Begin­nen wir mit einer Unter­schei­dung: Es gibt schwach und stark kon­tex­tua­li­sier­te Kunst. Ers­te­re tref­fen wir in den renom­mier­ten Kunst­mu­se­en des glo­ba­len Nor­dens an, deren Bestän­de sich so ähn­lich sehen, dass sie zu sta­tis­ti­schen Spe­ku­la­tio­nen ein­la­den. Am Bei­spiel der klas­si­schen Moder­ne käme man pro Muse­um auf Zah­len wie:

Picas­so 4.5 Gemäl­de
Mon­dri­an 3.1 Gemäl­de
Matis­se 2.7 Gemäl­de
Klee 1.6 Gemäl­de
Ernst 0.9 Gemäl­de
Kahlo 0.4 Gemäl­de

Auf einen Blick 

Anlass 70 Pro­zent der Kul­tur­aus­ga­ben flie­ßen ins 19. Jahrhundert. Abgren­zung gegen Modus 1 der Kunstproduktion Ziel für eine sozi­al robus­te Kunst Mit­tel mit öffent­li­cher För­de­rung des Publikums

Die Zah­len sind zwar frei erfun­den, der Kanon der Kunst­samm­lun­gen, der sich über Madrid, Paris, Zürich, Wien, Lon­don, New York, Chi­ca­go usw. erstreckt, ist es nicht. Ähn­lich schwach kon­tex­tua­li­siert ist das Reper­toire der gro­ßen Sin­fo­nie­or­ches­ter, vor­nehm­lich in Haupt­städ­ten. Zu einer gelun­ge­nen Sai­son gehö­ren Dvořáks neun­te, Beet­ho­vens sechs­te oder Mozarts 41. Sin­fo­nie. In deutsch­spra­chi­gen Län­dern soll­te Bruck­ners sieb­te Sin­fo­nie auch nicht fehlen.

Auch was bil­den­de Künstler*innen der Gegen­wart betrifft, schafft der Kunst­markt der Mes­sen und Auk­tio­nen einen schma­len Kanon, der, kippt man ihn in die Hori­zon­ta­le, einem Eis­berg gleicht: Weni­ge Künstler*innen wie Dami­en Hirst, Cin­dy Sher­man, Jeff Koons, Ger­hard Rich­ter oder Rose­ma­rie Trockel lie­gen über der Was­ser­li­nie, 90 Pro­zent dar­un­ter. Die Kon­zen­tra­ti­on auf weni­ge Namen ist so aus­ge­prägt, dass Soziolog*innen hier von einem Win­ner-take-all-Markt spre­chen. Ganz weni­ge räu­men alles ab und zwar weltweit.

Die­se schwach kon­tex­tua­li­sier­te Kunst bezeich­nen wir in Anleh­nung an eine Dia­gno­se der Wis­sen­schafts­for­schung (Gib­bons et al. 1994, Nowot­ny et al. 2001) als Modus 1 der Kunst­pro­duk­ti­on. Er zeich­net sich aus durch:

  1. staat­lich geför­der­te Insti­tu­tio­nen wie Muse­en, Orches­ter und Theater,
  2. eine mar­kan­te Gegen­über­stel­lung von Kunst und Publi­kum sowie
  3. eine Ori­en­tie­rung der Kunst an einer ein­ge­weih­ten Kunstwelt.

Beseelt und zusam­men­ge­hal­ten wird er vom Glau­ben an eine Auto­no­mie und Eigen­stän­dig­keit der Kunst.

Dane­ben schiebt sich  ein Modus 2 in den Vor­der­grund. Er berück­sich­tigt, wie abhän­gig künst­le­ri­sches Arbei­ten von sei­nem Kon­text ist. Statt zu pro­du­zie­ren auf der einen, zu kon­su­mie­ren auf der ande­ren Sei­te, enga­gie­ren sich Kunst und Gesell­schaft gemein­sam für eine ver­teil­te Pra­xis des «Kunstens».

Modus 1: Die Kunst

Muse­en, Thea­ter, Orches­ter – einen gro­ßen Teil der heu­ti­gen Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen haben bür­ger­li­che Ver­ei­ne im 19. Jahr­hun­dert ins Leben geru­fen. Sie gaben der Kunst einen Ort und stärk­ten so die jun­gen Kul­tur­na­tio­nen. Im 20. Jahr­hun­dert hat die staat­li­che Kul­tur­för­de­rung das bür­ger­li­che Enga­ge­ment gewür­digt und mit Steu­er­gel­dern sicher­ge­stellt. Wer das Kul­tur­bud­get einer mit­tel­gro­ßen Stadt im Nord­wes­ten der Schweiz stu­diert, stellt fest: Min­des­tens 70 Pro­zent der För­der­gel­der flie­ßen in die bür­ger­li­che Ver­gan­gen­heit. Die fol­gen­den Zah­len sind nicht frei erfun­den (RR Basel 2020):

Musik­för­de­rung 100%
davon: Städ­ti­sches Sinfonieorchester 71.5%
För­de­rung von Thea­ter und Tanz 100%
davon: Stadt­thea­ter 97.7%
Unter­halt Museen 100%
davon: Kunst­mu­se­um, His­to­ri­sches Muse­um
und Natur­his­to­ri­sches Museum
70.6%

Neben kost­spie­li­gen Insti­tu­tio­nen hat uns das bür­ger­li­che Zeit­al­ter auch spe­zi­fi­sche For­men und Struk­tu­ren ver­macht, wie Kunst zu genie­ßen sei. Dazu gehö­ren etli­che Distan­zie­rungs- und Disziplinierungstechniken:

  • Kunst­räu­me erwar­ten sei­tens des Publi­kums einen geschlos­se­nen Genuss­kör­per. Schnäu­zen, Spu­cken, Hus­ten und lau­tes Lachen sind No-Gos. Die ein­zig erlaub­te Kör­per­flüs­sig­keit sind geräusch­lo­se Tränen.
  • Zwi­schen Kunst und Betrachter*innen bzw. Hörer*innen gibt es eine mar­kan­te Trenn­li­nie. In der Oper den Orches­ter­gra­ben, im Muse­um den einen Meter Alarm­di­stanz. Im Thea­ter lie­gen zwi­schen Büh­ne und Zuschau­er­raum Licht und Schatten.
  • In der dar­stel­len­den Kunst sind Akti­vi­tät und Pas­si­vi­tät klar getrennt. Das Publi­kum kon­templi­ert still und sit­zend. Akti­on, Dra­ma, Leben und Leh­re zie­hen an ihm auf der Büh­ne vor­bei. Sogar eine Beschimp­fung des Publi­kums macht die­ses nicht zum part of the game.

Distanz und Dis­zi­plin wir­ken dekon­tex­tua­li­sie­rend. Sei es ein Thea­ter in Paris, Bue­nas Aires oder Tel Aviv: Tschechows Möwe trifft über­all auf ein zivi­li­sier­tes Publi­kum, das kei­ne Leucht­pe­tar­den auf die Büh­ne schmeißt oder ander­wei­tig dem Werk eine uner­war­te­te Wen­dung gibt.

Kunst kommt nicht von Kirmes.

Die bür­ger­li­che Rezep­ti­ons­hal­tung berei­te­te den Boden für einen wei­te­ren Dekon­tex­tua­li­sie­rungs­schub: 1917 mach­te Mar­cel Duch­amp ein Uri­nal zum Kunst­ob­jekt. Damit stell­te er eine revo­lu­tio­nä­re Fra­ge: «Was macht Kunst zur Kunst?». Auf einen Schlag waren all die Über­le­gun­gen vom Tisch gewischt, die sich an der Schön­heit von Kunst­wer­ken abar­bei­te­ten und hier und da eine Inva­si­on des Häss­li­chen wit­ter­ten. Nicht mehr um Wohl­ge­fal­len und Imi­ta­ti­on, son­dern um Bedeu­tung und Inter­ven­ti­on soll­te es gehen. Die Kunst hat­te Zei­chen zu set­zen und das Publi­kum sie zu inter­pre­tie­ren. Nicht schön soll­te die Kunst sein, son­dern signifikant.

Duch­amps Tat gilt bis heu­te als wich­ti­ger Schritt in der Eman­zi­pa­ti­on von den for­dern­den und för­dern­den Vor­stel­lun­gen ihres Publi­kums. Das Rin­gen um künst­le­ri­sche Unab­hän­gig­keit ent­wi­ckel­te sich schon bald zum Fort­schritts­mo­tor diver­ser Avant­gar­den im 20. Jahr­hun­dert. Der Wunsch, mit alten ästhe­ti­schen Vor­stel­lun­gen, mit Main­stream und Kon­sum­kul­tur zu bre­chen, mach­te die Kunst letzt­lich modern. Sie schritt, Wis­sen­schaft und Tech­nik nicht unähn­lich, in mal grö­ße­ren, mal klei­ne­ren Para­dig­men­wech­seln vor­an – oft von Mani­fes­ten beglei­tet, die zu den Wer­ken auch gleich die nöti­ge Theo­rie lieferten.

Eine klei­ne Aus­wahl künst­le­ri­scher Manifeste:

Der Wan­del ließ bald jeden Ver­such, Kunst zu defi­nie­ren, ins Lee­re lau­fen. Trotz­dem bil­de­te sich etwas her­aus, das sich als die Kunst bezeich­nen lässt: ein gesell­schaft­li­ches Sys­tem oder Feld, das weit­ge­hend nach eige­nen Regeln, d.h. auto­nom bestimm­te, was Kunst zu sein hat und was nicht.

Zu den Ein­ge­weih­ten des Sys­tems gehö­ren neben den Künstler*innen all jene, die der Phi­lo­soph Arthur C. Dan­to zur «Kunst­welt» zählt: Men­schen, die auf­grund ihres Beru­fes oder ihrer Bil­dung etwas zur Kunst zu sagen haben – Kunstkritiker*innen, Galerist*innen, Kurator*innen oder Kulturförder*innen. Sie eint ein Wis­sen um die Kunst­ge­schich­te, ganz beson­ders aber eine Kennt­nis jener Theo­rien und Mani­fes­te, die erklä­ren, war­um man in ein bestimm­tes Uri­nal nicht pin­keln soll­te; war­um Beuys‘ Fett­ecken ent­ge­gen allen Hygie­ne­nei­gun­gen nicht weg­ge­wischt wer­den soll­ten oder war­um ein Roth­ko mehr als nur eine hüb­sche Tape­te ist.

Ohne die­se Theo­rien und Inter­pre­ta­tio­nen steht man vor der Tür.

Ohne die­se Theo­rien und Inter­pre­ta­tio­nen, die man in der Kunst­welt unbe­dingt ver­in­ner­licht haben soll­te, um mit­re­den zu kön­nen, steht man vor der Tür. Und so schließt sich der Kreis: Die Kunst­welt rekru­tiert sich vor­wie­gend aus Men­schen, die auf­grund ihrer Bil­dung, ihres Habi­tus und Ein­kom­mens in der Lage sind, die bür­ger­li­che Lebens- und Rezep­ti­ons­wei­se von einst zu reproduzieren.

Modus 2: Kunsten

Neben Modus 1 gibt es Kunst, die dort ent­steht, wo Men­schen sie benö­ti­gen und an ihrer Schöp­fung mitwirken.

Das Hun­dert­was­ser­haus in Wien zum Bespiel. Auf den ers­ten Blick wirkt es wie eine Neu­in­ter­pre­ta­ti­on der Auf­la­ge von Kunst am Bau. Nach dem ers­ten Welt­krieg sah die­se vor, ein Pro­zent der Kos­ten öffent­li­cher Bau­ten für Kunst­wer­ke zu ver­wen­den, um die Not von Künstler*innen zu lin­dern. Im Lau­fe der Zeit ent­stan­den vor­wie­gend Bau­wer­ke, die der Bau­herr nach­träg­lich mit Kunst deko­rier­te. Im Ver­gleich zu die­sem moder­nen Ansatz mutet Hun­dert­was­sers Wohn­an­la­ge gera­de­zu barock an. Vom ehe­ma­li­gen Bun­des­kanz­ler Bru­no Krei­sky über den Archi­tek­ten Peter Peli­kan der Magis­trats­ab­tei­lung 19 bis hin zu den Bau­ar­bei­tern, die nach ihren eige­nen Vor­stel­lun­gen die Mosai­ke ver­leg­ten, schuf der Künst­ler ein offe­nes Werk, das sich erst vor Ort kon­kre­ti­sier­te. Bis heu­te sind es die Pflan­zen, die mit mehr als hun­dert Pro­zent der Grund­riss­flä­che das Werk weitergestalten.

Fassade des Hundertwasserhauses in Wien (Bild: Mistervlad / Adobe Stock)
Fas­sa­de des Hun­dert­was­ser­hau­ses in Wien (Bild: Mis­ter­v­lad /​ Ado­be Stock)

In Umris­sen lässt das Bei­spiel einen Schaf­fens­pro­zess erah­nen, der jenen des Modus 1 unter­läuft. Die Künstler*in schafft nicht in einem ers­ten Schritt ein fer­ti­ges Werk im Ate­lier, das in einem zwei­ten in den musea­len White Cubes dem Publi­kum zur Inter­pre­ta­ti­on vor­ge­legt wird. Statt­des­sen inves­tie­ren Künstler*innen Ideen und Hand­werk in ein Anlie­gen, dem sie gemein­sam mit kon­text­spe­zi­fi­schen Akteur*innen eine Form geben. Oft nimmt die­se erst vor Ort die vor­läu­fig letz­te Gestalt an. Wer das «Kunst» nen­nen will, ris­kiert, im Modus 1 und sei­ner Beto­nung von Autor­schaft und Werk zu ver­har­ren. Des­halb schla­gen wir vor, die­se ver­teil­te schöp­fe­ri­sche Pra­xis mit dem Verb «kunsten» zu bezeichnen.

Pro­fa­ne Pos­sen misch­ten sich mit kirch­li­cher Lit­ur­gie, Latein mit Volks­spra­che und ech­tes Blut mit fal­schen Tränen.

In der Vor­mo­der­ne war Kunsten nichts, was der Erklä­rung bedurf­te. Im spä­ten Mit­tel­al­ter etwa führ­ten Kle­rus und Dorf­ge­mein­de das Oster­ge­sche­hen gemein­sam auf. In die­sen Pas­si­ons­spie­len misch­ten sich pro­fa­ne Pos­sen mit kirch­li­cher Lit­ur­gie, Gesang mit Dra­ma und frei­er Rede, Latein mit Volks­spra­che und ech­tes Blut mit fal­schen Trä­nen. Heu­te liest sich das wie ein wil­des Durch­ein­an­der von U- und E‑Kunst, Komö­die und Tra­gö­die, Zir­kus und Got­tes­dienst – ohne Autor­schaft und ohne erkenn­ba­re Tren­nung von Kunst und Publikum.

Selbst wenn es nicht so spek­ta­ku­lär wie damals daher­kommt, zeich­net sich Kunsten heu­te aus durch:

  1. Künstler*innen und kon­text­spe­zi­fi­sche Akteur*innen kopro­du­zie­ren Kunst mit einem gemein­sa­men Anliegen.
  2. Der Wert die­ser Kunst bemisst sich nicht an künst­le­ri­scher Frei­heit oder Auto­no­mie, son­dern an ihrer sozia­len und kul­tu­rel­len Robustheit.

Gute Chan­cen für eine Kopro­duk­ti­on von Kunst und Gesell­schaft bestehen zwi­schen den Polen von öffent­li­cher Kunst­för­de­rung und pri­va­ter Kunst­fi­nan­zie­rung. In den letz­ten Jah­ren haben die finan­zi­el­len Gren­zen öffent­li­cher Kunst- und Kul­tur­för­de­rung den Ruf nach pri­va­ter Unter­stüt­zung lau­ter wer­den las­sen. Zu Recht fürch­ten daher eini­ge die Rück­kehr feu­da­ler Auf­trags­ver­hält­nis­se, in denen Super­rei­che sich von „Sie­ger­kunst“ (Ull­rich 2016) glo­ri­fi­zie­ren las­sen. Doch es geht auch anders, wie die inter­na­tio­na­le Initia­ti­ve Neue Auf­trag­ge­ber zeigt. Mit­hil­fe von Media­to­ren for­mu­lie­ren Bürger*innen Auf­trä­ge an Künstler*innen, für ein Dorf etwa eine Skulp­tur anzu­fer­ti­gen, einen inno­va­ti­ven Spiel­platz zu ent­wi­ckeln oder ein Stück zu einem Gemein­de­ju­bi­lä­um zu komponieren.

Ein Pro­jekt der Neu­en Auf­trag­ge­ber: Das zwan­zig­köp­fi­ge Dorf Bles­sey im Bur­gund sanier­te auf Eigen­in­itia­ti­ve ein altes Wasch­haus, zu dem eine Skulp­tur hin­zu­tre­ten soll­te.
Die Gemein­de beauf­trag­te den Künst­ler Rémy Zaugg, der mit den Men­schen vor Ort einen neu­en Teich aus­hob und an sei­nem Ende die „ver­lang­te“ Skulp­tur plat­zier­te. Foto: And­re Mor­in, © Les Nou­veaux Commanditaires

Eine stark kon­tex­tua­li­sier­te Kunst wie das Ensem­ble im Dorf Bles­sey ernährt sich vom Ide­al sozia­ler Robust­heit weit­aus bes­ser als von jenem der künst­le­ri­schen Frei­heit. Kunsten ver­langt von einer Künst­le­rin gera­de nicht, dass sie sich mit ihrem Werk oder Stil durch­setzt. Viel­mehr hat sie die Auf­ga­be, sich mit ihrem gan­zen Kön­nen auf die Wer­te spe­zi­fi­scher Umge­bun­gen ein­zu­las­sen und sie zur Gel­tung zu brin­gen. In man­chen Fäl­len mag das kul­tu­rel­le Teil­ha­be oder Soli­da­ri­tät, in ande­ren Gemein­schaft­lich­keit, Unter­hal­tung oder Nach­hal­tig­keit sein. Wie Far­be, Pin­sel oder Musik­in­stru­men­te sind Kon­tex­te Res­sour­cen, aus denen Künstler*innen und Akteur*innen vor Ort schöp­fen und Neu­es schaf­fen. All das kann und soll auf jene Wei­se gesche­hen, für die Kunst seit je geach­tet wird: bezau­bernd, über­ra­schend, über sich hinausweisend.

Bezau­bernd, über­ra­schend, über sich hinausweisend.

Mög­li­cher­wei­se ist sozi­al und kul­tu­rell robus­te Kunst nicht nur ein Ide­al, son­dern auch ein Gebot der Stun­de. So wich­tig es war, künst­le­ri­sche Frei­heit und Genies zu wür­di­gen, so zeit­ge­mäß scheint es jetzt, von bei­den Abstand zu neh­men. Zu die­ser Erkennt­nis ver­hilft nicht zuletzt #metoo. Die Bewe­gung wirk­te als erstaun­li­cher Kon­tex­tua­li­sie­rungs­mo­tor: Hin­ter Klas­si­kern mach­te sie abgrün­di­ge Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen sicht­bar. Sie zeig­te, wie diver­se Thea­ter bei­de Augen zudrück­ten, wenn Regis­seu­re im Namen der Kunst Schauspieler*innen das Recht auf sexu­el­le Selbst­be­stim­mung abspra­chen. Sie mach­te auf die ras­sis­ti­schen und frau­en­feind­li­chen Arbeits­be­din­gun­gen bei Fern­seh­sen­dern und auf Film­sets auf­merk­sam. Und sie ver­deut­lich­te der gan­zen Welt, wie rape cul­tu­re durch Lie­der wie Sah ein Knab‘ ein Rös­lein stehn oder Bil­der wie The Rape of the Sabi­ne Women salon­fä­hig wurde.

Der Blick hin­ter die Kulis­sen der gro­ßen Namen offen­bar­te nicht nur die gan­zen Abhän­gig­keits- und Macht­ver­hält­nis­se, son­dern auch die schie­re Men­ge an Men­schen, die an Kunst­pro­duk­tio­nen ohne Erwäh­nung betei­ligt sind. Wäh­rend die Miss­stän­de ins kol­lek­ti­ve Bewusst­sein sicker­ten, ver­tei­dig­te sich die Kunst­welt mit dem Hin­weis auf die künst­le­ri­sche Frei­heit und den Geniesta­tus der Täter.

Auf der Suche nach einem neu­en cont­rat social

Wir Verfasser*innen kön­nen unse­re Fas­zi­na­ti­on für einen reno­vier­ten Modus des Kunstens nicht ver­heh­len. Jen­seits von Werk und Autor lädt er ein, über Kunst noch ein­mal nach­zu­den­ken. Wie las­sen sich Umge­bun­gen und Zonen för­dern , in denen sozi­al robus­te Kunst ent­ste­hen kann?

Mög­li­cher­wei­se erfor­dert dies einen Per­spek­ti­ven­wech­sel: Neben die klas­si­sche Künst­ler- und Werk­för­de­rung hät­te eine Form der Publi­kums­för­de­rung zu tre­ten, die gesell­schaft­li­che Akteur*innen ermun­tert, mit Künstler*innen gemein­sam Groß­ar­ti­ges zu schaf­fen. Das wäre ein Anfang.

Lite­ra­tur

Bon­n­aire, Susan­ne. 2011. „Die Kunst, von Kunst zu leben“. der arbeits­markt 5. Online.

Dan­to, Arthur C. 1964. „The Art World“. Jour­nal of Phi­lo­so­phy 61

Gib­bons, Micha­el; Camil­le Limo­ges, Hel­ga Nowot­ny, Simon Schwartzman, Peter Scott and Mar­tin Trow. 1994. The New Pro­duc­tion of Know­ledge. Los Ange­les et al.

Nowot­ny, Hel­ga; Peter Scott and Micha­el Gib­bons. 2001. Re-Thin­king Sci­ence. Cam­bridge

Regie­rungs­rat des Kan­tons Basel-Stadt. Kul­tur­leit­bild Basel-Stadt (2020–2025). Basel

Ull­rich, Bernd. 2016. Sie­ger­kunst: neu­er Adel, teu­re Lust. Ber­lin

Bild­nach­weis

Lee­re Rän­ge. Foto: cat­nap, Alamy

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Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

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