Die Küche, das Fens­ter, der Durch­gang. Das war die Atmo­sphä­re, in der sie ver­wur­zelt war, der Hin­ter­grund, vor dem sie sich abhob. Hier war sie klug, lus­tig und vol­ler Ener­gie, konn­te Auto­ri­tät aus­üben und Ein­fluss neh­men. Trotz­dem ver­ach­te­te sie ihre Umge­bung. «Wei­ber, igitt!», sag­te sie. «Wäsche­lei­nen und Klatsch.» Sie wuss­te, dass es eine ande­re Welt gab – die Welt –, und manch­mal glaub­te ich, dass sie sich die­se ande­re Welt wünsch­te. Drin­gend wünsch­te. Dann hielt sie mit­ten in einer Auf­ga­be inne, starr­te minu­ten­lang auf das Wasch­be­cken, den Boden, den Herd. Doch wohin? Wie? Was?“ S. 18

«Wei­ber, igitt!», sag­te sie. «Wäsche­lei­nen und Klatsch.»


Mrs Ker­ner hat­te durch­aus nicht das phi­lo­so­phi­sche Bedürf­nis, allem, was sie zum Geschich­ten­er­zäh­len beweg­te, einen Sinn zu ver­lei­hen. Viel­mehr war es so, dass sie Gefüh­le schätz­te, und für sie war Kunst – Musik, Male­rei und Lite­ra­tur – eine Ver­bin­dung zu purer Emo­ti­on. Sie erzähl­te Geschich­ten, weil sie in einer Welt vol­ler Schön­heit leben woll­te, unter gebil­de­ten Men­schen, die Gefüh­le besas­sen. «Und Gefüh­le, Mäd­chen, sind alles.» Das Leben eines Men­schen war reich oder arm, ein Ver­mö­gen wert oder etwas, das man in die Gos­se warf, je nach­dem, ob es sei­ner Gefüh­le beraubt war oder im Gegen­teil durch sie berei­chert wur­de.“ S. 31


Ihre Wor­te erschre­cken und erfreu­en mich zugleich. Ich bin froh, wenn sie etwas Wah­res oder Klu­ges sagt. In die­sen Momen­ten kann ich sie bei­na­he lie­ben. «Ein ers­ter Schritt, Ma», sage ich lei­se. «Man muss das Unglück zum Leben erwe­cken, bevor etwas pas­sie­ren kann.» S. 35

«Ein ers­ter Schritt, Ma», sage ich lei­se. «Man muss das Unglück zum Leben erwe­cken, bevor etwas pas­sie­ren kann.»


«Ihr wer­det bei­de zusam­men alt», sag­te sie. «Du und das, was dir Angst macht.»“ S. 97


Die­ser Raum. Er beginnt in der Mit­te mei­ner Stirn und endet in der Leis­ten­ge­gend. Er ist je nach­dem so breit wie mein Kör­per oder so schmal wie eine Schiess­schar­te in einer Fes­tungs­mau­er. An Tagen, wenn die Gedan­ken frei flies­sen oder noch bes­ser, sich müh­sam klä­ren, dehnt er sich auf herr­lichs­te Wei­se aus. An Tagen, wenn Angst und Selbst­mit­leid über­wie­gen, schrumpft er, und zwar mit rasen­der Geschwin­dig­keit! Wenn der Raum weit ist und ich ihn ganz aus­fül­le, kann ich die Luft schme­cken, das Licht füh­len. Ich atme lang­sam und gleich­mäs­sig. Ich bin eins mit mir, eupho­risch, jeder Beein­flus­sung oder Dro­hung ent­ho­ben. Nichts kann mich berüh­ren. Ich bin sicher. Ich bin frei. Ich den­ke. Wenn ich den Kampf um das Den­ken ver­lie­re, ver­en­gen sich die Gren­zen, ist die Luft ver­pes­tet, das Licht getrübt. Dann brei­ten sich Dunst und Nebel aus, und ich schnap­pe nach Luft.“ S. 110f.


Ich woll­te etwas sagen. Unglück brei­te­te sich in mei­nem Mund aus, ver­sie­gel­te mir die Lip­pen. Was wür­de ich sagen, wenn ich spre­chen könn­te? Und wem wür­de ich es sagen?“ S. 179


Zwi­schen dem Auf­blit­zen der Erkennt­nis und dem Impe­ra­tiv des Han­delns lagen Tau­sen­de von Ängs­ten, mit denen man fer­tig wer­den muss­te.“ S. 199


Eine gewis­se Distanz hat sich dau­er­haft ein­ge­stellt. Ich erken­ne die Vor­tei­le die­ser Abna­be­lung. Die­ses klei­ne Stück Raum ver­schafft mir das zeit­wei­li­ge, aber nütz­li­che und auf­re­gen­de Gefühl, dass ich bei mir selbst begin­ne und ende.

Unser Zustand ist unbe­stän­dig. Jeden Tag ist alles im Fluss. Die Unbe­stän­dig­keit ist ein Wun­der, durch­wirkt von Geheim­nis und Ver­heis­sung. Wir müs­sen uns nicht mehr stän­dig anein­an­der rei­ben, sie und ich. Eine gewis­se Distanz hat sich dau­er­haft ein­ge­stellt. Ich erken­ne die Vor­tei­le die­ser Abna­be­lung. Die­ses klei­ne Stück Raum ver­schafft mir das zeit­wei­li­ge, aber nütz­li­che und auf­re­gen­de Gefühl, dass ich bei mir selbst begin­ne und ende.“ S. 217

 

Vivi­an Gor­nick: Ich und mei­ne Mutter.
Pen­gu­in Ver­lag, 2019.