Wir betonten anstelle der einseitig demographischen Zielsetzung eines geringeren Bevölkerungswachstums die Notwendigkeit, die reproduktive Gesundheit zu verbessern." (Bild: UN Photo)
Die nor­we­gi­sche Pre­mier­mi­nis­te­rin und spä­te­re UNO Gene­ral­di­rek­to­rin Gro Har­lem Brundt­land (ganz links) im Anschluss an die Kon­fe­renz : „Wir beton­ten anstel­le der ein­sei­tig demo­gra­phi­schen Ziel­set­zung eines gerin­ge­ren Bevöl­ke­rungs­wachs­tums die Not­wen­dig­keit, die repro­duk­ti­ve Gesund­heit zu ver­bes­sern.“ (Bild: UN Photo)

Die Agen­da von Kai­ro ist ein Anfang. Nicht weni­ger, aber auch nicht mehr: So büss­ten die ursprüng­li­chen For­de­run­gen der Frau­en­be­we­gun­gen eini­ge ihrer Zie­le ein. Abtrei­bung zum Bei­spiel aner­kennt das Doku­ment nicht als Men­schen­recht. Des­halb bleibt ihre Rege­lung bis heu­te den ein­zel­nen Län­dern über­las­sen – mit dem Resul­tat, dass in vie­len repres­si­ven Län­dern jähr­lich zehn­tau­sen­de Frau­en an unsi­cher durch­ge­führ­ten Abtrei­bun­gen ster­ben und wei­te­re sie­ben Mil­lio­nen Frau­en ins Kran­ken­haus gebracht wer­den. Aus­ser­dem klam­mert die Agen­da sexu­el­le Rech­te und Selbst­be­stim­mung aus, dar­un­ter das Recht auf sexu­el­le Unver­sehrt­heit oder auf freie Partner*innenwahl unab­hän­gig von Geschlechts­iden­ti­tät, Sexua­li­tät usw.

Anti­na­ta­lis­mus wur­de mit Gesund­heits­ar­gu­men­ten legitimierbar.

Vor allem aber öff­ne­te das Doku­ment der staat­li­chen Gebur­ten­steue­rung doch noch eine Hin­ter­tür. Ver­schie­de­ne For­sche­rin­nen haben gezeigt, dass die Agen­da eine Trans­for­ma­ti­on und weni­ger eine Abschaf­fung oder gar ein Ende der Bevöl­ke­rungs­po­li­tik war. Zahl­rei­che Pro­gram­me hal­ten Frau­en im Glo­ba­len Süden an, weni­ger Kin­der zu krie­gen, weil es für sie gesün­der wäre (Schultz 2006). Anders aus­ge­drückt: Anti­na­ta­lis­mus wur­de mit Gesund­heits­ar­gu­men­ten legi­ti­mier­bar. Indem Kai­ro Fort­pflan­zung zum Public-Health-The­ma mach­te, blieb die Agen­da wei­ter­hin für gebur­ten­steu­ern­de Poli­tik anschluss­fä­hig. Fort­ge­führt wur­de damit eine alte Poli­tik im neu­en Kleid: Wie bringt man Frau­en dazu, Fort­pflan­zung zwar frei und selbst­be­stimmt, aber gesund­heit­lich und demo­gra­phisch opti­mal zu managen?

It’s your choice“

Im Gegen­satz zu frü­he­ren repres­si­ven Poli­ti­ken über­ant­wor­tet Kai­ro die Auf­ga­be der Gebur­ten­kon­trol­le vom Staat auf die Frau. Sie erhält zwar das Recht, nach eige­nem Wil­len Kin­der zu krie­gen, doch zugleich muss sie sich dar­um bemü­hen, es auch „rich­tig“ zu machen. Die Beto­nung der Eigen­ver­ant­wor­tung lässt sich leicht mit der pater­na­lis­ti­schen Idee ver­bin­den, wonach bestimm­te Frau­en (‚Dritte-Welt‘-Frauen) opti­ma­le repro­duk­ti­ve Ver­hal­tens­wei­sen erst erler­nen müssen.

Der Fokus auf indi­vi­du­el­le Ver­hal­tens­wei­sen stellt Ver­hü­tung und Ver­hü­tungs­mit­tel in den Vor­der­grund. Doch damit gera­te sozio­öko­no­mi­schen Bedin­gun­gen von Fort­pflan­zung oder asym­me­tri­sche Geschlech­ter­ver­hält­nis­se aus dem Blick. Vie­le Ent­wick­lungs­hil­fe­pro­jek­te kon­zen­trie­ren sich ent­spre­chend auf die Auf­klä­rung, wie sich opti­mal zeu­gen und ver­hü­ten lässt, ver­nach­läs­sig­ten aber Her­aus­for­de­run­gen wie die Ver­bes­se­rung von Gesund­heits­ver­sor­gung, den Bau von Kran­ken­häu­sern oder den Zugang zu Geburtshilfe.

Statt von Rech­ten ist von Choice die Rede.

Die Agen­da von Kai­ro wur­de im Jahr 2001 durch die WHO für den euro­päi­schen Raum spe­zi­fi­ziert und kon­kre­ti­siert. Ihr Titel: Regio­nal Stra­tegy on sexu­al and repro­duc­ti­ve health (WHO Regio­nal Office for Euro­pe 2001). In mei­ner Dis­ser­ta­ti­on habe ich gezeigt, dass die euro­päi­schen Pro­gram­me das indi­vi­du­el­le Gesund­heits­ver­hal­ten noch zusätz­lich beto­nen: Gesund­heit, Gesund­heits-Know-How und Gesund­heits­ver­hal­ten ste­hen nun ganz im Zen­trum. Poli­ti­sche Rech­te sind kaum mehr The­ma (auch nicht mehr im Titel). Statt von Rech­ten (wie in der Kai­ro-Agen­da) ist im gesam­ten Doku­ment von Choice (Wahl­frei­heit) die Rede.

Der Begriff Choice stammt aus der US-ame­ri­ka­ni­schen Frau­en­be­we­gung der 1960er-Jah­re, die mit der Devi­se Pro-Choice die repro­duk­ti­ve Selbst­be­stim­mung der Frau­en for­der­te, dar­un­ter vor allem das Recht auf Schwan­ger­schafts­ab­bruch, aber auch die freie Wahl im Bereich der Ver­hü­tung. Der Cla­im My Body, My Choice brach­te die libe­ra­len Ideen von Selbst­be­stim­mung und Ent­schei­dungs­frei­heit auf den Punkt und mach­te die Bewe­gung auch einem gros­sen Publi­kum bekannt. Den größ­ten poli­ti­schen Erfolg erziel­te die Frau­en­be­we­gung – noch bevor Pro-Choice zu einer gut orga­ni­sier­ten inter­na­tio­na­len Bewe­gung wur­de – mit der Lega­li­sie­rung von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen 1973 in den Ver­ei­nig­ten Staaten.

Im Fall Roe v. Wade von 1973 ver­füg­te der Obers­te Gerichts­hof der USA, dass Schwan­ge­re ihre Schwan­ger­schaft bis zu jenem Zeit­punkt abbre­chen dür­fen, an dem der Fötus lebens­fä­hig wird. Im Bild: Nor­ma McCor­vey ali­as „Jane Roe“ mit ihrer Anwäl­tin vor dem Supre­me Court anno 1989 (Bild: Lorie Shaull)

Ver­wen­det die inter­na­tio­na­le Poli­tik femi­nis­ti­sche Begrif­fe, bringt das Pro­ble­me mit sich: Wie wird eigent­lich Choice gefasst? Wer defi­niert, was eine selbst­be­stimm­te Ent­schei­dung einer Frau ist und was nicht? Und wie wer­den einst kämp­fe­ri­sche For­de­run­gen wie repro­duc­ti­ve Choice geschwächt, wenn sie von der offi­zi­el­len Poli­tik über­nom­men werden?

Die Pro­gram­me sug­ge­rie­ren, der Zugang zu sowie Nut­zung von Ver­hü­tungs­mit­teln sei­en die ent­schei­den­den Indi­zi­en für ‚Selbst­be­stim­mung‘.

Die UN-Pro­gram­me ver­wen­den „Choice“ tat­säch­lich als eine abge­schwäch­te und ent­po­li­ti­sier­te Vari­an­te von Rech­ten. Repro­duk­ti­ve Selbst­be­stim­mung wird ledig­lich als eine ‚Ver­hü­tungs-Wahl‘ defi­niert, die auf der Grund­la­ge sach­kun­di­gen Ver­hü­tungs­wis­sens vor dem Ein­tre­ten einer Schwan­ger­schaft getrof­fen wird. Die WHO Euro­pa beruft sich dabei auf einen quan­ti­ta­ti­ven Ansatz: Je ver­schie­de­ner und je zugäng­li­cher Ver­hü­tungs­mit­tel sind, des­to eher wer­den sie ver­wen­det: „Inde­ed, evi­dence shows that offe­ring a choice of methods leads to grea­ter use of con­tracep­ti­on“ (WHO 2013: 4). Die Pro­gram­me sug­ge­rie­ren, der Zugang zu sowie die erhöh­te Nut­zung von Ver­hü­tungs­mit­teln sei­en die ent­schei­den­den Indi­zi­en für ‚Selbst­be­stim­mung‘ und mit­hin Aus­druck einer bes­se­ren repro­duk­ti­ven Gesundheit.

Schwan­ger­schaft ist kei­ne „Wahl“

Wer wie der euro­päi­sche Zweig der WHO Choice als Ver­hü­tungs­wahl begreift, nimmt vier Neben­wir­kun­gen in Kauf, wel­che die Frei­heit repro­duk­ti­ven Han­delns mas­siv begren­zen und wich­ti­ge Dimen­sio­nen von Selbst­be­stim­mung ausblenden:

Indem die Pro­gram­me ers­tens die Selbst­be­stim­mung bzw. Choice auf den Zeit­raum vor dem Ein­tre­ten einer Schwan­ger­schaft fest­le­gen, ist letz­te­re selbst nicht mehr Gegen­stand einer frei­en Wahl. Schwan­ger­schafts­ab­brü­che gel­ten folg­lich nicht mehr als Ergeb­nis einer Ent­schei­dung. Eine so ver­eng­te Per­spek­ti­ve blen­det aus, dass es selbst bei einem flä­chen­de­cken­den Ver­hü­tungs­mit­tel­an­ge­bot wei­ter­hin zu unge­woll­ten Schwan­ger­schaf­ten kommt. Dem­entspre­chend fällt die Not­wen­dig­keit, Abtrei­bungs­mög­lich­kei­ten bereit zu stel­len, in den Choice-Kon­zep­ten der WHO unter den Tisch.

Durch den Fokus auf Ver­hü­tung wird Choice zwei­tens auf ein­zel­ne, leicht mess­ba­re Fak­to­ren wie den Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln redu­ziert. Aus dem Blick gerät, wel­che Vor­aus­set­zun­gen wie Gleich­stel­lung oder aus­rei­chen­de Gesund­heits­ver­sor­gung es braucht, damit ver­schie­de­ne Frau­en auch tat­säch­lich eine freie Wahl haben.

Drit­tens zeigt sich auch in den WHO-Kon­zep­ten ein ten­den­zi­ell pater­na­lis­ti­scher Ton, der nahe­legt, Frau­en, aber auch Män­ner wür­den erst durch die­se Pro­gram­me über­haupt in die Lage ver­setzt, rich­ti­ge, gesun­de und mit­hin selbst­be­stimm­te Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Wie es die WHO formuliert:

Peo­p­le should be enab­led, through infor­ma­ti­on and edu­ca­ti­on, to acqui­re and main­tain beha­viour that pro­mo­tes their own repro­duc­ti­ve health“ (2001: 16). Die Län­der wie­der­um wer­den folg­lich dazu ange­hal­ten, „[to] ensu­re that
women recei­ve the infor­ma­ti­on they need to make infor­med decis­i­ons“ (WHO 2013: 11).

Mit ande­ren Wor­ten: Selbst­be­stimmt kann das Han­deln von Frau­en nur dann sein, wenn es den pro­gram­ma­ti­schen Idea­len der repro­duk­ti­ven Gesund­heit entspricht.

Der hohe Stel­len­wert von Ver­hü­tung und Ver­hü­tungs­ver­hal­ten rückt vier­tens Ent­schei­dun­gen ins Zen­trum, die auf Pla­nung basie­ren. Die Ent­ste­hung von Kin­dern erscheint als ein durch und durch inten­tio­na­ler und ratio­na­ler Pro­zess. In der Per­spek­ti­ve der WHO-Pro­gram­me meint Choice die rich­ti­ge Pla­nung von Schwan­ger­schaf­ten mit dem Ziel, dass, wie die WHO schreibt, jedes Kind ein gewoll­tes Kind ist (WHO 2001, 8). Zugrun­de gelegt wird ein „posi­ti­vis­ti­sches Ver­ständ­nis von Auto­no­mie“ (Hirschau­er 2014), das ‚gewollt‘ und ‚geplant‘ gleich­setzt. Unbe­ach­tet bleibt, dass sich eine unge­woll­te auch in eine gewoll­te Schwan­ger­schaft ver­wan­deln kann. Wie Hirschau­er zeigt, kann, was „plötz­lich pas­siert ist“, eini­ge Zeit spä­ter den Anstrich eines lang­fris­ti­gen Pla­nes bekom­men – oder umge­kehrt: Eine geplan­te Schwan­ger­schaft kann sich plötz­lich in eine unge­woll­te ver­wan­deln. Die star­ke Unter­schei­dung von ‚geplant‘ und ‚unge­plant‘ ent­spricht kei­ner geleb­ten Praxis.

Die Unter­schei­dung von ‚geplant‘ und ‚unge­plant‘ ent­spricht kei­ner geleb­ten Praxis.

Letzt­lich ver­gisst die Choice-Per­spek­ti­ve der WHO, dass der bio­gra­fi­sche Über­gang zur Eltern­schaft oft­mals kaum mit dem klas­si­schen Modell ratio­na­ler Ent­schei­dung über­ein­stimmt. Eltern­schaft „kann sich ereig­nen, ohne dass eine Ent­schei­dung getrof­fen wur­de“ – aller­dings bedeu­tet das eben nicht zwangs­läu­fig, dass eine Schwan­ger­schaft unge­plant oder unge­wollt war.

Eine „Wahl“ haben nicht alle

Bei genaue­rer Betrach­tung wird Choice, so wie es die Pro­gram­me ver­wen­den, vie­len Frau­en und Lebens­si­tua­tio­nen nicht gerecht. Die Akti­vis­tin­nen von Sis­ter Song zum Bei­spiel, einem Zusam­men­schluss von Frau­en aus afri­ka­ni­schen Län­dern, kri­ti­sier­ten, dass die Lebens­si­tua­tio­nen von Women of Color im Choice-Kon­zept nicht berück­sich­tigt wer­den. Choice blen­de die öko­no­mi­sche Ungleich­heit aus, von der Women of Color sowohl in der west­li­chen Hemi­sphä­re als auch in den Län­dern des Glo­ba­len Südens beson­ders häu­fig betrof­fen sind.

Laut Sis­ter Song ist Choice vor allem in der poli­ti­schen Rhe­to­rik wei­ßer Frau­en der ame­ri­ka­ni­schen Mit­tel­klas­se behei­ma­tet. Die­se haben durch ihren sozia­len Sta­tus bereits eine Aus­wahl an Mög­lich­kei­ten, etwa dar­über zu ent­schei­den, ob und wann sie Müt­ter wer­den wol­len oder nicht. Arme, wenig pri­vi­le­gier­te Frau­en sei­en von einer sol­chen Wahl oft weit ent­fernt und viel­fäl­ti­gen Zwän­gen unterworfen.

Die Kri­tik am Choice-Kon­zept ist auch eine Kri­tik an einer neo­li­be­ra­len Ent­schei­dungs­au­to­no­mie, in der Men­schen angeb­lich zwi­schen einer Viel­falt von Optio­nen frei wäh­len kön­nen. Das Ide­al der Wahl­frei­heit klam­mert die gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen aus, unter denen Ent­schei­dun­gen über­haupt getrof­fen wer­den (kön­nen). Für Frau­en, die kei­nen Zugang zu Abtrei­bung, Gesund­heits­ver­sor­gung und über­haupt zu wür­di­gen Lebens­op­tio­nen haben, ent­fernt sich die Idee der Wahl so weit von der Rea­li­tät, dass sie zu einem hoh­len Kon­zept ver­kommt. Aus­ser­dem kann nicht ernst­haft von einer „Wahl“ gespro­chen wer­den, wenn Staa­ten wie die USA Frau­en mit Dro­gen­pro­ble­men oder einer kri­mi­nel­len Ver­gan­gen­heit bestimm­te Ver­hü­tungs­mit­tel auf­zwin­gen, indem sie ihnen ‚Boni‘ ver­spre­chen oder die Sozi­al­hil­fe kür­zen, wenn die Frau­en sich wei­gern, die Ver­hü­tungs­mit­tel einzunehmen.

Loretta J. Ross, Feministin, Hochschullehrerin, Aktivistin und Mitgründerin von Sister Song (Bild: Center for American Progress, Flickr)
Loret­ta J. Ross, Femi­nis­tin, Hoch­schul­leh­re­rin, Akti­vis­tin und Mit­grün­de­rin von Sis­ter Song (Bild: Cen­ter for Ame­ri­can Pro­gress, Flickr) 

Ein Recht auf Familie

Vie­le Frau­en sind als Müt­ter in die­ser Gesell­schaft nicht vor­ge­se­hen. Sie müs­sen nicht dar­um kämp­fen, zu ver­hü­ten, um nicht Mut­ter zu wer­den. Viel­mehr strei­ten sie dafür, unter wid­ri­gen Umstän­den über­haupt Müt­ter sein zu dür­fen und ihre Kin­der wür­de­voll gross­zu­zie­hen. In Bezug auf die Fra­ge, was denn eigent­lich repro­duk­ti­ve Selbst­be­stim­mung sei, müs­sen wir berück­sich­ti­gen: Für pri­vi­le­gier­te Frau­en ist Fami­lie oft ein Ort der Enge und Ein­schrän­kung. Fami­lie und Kin­der­krie­gen ste­hen hier oft im Gegen­satz zu bestimm­ten femi­nis­ti­schen Auto­no­mieidea­len, sie sind mit dem Druck kon­fron­tiert, per­fek­te Müt­ter sein zu müs­sen, wes­halb ihre Eman­zi­pa­ti­on eher dar­in besteht, sich von Fami­li­en­nor­men zu eman­zi­pie­ren. Doch für weni­ger pri­vi­le­gier­te Frau­en kann Fami­lie ein Ort des Wider­stan­des sein: Die­se wur­de ihnen im Zuge von Skla­ve­rei, Migra­ti­on oder Dis­kri­mi­nie­rung oft­mals ver­wei­gert. Ihr eman­zi­pa­to­ri­sches Anlie­gen besteht dar­in, über­haupt als Müt­ter aner­kannt zu wer­den und sozio­öko­no­mi­sche Bedin­gun­gen zu schaf­fen, unter denen sie Kin­der groß­zie­hen können.

Sis­ter Song for­dert, das Recht auf Fami­lie genau­so wie die Frei­heit zur Ver­hü­tung zu gewich­ten. Doch damit Frau­en die­ses Recht wahr­neh­men kön­nen, bedarf es einer sozia­len Gerech­tig­keit, die alle Ele­men­te von repro­duk­ti­ver Selbst­be­stim­mung und Eltern­schaft berück­sich­tigt. Sis­ter Song nennt das: repro­duc­ti­ve jus­ti­ce. 

Loret­ta Ross, Mit­grün­de­rin von Sis­ter Song, schreibt:

Spea­king of cau­ses in com­mon, we have to fight for the right to parent the child­ren that we have. So when you talk about repro­duc­ti­ve strugg­le, rea­li­ze it’s a three-way strugg­le: It’s not just about the right to abor­ti­on and con­tracep­ti­on. It’s about the right to live a life based in human rights, a right to live life the way we choo­se, but also […] not only the life we choo­se, but to have the social sup­ports neces­sa­ry to live that life we choo­se, cau­se having choices wit­hout enab­ling con­di­ti­ons to exer­cise tho­se choices doesn’t make sense.“

having choices wit­hout enab­ling con­di­ti­ons to exer­cise tho­se choices doesn’t make sen­se“ Loret­ta Ross

Lite­ra­tur

Hirschau­er, Ste­fan. 2014. Sozio­lo­gie der Schwan­ger­schaft. Stutt­gart

Schultz, Susan­ne. 2006. Hege­mo­nie – Gou­ver­ne­men­ta­li­tät – Bio­macht. Repro­duk­ti­ve Risi­ken und die Trans­for­ma­ti­on inter­na­tio­na­ler Bevöl­ke­rungs­po­li­tik. Müns­ter.

UN. 1994. Pro­gram­me of Action adopted at the Inter­na­tio­nal Con­fe­rence on Popu­la­ti­on and Deve­lo­p­ment Cai­ro, 5–13 Sep­tem­ber 1994. Online

WHO Regio­nal Office for Euro­pe. 2001. WHO Regio­nal Stra­tegy on sexu­al and repro­duc­ti­ve health. Copen­ha­gen. Online

WHO. 2013. Ent­re Nous. The Euro­pean Maga­zin for Sexu­al and Repro­duc­ti­ve Health. Copen­ha­gen. Online

Bild­nach­weis

Rice Toa­sties Print­wer­bung aus den 1950-Jahren.

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