„Als ich auf die Welt kam, so erzählte Mutter, war ich ein hässliches, untergewichtiges Etwas, umhüllt von einem bittersüssen Geruch, der von einer käsigen, schuppigen Schicht auf meinem Körper herrührte. Zwei Wochen hatte ich mir nach dem errechneten Geburtstermin Zeit gelassen, sodass die Ärzte schon gemeint hatten, ich würde kaum lebend zur Welt kommen. «Mit einundvierzig wollte ich kein Kind mehr, aber als ich Dich in meinen Armen hielt, war alles gut.»“ S. 7 (Anfang)
«Mit einundvierzig wollte ich kein Kind mehr, aber als ich Dich in meinen Armen hielt, war alles gut.»
„Die Berührung löste in mir ein Gefühl von Geborgenheit aus, doch diese Nähe stellte sich meist nur in kurzen Momenten ein, als Auftakt meines Besuches und dann beim Abschied. Dazwischen war jeder körperlicher Kontakt mit einem alten Tabu belegt. Nur nicht zu nahe, nicht zu lange die Hand halten, übers Haar streicheln, nur nicht.“ S. 12.
„Als Jugendliche hat mich die Angst davor, eine Hausfrau zu werden wie meine Mutter, die mittags mit dem Essen auf ihren Mann und die Kinder wartet, davon abgehalten, mit ihr am Her zu stehen. Erst als ich über dreissig war und als Ärztin in der Schweiz arbeitete, wollte ich wissen, wie sie die Marillenknödel zubereitete, fragte nach dem Rezept für den Topfenstrudel, den Kaiserschmarrn, die Rindrouladen. Vielleicht hätte Mutter mein Leben aufgefressen, wenn ich in ihrer Nähe geblieben wäre. Ich behalte den Gedanken für mich.“ S. 15
Vielleicht hätte Mutter mein Leben aufgefressen, wenn ich in ihrer Nähe geblieben wäre. Ich behalte den Gedanken für mich.
„Ein paar Monate später habe ich laut Mutters Erzählungen, das erste Mal «Mama» zu ihr gesagt und bald werde ich das letzte Mal «Mama» zu ihr sagen, zu einem Gesucht, das mich damals anlächelte und das ich jetzt noch immer zum Lächeln bringe, wenn ich ihr sage, wie gern ich sie habe oder dass sie gut aussieht, wenn wir mit der Morgentoilette fertig sind und sie für einige Augenblicke entspannt im Sofa lehnt und den Amseln, Meisen und Finken zusieht, wie sie am schwankenden Vogelhäuschen herumturnen.“ S. 36
„Es war über die Jahre zu einem wohligen Ritual geworden, unsere Vergangenheit heraufzubeschwören, und wir scheuten uns davor, das Gespräch zu unterbrechen, das uns in diesen Momenten so nah sein liess.“ S. 44
„Wenn ich bei Mutter zu Besuch war und wir abends noch stundenlang miteinander Karten spielten, dann fragte sie mich gelegentlich wie nebenbei, ob ich mir vorstellen könnte, in Österreich zu arbeiten, um dann fast im selben Atemzug zu bekräftigen, wie froh sie sei, dass ich mir in der Schweiz solides Leben aufgebaut habe. Doch hörte ich zur gleichen Zeit ihren Wunsch, ich möge wieder in ihre Nähe kommen. Ich sagte ihr mit gespieltem Ernst, dass ich froh sein könne, es geschafft zu haben, mich von ihr zu entfernen und nicht im Geringsten daran dachte, etwas zu ändern, worauf wir beide lachen mussten. Nach einer kurzen Weile pflegte Mutter dann noch zu sagen « Bleib in der Schweiz, man weiss nie, was kommt.»“ S. 56
„Der Rest des Raumes ist ins Dunkel getaucht, als würde das Licht meine Sphäre, von der meiner Mutter trennen und doch eine behagliche Gleichzeitigkeit ermöglichen. Der Kreis der Wahrnehmung wird kleiner, das Sehen wird genauer, die Welt, die sich hinter den Beobachtungen auftut wird tiefer und ist nicht mehr zu vergleichen mit der, die einem entgegentritt, wenn man im normalen Getriebe des alltäglichen Arbeitens und Erledigens steckt.“ S. 68f.
„Es ist auch die Trauer um die eigene Kindheit, die mit Mutter unwiederbringlich verschwinden wird. Diese Zeit, in der sie mich behütet hat, in der ich ihr Kind, ihr «Weibi» war. Mutter hat oft mit Freude im Blick von ihrer kleinen Tochter erzählt, «ihr Mädel», über das sie sich so gefreut hat, obwohl sie zunächst entsetzt gewesen war, wie sie sagte, so spät noch ein Kind zu erwarten.“ S. 87
„Ich möchte anwesend sein, wenn der Tod kommt. Ich möchte Mutters Hand halten, möchte ihr auf Wiedersehen sagen, ihr den letzten Dienst erweisen und ihr die Augen schliessen.“ S. 88
„Es ist Jahre her, seit Mutter und ich das letzte Mal über das Kind gesprochen haben, das ich abgetrieben habe. Ich nenne es Rainer Maria, um beide Geschlechter zu berücksichtigen und um Namen aus unserer Familientradition zu verwenden. Lange habe ich nicht mehr so intensiv daran gedacht, nur manchmal hatte sich eine Zeitlang eine Wehmut bemerkbar gemacht, wenn ich davon hörte, eine Frau würde gebären. Heute wäre das Kind ein erwachsener Mensch und er oder sie hätte bereits selbst Familie. In den letzten Nächten lässt mich der Gedanke daran nicht schlafen. Ich schalte das Licht nochmals ein, hänge ein Tuch an die Rückseite der Tischlampe und stelle ich mir vor, wie ich mit meiner Tochter oder mit meinem Sohn gemeinsam in einen sommerlichen See springe.
Mutter entfernt sich mit jedem Tag, vielleicht ist es endgültig zu spät, um nochmals davon anzufangen. Sie hatte vor Jahren beteuert, dass sie, im Nachhinein betrachtet, anders entscheiden würde, dass sie alles tun würde, um mich und das Kind zu unterstützen. «Weisst Du, irgendwie wäre es möglich gewesen. Irgendwie hätten wir das geschafft.» Das musste wohl genügen. Sie hatte sich gerechtfertigt, aber bei mir entschuldigt hatte sie sich nicht.“ S. 92f.
Das musste wohl genügen. Sie hatte sich gerechtfertigt, aber bei mir entschuldigt hatte sie sich nicht.
„Mutters Fürsorglichkeit, mit der sie mir ihre Zuneigung zeigt, kommt wieder zum Vorschein zwischen den Passagen der Ablehnung und des Rückzugs. Die kleinen Handlungen und beiläufigen Sätze lassen erkennen, wie sehr sie noch für mich sorgen möchte, wenn sie beim Märchenvorlesen meine Beine, die ich zu ihr aufs Bett gelegt habe, sorgsam zuzudecken versucht. Wenn sie aufwacht und etwas braucht, lächelt sie mich an und hat dann die Sorge, ob ich wohl Hausschuhe anhabe, damit ich keine kalten Füsse bekomme, oder ob ich genügend essen würde, weil ihr nicht entgangen ist, dass ich mir selten etwas zubereite.“ S. 99
„Mutter lässt sich von mir waschen und eincremen, die Intimzonen übernimmt sie selbst. Das ist gut so, so kann sie ihre Würde wahren und meinen Respekt behalten. Es ist der Bereich des Körpers, der Mutter gehört, aus dem ich vor fünfzig Jahren geboren wurde und den ich auch nicht antasten will, solange es nicht nötig ist.“ S. 101
Es ist der Bereich des Körpers, der Mutter gehört, aus dem ich vor fünfzig Jahren geboren wurde und den ich auch nicht antasten will, solange es nicht nötig ist.
„Mein Bauch ist schmerhaft aufgetrieben, auf der Toilette bemerke ich frisches Menstruationsblut, und das nach Jahren der Menopause. Zunächst denke ich an Krebs, doch das Blut hat mit Mutters Abschied zu tun, mit dem Abschied von meinem Kind und von mir selbst als Kind. Ich werde aufhören, Kind zu sein, weil ich und mein Bruder jetzt als Nächstes an der Reihe sind zu sterben. Die Abtreibung von damals, die mich in den letzten Tagen unerwartet quälend eingeholt hat, obwohl ich alles vergessen glaubte, die Nähe zu Mutter, ihr Sterben, meine Schwäche durch die Erkältung, mit einem Mal ist alles körperlich sichtbar.“ S. 102
„Sie sagt, es falle ihr schwer, ihre beiden Kinder allein zu lassen. Obwohl wir bereits erwachsen wären, wolle sie für uns da sein.“ S. 111
„Mir ist, als würde sie auch in Zukunft aufwachen, um anwesend zu sein, immer noch meine Mutter und ich wäre dann noch immer ihre Tochter.“ S. 112
„Vielleicht geht mit Mutters Tod ein Teil meiner Energie von dieser Welt, unwiederbringlich.“ S. 128
„Mutter hat mich in diese Welt gebracht, und nun geht sie und lässt mich hier zurück. Ich werde die Freude in ihren Augen vermissen, ein Strahlen, einfach weil es mich gibt.“ S. 132
Mutter hat mich in diese Welt gebracht, und nun geht sie und lässt mich hier zurück. Ich werde die Freude in ihren Augen vermissen, ein Strahlen, einfach weil es mich gibt.
„Das Sterben hat eingesetzt, Mutter ist weit weg. Ich habe ihren Lebenslauf vollendet, ungeschönt, liebevoll. Es war kein leichtes, kein fröhliches Leben, und ein Teil davon hat sich auf mich übertragen. Irgendwann im letzten Sommer, als wir abends auf der Terrasse ihrer Wohnung gesessen sind, hat Mutter gesagt: «Es wird besser, wenn ich tut bin, dann bist du frei.» Es wird nicht so sein. Ich halte ihre Hände, sie sind wärmer geworden, als ob der Tod noch einmal zurückgewichen wäre, doch es ist meine eigene Wärme, die sich auf Mutter übertragen hat. Ich werde schwer und müde. Ich werde mich kurz im Nebenzimmer ausstrecken, nur einen Moment. Bitte Mutter lass los.“ S. 158
Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds.
Luchterhand, 2020.

Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.