Wahr­schein­lich habe ich manch­mal dar­an gedacht, wäh­rend ich noch bei ihr leb­te, natür­lich war sie irgend­wann mal jung und vol­ler Träu­me gewe­sen, aber als ich die­ses Foto wie­der­fand, hat­te ich schon lan­ge nicht mehr dar­an gedacht, die­ses Bewusst­sein, Wis­sen, war zu abs­trakt. Nichts oder so gut wie nichts dar­an, wie ich sie in mei­ner Kind­heit kann­te, wäh­rend der kör­per­li­chen Nähe zu ihr fünf­zehn Jah­re lang, hät­te mich dar­an erin­nern kön­nen.“ S. 8


Der Anblick die­ses Fotos hat mich dar­an erin­nert, dass die Zer­stö­rung die­ser zwan­zig Lebens­jah­re nichts Natür­li­ches war, son­dern auf das Ein­wir­ken von Kräf­ten aus­ser­halb mei­ner Mut­ter zurück­ging – Gesell­schaft, Män­ner­welt, mein Vater -, und dass folg­lich alles auch hät­te anders gewe­sen sein können.

Der Anblick des Glücks hat mich die Unge­rech­tig­keit sei­ner Zer­stö­rung spü­ren lassen.

Ich habe vor die­sem Foto geweint, denn ich war, ohne mein Zutun, oder viel­leicht eher zusam­men mit mei­ner Mut­ter selbst und manch­mal gegen sie, einer der Akteu­re die­ser Zer­stö­rung.“ S. 8f.


Die ers­ten Sei­ten die­ser Geschich­te hät­ten über­schrie­ben sein kön­nen: Rin­gen eines Soh­nes dar­um, nicht Sohn zu wer­den.“ S. 12


Denn jetzt weiss ich es, sie haben das, was sie Lite­ra­tur nen­nen, gegen sol­che Leben und sol­che Kör­per wie den ihren, wie den mei­ner Mut­ter kon­stru­iert. Denn jetzt weiss ich es, künf­tig über sie und über ihr Leben zu schrei­ben, das heisst, gegen die Lite­ra­tur anzuschreiben.

Man hat mir gesagt, die Lite­ra­tur dür­fe nie­mals ver­su­chen, die Wirk­lich­keit zu erklä­ren, son­dern sie nur illus­trie­ren, aber ich schrei­be, um das Leben mei­ner Mut­ter zu erklä­ren und zu verstehen.

Man hat mir gesagt, die Lite­ra­tur dür­fe sich nie­mals wie­der­ho­len, aber ich immer nur die­sel­be Geschich­te erzäh­len, immer wie­der dar­auf zurück­kom­men, bis sie Frag­men­te ihrer Wahr­heit durch­schei­nen lässt, ein Loch nach dem ande­ren gra­ben, bis zu dem Augen­blick, da etwas von dem durch­si­ckert, was sich dahin­ter ver­birgt.

Man hat mir gesagt, die Lite­ra­tur dür­fe nie­mals Gefüh­le zur Schau stel­len, aber ich schrei­be nur, um Gefühl her­vor­quel­len zu las­sen, die der Kör­per nicht aus­drü­cken kann.

Man hat mir gesagt, die Lite­ra­tur dür­fe nie­mals einem poli­ti­schen Mani­fest ähneln, aber schon schär­fe ich jeden Satz, als wäre er eine Messerklinge.

Denn jetzt weiss ich es, sie haben das, was sie Lite­ra­tur nen­nen, gegen sol­che Leben und sol­che Kör­per wie den ihren, wie den mei­ner Mut­ter kon­stru­iert. Denn jetzt weiss ich es, künf­tig über sie und über ihr Leben zu schrei­ben, das heisst, gegen die Lite­ra­tur anzu­schrei­ben.“ S. 14f.


Ich begriff nicht war­um, aber ich hass­te es, sie glück­lich zu sehen, ich hass­te die­ses Lächeln auf ihren Lip­pen, die plötz­li­che Nost­al­gie, die Zufrie­den­heit.“ S. 20


Ihr stie­gen die Zor­nes­t­rä­nen in die Augen, sie mach­te die Musik aus und schrie, Ver­damm­te Scheis­se, lasst ihr mich denn nie­mals glück­lich sein, wenigs­tens ein­mal in mei­nem Scheiss­le­ben!!!!!! War­um darf ich nicht auch mal glück­lich sein?“ S. 21

Ver­damm­te Scheis­se, lasst ihr mich denn nie­mals glück­lich sein, wenigs­tens ein­mal in mei­nem Scheiss­le­ben!!!!!! War­um darf ich nicht auch mal glück­lich sein?


Sie hat ihre Träu­me nicht ver­wirk­licht. Sie hat, was sie als Abfol­ge von Unfäl­len sah, aus denen ihr Leben bestand, nicht repa­rie­ren kön­nen. Sie hat nicht das Mit­tel gefun­den, um dann ihr eige­nes Leben zu leben.“ S. 27


Sie war sich ganz sicher, dass sie ein ande­res Leben ver­dien­te, dass es die­ses Leben irgend­wo gab, abs­trakt gese­hen, in einer vir­tu­el­len Welt, so gut wie in Reich­wei­te, und dass ihr Leben in der wirk­li­chen Welt eigent­lich wegen eines Ver­se­hens so aus­sah wie es war.“ S. 27


In mei­ner Kind­heit schäm­ten wir uns zusam­men – unse­res Hau­ses, unse­rer Armut. Jetzt schäm­te ich mich dei­ner, gegen dich. Unse­re jewei­li­ge Art, uns zu schä­men, trenn­te uns jetzt. S. 56


Eine Hypo­the­se: Ich glau­be, wenn wir uns in den letz­ten Jah­ren nicht ein­an­der ange­nä­hert hät­ten, wenn es die­se Annä­he­rung nicht gege­ben hät­te, die dank der Tren­nung begon­nen hat­te, dann hät­te ich mich an die­se Geschich­te nicht erin­nert. Weil unse­re Bezie­hung sich ver­än­dert hat, kann ich jetzt wohl­wol­lend auf unse­re Ver­gan­gen­heit bli­cken, oder bes­ser gesagt, kann ich im Cha­os der Ver­gan­gen­heit Frag­men­te der Zärt­lich­keit ausmachen.

Unse­re Annä­he­rung hat nicht die Zukunft mei­ner Mut­ter ver­än­dert, sie hat auch unse­re Ver­gan­gen­heit trans­for­miert.“ S. 70f.

Weil unse­re Bezie­hung sich ver­än­dert hat, kann ich jetzt wohl­wol­lend auf unse­re Ver­gan­gen­heit bli­cken, oder bes­ser gesagt, kann ich im Cha­os der Ver­gan­gen­heit Frag­men­te der Zärt­lich­keit ausmachen.


In ihrem Leben war die Lie­be immer ein Raum gewe­sen, in dem man kom­man­dier­te oder kom­man­diert wur­de, kein Raum frei von Macht­ver­hält­nis­sen.“ S. 75


Für man­che ist die Iden­ti­tät als Frau gewiss eine bedrü­cken­de Iden­ti­tät; für sie bedeu­tet das Frau-Wer­­den eine Errun­gen­schaft.“ S. 89

 

Édouard Lou­is: Die Frei­heit einer Frau. Über­set­zung: Hin­rich Schmidt-Henkel.
S. Fischer Ver­lag, 2021.