Prolog
Meine Erwartungen hätten tiefer kaum sein können. Ein Samstagabend in der aufregendsten Stadt der Welt und ich war unterwegs zu einem Powerpoint-Vortrag. Melina hatte mich eingeladen, zwei Künstler*innen würden ihre Arbeiten präsentieren. Ich hatte Ja gesagt, die Zukunft schien damals weit weg; jetzt war sie überraschend eingetreten. Ich stellte mir halbleere Stuhlreihen in einer Aula vor. Die „Präsentationen“ würden von 18.45 bis etwa 20 Uhr dauern, mit einer kleinen Pause, so hieß es in Melinas Textnachricht. Die Adresse führte zu einem Haus in Chelsea.
Als die Lifttür sich öffnete, landete ich in einer zweistöckigen Loftwohnung. Überall großformatige Bilder, Fotografien und Skulpturen; das hohe Wohnzimmer dreiseitig von einer Galerie umrahmt, die links und rechts je in die offene Bibliothek und die Wohnküche überging. Die Mäntel, es war März, legten wir im Schlafzimmer auf dem Doppelbett ab. Wir waren privat bei jemandem zu Hause, allein das ist in New York etwas Besonderes.
Die Gäste kamen aus New York und dem Rest der Welt. Ich sprach zufällig eine 60-jährige Frau mit wildgelocktem, langem Haar an. Dr. Ellen Pearlman. Sie beschäftigt sich gerade mit damit, wie künstliche Intelligenz aufgrund ihrer konservativen Neigungen Teile der Menschheitsgeschichte verdrängt. Vor wenigen Jahren hat sie die erste Hirnwellen-Oper kreiert. Dabei trägt eine Opernsängerin einen Helm, der ihre Hirnströme in Farben und Töne umwandet. Zugleich interagiert sie auf der Bühne mit einem Roboter.
Es gab Wein und Tortillas. Nach einer Weile wurden alle gebeten, vor einer enormen Leinwand Platz zu nehmen. Die nun Vortragenden waren nicht brotlose Künstler*innen aus Brooklyn. Sie, Kay Watson ist Kuratorin der Technologie-Sektion der weltberühmten Serpentine Gallery in London. Er, Kuds Steensen, ein dänischer Künstler, der einen virtuelle Sumpflandschaften an überraschenden Orten erleben lässt, zum Beispiel im Park bei der Serpentine Gallery oder im Berliner Nachtklub Berghain.
Das war kein Dia-Vortragsabend, das war ein mondäner Kunstsalon. Ich war bei Gertrude Stein in New York gelandet, in Asher Remy-Toledos Salon Hyphen Hub.
Gibt es solche halb-privaten Kunstsalon auch in der Schweiz? Nicht, dass ich wüsste. So wie Asher aber könnte man es machen. Oder auch ganz anders. Es braucht dazu nur sieben Sachen.
I. Die Gastgeber*in
Melina steuerte mit mir auf einen Mann in schwarzem Polo über schwarzer Jeans zu: Brille, Glatze, Dreitagebart, scheues Lächeln. „Und das ist Asher.“
Asher Remy Toledo, 1963 in Kolumbien geboren, arbeitet seit fast 20 Jahren mit Kunstschaffenden rund um den Globus. Er studierte in Kolumbien, Spanien und Italien alles mögliche, von Mode über Architektur bis Psychologie. Er kuratierte Galerien in Beijing und New York, Kunst- und Performancefestivals in Kolumbien, England, Italien und den USA. Er war Reiseführer, Immobilienmakler und Programmierer eines wilden Clubs des Musik-Impresario Giorgio Golmesky. Dessen Club bestand aus roten Wänden, schwarzem Boden, Marihuana-Rauch und den Rolling Stones. Zu den ersten Gästen gehörten Debby Harrie, Jeff Buckley und Basquiat. Später erfand Asher die Kunstintervention No Longer Empty, die ab 2009 leerstehende Gebäude mit standortbezogenen Kunstanlässen belebte.
Asher hat sich über all die Jahre ein Netzwerk interessanter Leute aufgebaut, das er bis heute pflegt. „Das ist ein Talent, das hat man oder hat man nicht. Asher hat alles und alle auf dem Schirm“, sagt Hans Michael Herzog, künstlerischer Direktor der Daros Latinamerica Collection in Zürich. Er hatte Ende Mai seinen Auftritt in Asher’s Salon, zusammen mit einem kubanischen Künstler.
Was war die Motivation für seinen Salon? Auf die Frage hätte Asher seine Erfahrungen und Bekanntschaften aufzählen können, doch er antwortet: „Ich hatte Krebs.“ Es ist 20 Jahre Jahre her, Asher arbeitete gerade für einen Experten für asiatische Antiken in New York. Vor allem Kunst aus Kambodscha hatte es ihm angetan. Während er sich einer Chemotherapie unterzog, lief er nachts durch die 1000 Jahre alten Straßen von Angkor Wat. Da habe er erkannt, wie diese Kunst einst entstand. „Da sagte ich mir: Ich möchte aufhören, über die Geschichte zu lesen, ich möchte Teil der Geschichte werden.“
„Ich möchte aufhören, über die Geschichte zu lesen …“
Sein Anliegen formuliert er heute wie eine Science-Fiction Autor*in: „Sollte ein Partikel von mir in 1000 Jahren noch da sein und Bewusstsein haben, wozu würde es stolz sagen können, ich war da, als es passierte?“ Er fragte seine Bekannten, was sie aus ferner Zukunft zurückblickend als relevante Kunst unserer Zeit betrachten würden. Die meisten meinten: Feministische Kunst und neue Medientechnologie. Also begann Asher, nach Künstlerinnen und Künstlern aus diesen Gebieten zu suchen.
II. Ein Thema
So nahm vor bald zehn Jahren Ashers Salon seinen Anfang. Er nannte ihn Hyphen Hub. „Hyphen“ bedeutet Bindestrich. Asher möchte nicht nur Menschen, sondern auch Kunst und Technologie zusammenbringen. Diese Schnittstelle ist seine Spezialität. Asher glaubt, jede neue Technologie sei, was einst der Pinsel, später Film und Photographie waren. „Die Künstler nehmen sich die Technologien ihrer Zeit und adaptieren sie für ihre Kunst.“
Als Asher begann, sich mit künstlerischen und technischen Entwicklungen zu beschäftigen, war das allgemeine Interesse daran gering. Die Kuratoren wussten nicht, wie sie Medienkunst in ihre Museen integrieren sollten; die Sammler wussten nicht, wie sie das bei sich ausstellen sollten. „Die Künstler, die in den experimentellen neuen Medien arbeiteten, waren eine Art Antithese zu all dem Kommerz, zu dem Kunst verkommen war.“
„Wir können solche Kunsterlebnisse nur ein paar Augenblicke festhalten, dann sind sie weg …“
Asher hat aufgehört, die großen Kunstmessen zu besuchen: „Es ist prätentiös, es geht nur noch um Geld, Geld, Geld.“ Neue Medienkunst könne man nicht so einfach objektivieren oder quantifizieren. Es werden nur flüchtige Momente hergestellt, so wie ein Sonnenuntergang. In seinem Salon wollte Asher Kunst- oder Musikperformances mit anderen erleben. „Wir können solche Kunsterlebnisse nur ein paar Augenblicke festhalten, dann sind sie weg, aber sie bleiben in unserem Gedächtnis und bereichern unser Leben auf tiefergehende Weise. Das ist oft mehr wert als Objekte, die wir behalten können.“
III. Die Künstler*innen
Will eine Künstler*in sich in New York einem größeren Publikum präsentieren, braucht sie viel Geld. Wenn sie keine Sponsoren hat, eine Firma oder eine reiche Galerie, passiert nichts. Dann heißt es: „Stell halt in Europa aus!“. Für talentierte Menschen ist Hyphen Hub eine Chance, sich in dieser geldgetriebenen Stadt zu zeigen. Vor einem kleineren, aber besonderem Publikum.
Asher sucht nach Künstler*innen mit technikaffinen Projekten – nach Medienkunst, die Poesie und Tiefgang habe: „Künstler betrachten Dinge globaler, anders, zwingender.“ Gute Kunst sei für sie ein Kanal, um in die Köpfe anderer Menschen zu gelangen, ohne pädagogisch zu sein.
Sein Spezialgebiet ist zwar Medienkunst, doch sein Salon ist auch eine Art Labor für alle möglichen Experimente: Einmal gab ein Schlagzeuger mit bionischen Handprothesen ein denkwürdiges Konzert. An einem andern Abend simulierte Juan Cortés eine Galaxie samt schwarzen Löchern, die man erspüren konnte. Asher ließ auch gebratene Löwenmähnen-Pilze servieren. Sie waren ein Vorgeschmack für einen in 3D nachempfindbaren als Vorgeschmack auf einen in 3D nachempfindbaren Lebenszyklus‘ eines Pilzes.
IV. Die Gäste
„Ich kuratiere nicht nur die Künstler*innen, ich kuratiere auch das Publikum.“ Indem Asher seine Gäste sorgfältig auswählt, kann er eine möglichst diverse Gruppe zusammenstellen. Die Besucher*innen kommen aus ganz verschiedenen Ländern, sozialen Schichten, Kunst-Sparten und vielen anderen Berufen. Der Salon soll die Diversität der Stadt spiegeln, die so herausragende Kunstbewegungen hervorgebracht hat.
Asher möchte keine Gäste, die wegen des kostenlosen Weins herkommen, noch weniger arrogante, egoistische Leute. Mögen sie noch so berühmt sein, noch so reich: „Das ist meine Stube, und ich möchte hier nur Menschen einladen, die ich mag und schätze; altruistische Menschen, die neue Ideen einbringen, die etwas Großartiges zu sagen oder zu teilen haben.“ Seit er es so halte, habe er auch nie mehr Ärger gehabt. Im Gegensatz zu früher, als sein Ehemann, ein Theaterproduzent, und er noch alle möglichen Events bei sich daheim organisierten. Ein bekannter Kurator habe sich einmal an einem Anlass völlig betrunken und begonnen, Frauen zu belästigen.
„Ich kuratiere nicht nur die Künstler*innen, ich kuratiere auch das Publikum.“
Zu Beginn führte er eine Liste von rund 2000 Personen , die er regelmäßig einlud, heute seien es noch etwa 500 sowie eine Short List von 60 Freunden, die ihn seit langer Zeit eng begleiten. Sie sind Filmemacher, Designerinnen, Musiker, Kuratorinnen, Tänzer, Menschenrechtsaktivisten, Schriftstellerinnen, Juristen, Politikerinnen – und vor allem technikaffine Künstlerinnen und Künstler.
Die Gäste kommen, weil sie etwas Neues lernen wollen und weil sie wisse, dass die Qualität der anderen Gäste und Künstler*innen hoch sei, das bestätigt auch Melina. Sie besucht auch andere Kunstsalons in New York, doch Ashers sei einzigartig hochstehend, divers und langlebig.
V. Ort und Zeit
Er habe gehört, die Schweizer lüden Menschen nicht so schnell zu sich ein. Ein Salon könne aber auch an einem öffentlicheren Ort stattfinden, etwa in einem Café. „Man denke an das Cabaret Voltaire, das ist ja eine Schweizer Erfindung.“ Asher führt die Salons meist bei sich zuhause durch. Wichtiger aber als der Ort sei der Rhythmus. Hyphen Hub findet seit bald zehn Jahren statt und das monatlich. „Man muss es regelmäßig machen, sonst funktioniert es nicht“. Asher organisiert alles allein, aber man kann sich die Arbeit auch aufteilen.
„Man muss es regelmäßig machen, sonst funktioniert es nicht.“
VI. Kosten
Asher lässt sich einen Abend rund 2000 Dollar kosten. Das liegt auch an den exorbitant hohen Preisen in Manhattan sowie an Ashers Perfektionismus: Er lässt jeden Abend von Profis fotografisch und filmisch dokumentieren, er stellt Leute an fürs Servieren und steckt viel Arbeit in die sozialen Medien. Seit kurzem habe er damit begonnen, einen symbolischen Eintrittspreis zu verlangen, zwischen 10 und 20 Dollar. „Ich zögere noch, es ist mir unangenehm. Aber ich möchte damit nicht zuletzt bewirken, dass wirklich nur am Inhalt Interessierte kommen.“ Ein Salon muss aber nicht viel kosten: Die Gäste können zum Beispiel Wein und Essen selbst mitbringen und sich selbst bedienen.
VII. Spread the word
Hyphen Hub ist vor allem auf Instagram aktiv. Es gibt zudem eine Webseite, auf der alle bisherigen Anlässe zu finden sind. Er habe immer wieder zu einem Manifest angesetzt, es aber nie beendet. Nun arbeitet Asher an einem Buch, um die Hunderte von Salons der letzten zehn Jahre zu dokumentieren. „Das Buch soll auch eine Methodik sein, wie sich diese Art der interdisziplinären Zusammenarbeit durchführen lässt.“ Asher hat nicht Angkor Wat gebaut, aber die Geschichte des Kunstsalons schreibt er weiter.
Epilog
„In einem Salon darfst du alles sein, nur nicht langweilig“, ist gemäß Daros-Direktor Hans Herzog ein Zitat von Madame de Staël. Eine Bestätigung dafür, dass sie es wirklich so gesagt hat, kann ich allerdings nicht ausmachen. Aber es ist ein amüsantes Zitat aus einem der inzwischen vielen Salon-Gespräche bei Asher, die alles sind, nur nie langweilig.
Bildnachweis
Bunte Sitze. Foto: Diego Garcia da Rosa, Alamy.
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Susanna Petrin
Susanna Petrin lebt und arbeitet als Journalistin in New York. Ihre allerersten Texte – von denen sie hofft, sie mögen für immer verschollen bleiben – schrieb sie mit 14 für die einstige Jugendzeitschrift Magic. Seither hat sie unter anderem ein Studium der Germanistik, Anglistik und Publizistik in Basel und Zürich abgeschlossen, als Redaktorin für diverse Zeitungen gearbeitet und Einsitz in die Jury des Schweizer Buchpreises genommen.
Sehr geehrte Frau Petrin
Ich hasse Schlitzfenster, zum eintippen. Ich wollte Ihnen eine ganz normale Mail senden (auch das ist stillos, aber was mache ich ohne Postadresse,. damit Sie einen netten Brief, ganz haptisch erhalten können ?). Sie sehen wo mein Kulturanspruch ansetzt.
Sie fragen nach Salons in der Schweiz. In Bern gab es zwei. Jetzt ist nur noch meiner aktiv. In Winterthur ist auch einer, zur Zeit nicht aktiv.
Unser Format ist ganz anders. Wir waren einst sechs Männer, alles Akademiker, Professoren. Wir treffen uns einmal im Jahr und sprechen über ein gewähltes Thema, z.B. „Scheitern“, „Tiefe“, etc. Wir publzieren nichts, wir haben keine Gäste, würden aber den Kreis gerne erweitern. Das hat sich als sehr schwierig erwiesen, weil die meisten „keine Zeit haben“, obgleich Sie die Sache an sich schon interessieren würde.
Falls unser Salon Ihr Interesse findet, könneten wir mal darüber sprechen.
Mit besten Grüssen
Jürg Hulliger
Prof. em, heute fashion stylist für den New Look for Men, die ganz andere Herrenmode ohne Anzüge, Jeanswear, Sportswear und dergleichen Plunder. Autor von „Kleider machen den Herrn. Eigener Stil kennt keine Dresscodes“
Sehr geehrte Frau Petrin
Ich möchte Ihnen einen Brief senden zum Thema Salons in der Schweiz. Ich selbst habe einen gegründet.
Damit ich nicht das unsinnige (stillose) Schlitzformular verwenden muss, bitte ich um Zusendung der mail Nr. oder der Postadresse.
Mit bestem Dank
Jürg Hulliger
Prof. em / fashion stylist
Sehr geehrte Frau Petrin
Ich möchte Ihnen einen Brief senden zum Thema Salons in der Schweiz. Ich selbst habe einen gegründet.
Damit ich nicht das unsinnige (stillose) Schlitzformular verwenden muss, bitte ich um Zusendung der mail Nr. oder der Postadresse.
Mit bestem Dank
Sehr geehrter Herr Hulliger, herzlichen Dank für Ihr Interesse und Ihren Kommentar.
Das ist doch toll, dass Sie Ihren kleinen Kreis zum grösseren Salon öffnen möchten. Vielleicht hilft Ihnen der Artikel dabei?
Da ich in New York lebe, komme ich als Gast leider nicht in Frage. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg! Herzlich, Susanna Petrin