Junge trifft Mädchen und verliebt sich. Junge stößt auf Hindernis, überwindet es und rettet Mädchen. Junge heiratet Mädchen.
Sei es aus dem Kino, der Jugendliteratur oder dem Comic – wir alle sind mit dieser Story bestens vertraut. Gelegentlich aber übersehen wir an ihr den Entwurf einer normgebenden Männlichkeit. Sie ist keine Erfindung Hollywoods, sondern des Romans. Und mindestens so alt wie Goethe.
Der Bildungsroman der ersten Stunde entwirft eine Männlichkeit, die durch Prüfungen und Bewährungen zur Vollendung gelangt – wenigstens theoretisch. Da diese heroische Männlichkeit schon bald nicht mehr zum prosaischen Leben in der Moderne passt, weicht sie Maskulinitäten, die sich gelegentlich im modernen Leben ohne Zielvorgabe verirren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt der Roman dann jede Konzeption von Männlichkeit kollabieren.
Die Entwicklung des Romans und seiner Männlichkeiten im 19. Jahrhundert erlaubt die Erkenntnis: Eine heroische und vollendete Männlichkeit, wie sie heute oft eingeklagt wird, war bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ein Anachronismus ohne Entwicklungspotential.
Roman und männliche Biographie
Wer nach der Herkunft moderner Männlichkeitsvorstellungen sucht, stößt auf den bürgerlichen Bildungsroman. Dieser entsteht zu einer Zeit, in der sich der Mensch nicht mehr als Teil einer ganzheitlichen Ordnung begreift. Vielmehr ist er mit all der Widersprüchlichkeit und Orientierungslosigkeit der Moderne konfrontiert. Und auf diese Erfahrung antwortet der frühe Roman formal wie inhaltlich mit der Erfindung von Männern, die dennoch ihren Weg gehen, sich gegen Widrigkeiten behaupten und am Ende ihre Frau finden.
Es war Hegel, der in seinen Vorlesungen zur Ästhetik (gehalten 1820–1829) am „Romanhaften“ eine moderne Erzählweise des Lebens ausmachte. Der Roman, so Hegel, forme einen spezifischen Lebensentwurf, den wir heute – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – inzwischen aus dem Kino kennen: Der junge Mann bricht auf, kämpft für seine Ideale und gegen eine bürgerliche Ordnung. Daneben sucht er sein Mädchen, trotzt sie den “schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen” ab und findet sein Glück.
Bei diesem Happy End lässt es der Hofphilosoph aber nicht bewenden. Denn Sinn und Zweck einer solchen Romanbiographie sei Bildung. Und die versteht Hegel gutbürgerlich als ein Hörnerabstoßen und ein Anpassen an die Wirklichkeit.
Denn das Ende dieser Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinen Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt, und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt (Hegel 1986: 219f.).
Unzweideutig nimmt Hegel hier Vorbild an Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Darin reist der Held in die weite Welt hinaus, flieht der Enge der bürgerlichen Familie und findet seine wahre Bestimmung auf der Theaterbühne. Vorerst. Schon bald verlässt Wilhelm die fahrende Schauspielertruppe und kehrt zurück in die Wirklichkeit seiner Herkunftsgesellschaft. Nach einigem Aufheben vermählt er sich mit der angehimmelten Natalie und findet in der Kleinfamilie mit seinem Sohn Felix sein Glück.
Mit den Lehrjahren hat Goethe eines der nachhaltigsten Romanmodelle der deutschen Literaturgeschichte geschaffen. Mehr noch: Unversehens ist ihm ein ganzes Lebens- und Biographiemodell gelungen. Die Entwicklung des jungen Wilhelm ist nicht nur Blaupause für das spätere Erzählen, sondern auch für das moderne Leben. Als “Sekundärsozialisation” (Kittler 1978) schreibt der Roman vor, wie das eigene Leben als Bildungs- und Reifeprozess zu begreifen und zu gestalten sei – in der erfolgreichen Entwicklung vom Jüngling zum Mann.
Entwicklung als männliches Prinzip
So vorbildlich die Lehrjahre auf den ersten Blick anmuten, so beengt ist ihr biographisches Programm auf den zweiten. Was der Roman erzählt und entwirft, ist eine männliche Biographie. Und das tut er auf eine männliche Weise. Zum Geniediskurs der Klassik gehört die Idee einer Entwicklung, einer Reifung oder Bildung des Autors sowie des Helden. Das Genie wird als solches zu astronomisch günstiger Stunde geboren und muss bloß noch zur Entfaltung gebracht werden. Nur: Diese Vollendungs- und Veredlungsprozesse stehen einzig Männern zu. Entwicklung wird zum männlichen Prinzip. Frauen tauchen in diesem Modell lediglich als statisches Element auf. Sie sind Infrastruktur zur Schulung der Schreibfertigkeit und des Innenlebens von jungen und genialen Männern.
Entwicklung wird zum männlichen Prinzip.
Biographiefähig sind also nur Männer. Überdies gelangt das männliche Entwicklungs- und Maturitätsprogramm allzu rasch an sein Ende. Letztlich ist nur die kurze Zeitspanne von der verwirrenden Geschlechtsreife bis hin zum Eheglück von Belang. Was ist mit Wilhelms Kindheit? Was ist mit dem Leben nach der Heirat? Goethe erkannte das Problem und dachte an eine Fortsetzung. Auch Erstleser Schiller fand die Bildung des Romans und seines Helden fragwürdig, und allein der Begriff der Lehrjahre deutete für ihn auf die nachfolgenden Wanderjahre.
Hegel hingegen sah für das Projekt Bildungsroman keine Entwicklungsmöglichkeit. Einmal durchgelesen und durchlebt, bot die prosaische Mannwerdung für den Philosophen nicht ausreichend Stoff zum Erzählen. Bei genauerer Betrachtung erwies sie sich als geradezu weltlich:
Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden seyn, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgend eine Stellung, heiratet, und wird ein Philister so gut wie die Anderen auch […].
Das „angebetete Weib“, einst „ein Engel“, sei nun eine unter vielen, die Arbeit verdrießlich und die Ehe ein Hauskreuz, kommt Hegel zum Schluss (1986: 220). Das Fazit also ist ernüchternd. Gerade erst hat Goethe den Bildungsroman als Schablone für die männliche Biographie erfunden und schon erweist er sich „abgewetztes Romanmuster“ und vorhersehbarer Plot.
Die Endlichkeit des Stoffes zeigt sich drastisch deutlich auch an den Frauenfiguren. Die Schauspielerin Mariane, mit der Wilhelm in seinen Theaterjahren die Liebe genießt, ist zwar ein „liebendes junges Mädchen“, gleicht aber einem Requisit, das erst in ihrem Ableben ihr volles Potential entfaltet. Der Frau bleibt im Bildungsroman nur die Rolle einer zunächst unentbehrlichen, dann überflüssigen Stufenleiter vorbehalten. Ihr Platz im Feld der Bildung ist das Grab (vgl. Bronfen 1994).
Der Platz der Frau im Feld der Bildung ist das Grab.
Der Bildungsroman ist wenigstens für Hegel (und den heutigen Geschmack) ein Projekt, das mit seinem Anfang an sein Ende gekommen ist. Not to be continued.
Dennoch bleibt das Verlangen nach Männlichkeit im Medium des Romans ungestillt. Zwar mögen die Lehrjahre und damit die Bildungsromane vorüber sein, doch der Mann lebt auch nach den bestandenen Abenteuern und der Eroberung seines Mädchens weiter …
Männlichkeiten ohne Prüfung und Bewährung
Mitten im 19. Jahrhundert stellte der Hegel-Schüler Friedrich Theodor Vischer neue Überlegungen zum Roman an, um seiner wuchernden Form und seinen Männlichkeitsentwürfen beizukommen. Seine Idee: Da der Roman keine letzte Tat kennt, die ihn zum Schluss bringt, kann nur die Ehe die Erzählung beenden. In seiner sechsbändigen Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1857) heißt es:
Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der Liebe in der Ehe. […] Die Ehe ist eigentlich mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnen Idealität in zugestandene Prosa aus (Vischer 1923: 343).
Heteronormative Verhältnisse dienen Vischer als Stabilisatoren unsicherer Zeiten und unvollendeter Heldenentwürfe. Nolens volens zeichnet er damit einen schleichenden Autonomieverlust des Helden nach. Denn diesem scheint die Orientierung und Bildung so weit abhandengekommen zu sein, dass er sich nur mit der Ehe in der modernen Welt behaupten kann.
Im Gegensatz zu Hegel aber verkennt Vischer das Risiko solcher couples in arms. Ungemach droht nicht von außen, sondern von innen: die gefährliche Monotonie des Ehelebens. Dadurch verleugnet Vischer die hausgemachten Probleme der bürgerlichen Kernfamilie und damit die prosaischen Herausforderungen, denen der Mann nach der Heirat ausgesetzt ist. Und diese Probleme rücken im 19. Jahrhundert auch außerhalb Deutschlands immer mehr ins Zentrum des Romans. Seitensprünge und Treulosigkeit sind nun prominente Motive in der bürgerlichen Prosa.
Seitensprünge und Treulosigkeit sind nun prominente Motive in der bürgerlichen Prosa.
Rettungsversuche einer heroischen Männlichkeit bleiben nicht aus – auch von theoretischer Seite nicht. Der Achill des Epos muss sich nun allerdings an die Wirklichkeit der Salons und Wortgefechte anpassen. Das zumindest klagte Friedrich Spielhagen in seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans (1883) ein:
Das Leben concentrirt sich jetzt mehr, als sonst, im Gehirn; die Muskeln spielen eine untergeordnete Rolle, und wenn in einem antiken Epos oder in einem Ritterroman die Helden ihre Differenzen mit den Waffen entscheiden, so liefern sie sich jetzt in der Kammer oder im Salon ein Wortgefecht, das ebenso leidenschaftlich, ja ebenso tödtlich sein kann, wie jenes (Spielhagen 1864: 191).
Freilich wiederholen Spielhagens nunmehr domestizierte Helden Maskulinitätsentwürfe, für die Prüfungen und Wettkampf charakteristisch sind.
Was aber geschieht mit Männern, wenn ihnen der „Kampf mit der Wirklichkeit“ vorenthalten bleibt? Sucht man nach Beispielen, wird man bei Gottfried Keller, Adalbert Stifter oder Theodor Fontane fündig. Letzterer entwirft Männlichkeiten, die sich Spielhagens Salonheroismus geradezu versperren. Fontanes „halbe Helden“ gehen an gekränkter Ehre zugrunde, werden Opfer von Duellen oder begehen Suizid.
Die Fatalität männlicher Sozialisationsspiele dringt bei Fontane bis in die Sprache und das Erzählen ein. Nicht selten wird die Leserin – die Prosastücke Schach von Wuthenow (1882) oder Cécile (1887) zeugen davon – nach dem Ableben der Protagonistinnen und Protagonisten allein zurückgelassen. Kein Kommentar, keine versöhnlichen Schlussworte helfen das Geschehen einzuordnen. Es bleiben nur Briefwechsel oder fingierte Zeitungsausschnitte, deren Widersprüchlichkeiten das offene Ende nur noch unterstreichen.
Der Versuch, eine vormoderne Männlichkeit mitsamt ihren Reifeprüfungen zu retten, muss verenden – inhaltlich und narrativ.
Die Übertragung des Wettkampfs in den modernen Geist muss misslingen. Wortgefechte in bürgerlichen Salons gehen mit gekränkter Ehre, Schöngeistigkeit mit Kraft- und Saftlosigkeit einher. Der Versuch, eine vormoderne Männlichkeit mitsamt ihren Reifeprüfungen zu retten, muss verenden – inhaltlich und narrativ.
Besonders die Praxis des Romans löst also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die teleologische, sich selbst entfaltende Männlichkeit des Bildungsromans auf. Es kommt gelegentlich zu Rettungsversuchen einer heroischen Männlichkeit, doch sie bleiben Übungen in einem Feld, das sich längst mit Maskulinitäten auseinandersetzen muss, die weder ein Ziel vor sich, noch eine Prüfung hinter sich haben.
Männlichkeit am Ende
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Mann und Roman vollkommen in der Beziehungskrise angekommen. Davon zeugt die Theorie des Romans (1916) des ungarischen Philosophen und Literaturhistorikers Georg Lukács. Seine Theorie will den Roman als jene Idealform mobilisieren, die der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ der Moderne entspricht. Wie das Leben bietet auch der Roman keine unerschütterlichen Orientierungspunkte und keine fest gefügten Ordnungen mehr. Obwohl Lukács auf eingespielte Metaphern von Männlichkeit immer wieder zurückgreift, gibt er ihr eine neue Wendung:
Der Roman ist die Form der gereiften Männlichkeit, das bedeutet, daß das Abschließen seiner Welt objektiv gesehen etwas unvollkommenes, subjektiv erlebt eine Resignation ist (Lukács 2009: 64).
Reale wie erzählte Welt sind für Lukács unvollendet. Diese Einsicht hat für das Verhältnis zwischen Roman und Welt zwei Konsequenzen. Tritt „die Brüchigkeit der Welt kraß“ zutage, schlägt der Roman in „quälende Trostlosigkeit“ um. Bleibt der Roman hingegen als Kunstgebilde erkennbar, verdeckt er nur oberflächlich die Brüchigkeit der Welt. Trostlosigkeit oder oberflächlicher Schein – mehr ist vom durchschnittlichen Roman nicht zu erwarten.
Lukács’ “gereifte Männlichkeit” verliert vor diesem Hintergrund jeden Anschein einer vollendeten Mannwerdung, wie sie noch für den Bildungsroman programmatisch war. Nimmt man die Lexik hier ernst – die Rede ist von “Sehnsucht”, “Dissonanz”, “schwächliche Bindung” etc. –, dann bedeutet Männlichkeit für Lukács Brüchigkeit, Gebrechlichkeit und Unfertigkeit. Damit bleibt er zwar im Register typischer Geschlechterzuschreibungen, erklärt aber Männlichkeit zur Gefahr des Romans und der Gesellschaft. Männlichkeit ist in der Prosa und ihrem Zeitalter nur noch zum Preis von Trostlosigkeit und Resignation zu haben. Mit der ersten Romantheorie werden Mann und das Zeitalter der Prosa endgültig als unvollkommen erkennbar.
Die Entfremdung von einer ehemals als gebildet und vollendet gedachten Männlichkeit finden sich in den Zerrbildern und Alternativentwürfen des Bildungsromans zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder. Thomas Manns Prosa spricht Bände von jener bis über ihr Haltbarkeitsdatum hinaus ‚gereiften Männlichkeit‘. Im Schelmenroman Felix Krull (1913/54) verkehrt der Hochstapler sämtliche lieb gewonnenen Bildungsideale. Die Abkehr von der Welt mit der Einkehr ins Sanatorium macht den Zauberberg (1924) zum Anti-Bildungsroman der Dekadenz. Davon berichtet auch die hermetisch abgeriegelte Struktur: Keine Kämpfe mit Feinden, kein aufreibender Kontakt mit der Gesellschaft. Die abgeschiedene Heilanstalt, in der der Antiheld Hans Castorp sein Dasein fristet, ist nur noch allegorisch mit der Welt verbunden.
Männlichkeiten im Roman
Im langen 19. Jahrhundert soll der Roman als das Medium schlechthin für Männlichkeitsentwürfe gelten. Entgegen dem Wunsch von Philosophen und Theoretikern aber hat der Roman schon früh damit begonnen, sämtliche Ansprüche auf eine ganzheitliche und gelingende Männlichkeit zu unterlaufen. Gerade mal Goethes Wilhelm Meister zeichnet eine männliche Biographie nach, wie wir sie aus dem Happy End-Kino kennen: Junge trifft Mädchen und verliebt sich. Junge stößt auf Hindernis etc.
Dieses männliche Vollendungsprogramm, das im Moment seines Entstehens schon trivial wird, stößt schon bald an seine Grenzen: Das prosaische Leben hält nicht wirklich die Prüfungen bereit, anhand derer sich Mann beweisen kann. Und nach dem Fest der Liebe steht das Eheleben an – zu zweit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts drängen sich dann radikale Zweifel am Projekt Männlichkeit auf. Worin könnte diese jenseits von Resignation oder oberflächlichem Schein noch bestehen?
Das Schicksal der Männlichkeit im Roman des bürgerlichen Zeitalters lässt einen weitreichenden Schluss zu: Eine heroische, autonome und vollendete Männlichkeit ist nicht erst heute, sondern spätestens vor 100 Jahren an ihr Ende gekommen.
Literatur
Bronfen, Elisabeth. 1994. Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1986. Vorlesungen über die Ästhetik II. Bd. 14/20. Frankfurt am Main.
Kittler, Friedrich. 1978. „Über die Sozialisation Wilhelm Meisters“. In: Kittler, Friedrich; Kaiser, Gerhard (Hrsg.). Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen: S. 13–124.
Lukács, Georg. 2009. Die Theorie des Romans. Bielefeld.
Spielhagen, Friedrich. 1864. „Ueber Objectivetät im Roman“. In: Gemischte Schriften Bd. 1. Berlin.
Vischer, Friedrich Theodor. 1923. Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. München.
Bildnachweis
Das Titelbild zeigt Spider-Man, wie er eine Abrissbirne unter seine Kontrolle bringt. Scan aus dem Comicbuch Spider-Man – Von Shanghai bis Paris. 2017. Geschrieben von Dan Slott, gezeichnet von Matteo Buffagni und Giuseppe Camuncoli. © Marvel.
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Marius Reisener
Marius Reisener ist Post-Doc am Deutschen Seminar der Universität Zürich. In seiner Forschung interessiert er sich für die Frage, welche ethischen Konsequenzen ästhetische Theorien haben.
Lieber Herr Reisener,
zunächst einmal vielen Dank dafür, dass Sie sich dieses komplexen Themas angenommen haben.
Leider kann ich mich mit der thematischen Gestaltung dieses Beitrags nun gar nicht anfreunden. Ehrlich gesagt: Ich bestreite, dass der bürgerliche Bildungsroman ganz bewusst irgendein Konzept von Männlichkeit verfolgt. Das kann man dort hineinschreiben, aber nicht herauslesen!
So führen Sie zum Beispiel an, eine heroische und vollendete Männlichkeit, wie sie heute oft eingeklagt werde, sei bereits am Ende des 19. Jahrhundert ein Anachronismus ohne Entwicklungspotential. Also, was soll das sein? Eine „heroische und vollendete Männlichkeit“? Und wer klagt diese heute ein?
Nicht deutlich wird Ihrem Beitrag an anderer Stelle, warum der Bildungsroman zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt eine Wiederbelebung erfährt, nachdem er von den Naturalisten ausgemustert wurde, die damit gar nichts anfangen konnten. Ist das eine konservative Reaktion auf die moderne Industriegesellschaft mit all ihren Verwerfungen? Musste das Bürgertum darauf reagieren, indem es gegen jede Art von sozialer Gleichmacherei opponierte und stattdessen einen Individualismus propagierte, für den ein humanistisches Bildungsideal unabdingbar war?
Für das Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten neue Werte. Sie lauten: sozialer Aufstieg, privates Glück und ökonomischer Erfolg. Dass Männer diese Ziele erreichen sollen, steht außer Frage. Frauen haben ihnen höchstens dabei zu assistieren, indem sie die Kinder erziehen und den Haushalt führen. Wenn sie begütert genug sind, dürfen sie auch noch Klavier spielen und die Gouvernante beaufsichtigen. Der Bürger (Bildungs- und Wirtschaftsbürger, also der homo oeconomicus) tritt dabei in Wettstreit mit der feudalen Lebensweise des Adels, die er teilweise kopiert. Eine „heroische Männlichkeit“ verkörpert demgegenüber ein Angehöriger des Militärs, vor allem des Offizierskorps. Der sprichwörtliche „Reserveleutnant“ steht dafür Pate. Hier ist alles eine Frage der Ehre, die notfalls mit der Waffe verteidigt wird. In der zeitgenössischen Literatur ist Schnitzlers „Leutnant Gustl“ dafür ein Paradebeispiel.
Weitere Männlichkeitsrituale finden sich vor allem bei den Corpsstudenten im deutschen Kaiserreich, die in Ihrer Abhandlung leider überhaupt keine Erwähnung finden. Deren Erziehungsprinzipien basieren auf Freundschaft und Treue, Freiheit und Ehre und auf dem Gehorsam der jüngeren den älteren Corpsbrüdern gegenüber. Mit diesen Prinzipien soll dem Vaterland ein unverzichtbarer Dienst erwiesen werden. Männlichkeit beinhaltet hier den Aspekt der körperlichen Ertüchtigung (z.B im Fechten) ebenso wie die Disziplinierung der Leidenschaften und die Kompensierung des Sexualtriebs. Männlich also war, wer nicht nur übermäßig saufen konnte, sondern auch Tapferkeit, Kraft und Mut bewies, zudem Opferbereitschaft und Gehorsam zeigte. Seine „Satisfaktionsfähigkeit“ musste der Mann zudem im Duell (bzw. in der Mensur) beweisen, wenn ihm seine Ehre abhandengekommen war. „Erst indem man die Männlichkeit zeigte, erwarb man sie auch“, so Ute Frevert (Ehrenmänner, München 1991, S. 138). Dass Frauen hier keinen Platz hatten, muss nicht ausdrücklich erwähnt werden.
Wenn zeitgenössische Künstler gegen diese reaktionäre Gemengelage aufbegehrten, wie sah das aus? Auch das scheint mir in Ihrer Abhandlung eher ein Nebenprodukt zu sein. Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910), aber auch Musils Erstling „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) geben darauf unterschiedliche Antworten, zumindest aktivieren beide gesellschaftskritische Fragestellungen nach dem Zusammenhang von ästhetischem Empfinden und moralischem Urteilen; bei Musil setzt dieser Konflikt ja eine Spirale der Gewalt in Gang. Wie wird Männlichkeit in diesen Kreisen verstanden? Fehlt dem Künstler das „heroische Aufbegehren“ und tritt an seine Stelle lediglich ein Eskapismus und das Leiden an der Schlechtigkeit der Welt?
Was passiert eigentlich mit dem Bildungsroman am Ende des 20. Jahrhunderts? Verschwindet er ganz von der Bildfläche oder erlebt er eine (postmoderne) Metamorphose? Diese Frage hätte man an Christian Krachts Erstling „Faserland“ (1995), der zudem das Genre der „Pop-Literatur“ begründet hat, näher untersuchen können. Wird Bildung hier zu einem zweitrangigen „Interieur“ und stattdessen ersetzt durch das Aufzählen von Markenartikeln? In dieser „Topographie des Hedonismus im Verfallsstadium“, wie es in einer früheren Rezension in der FAZ treffend hieß, reist der Protagonist ziellos durchs Land und poliert eine Oberfläche glatt, die nur noch aus Partys, Drugs & Rock‘n Roll besteht. Seine Entwicklung scheint bereits abgeschlossen, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Kann man hier vielleicht sogar ironisch auf Goethes „Wilhelm Meister“ zurückgreifen und schließt sich damit der Kreis?
Und überhaupt: Was sind „Pop-Literaten“ für Männer? Liegt ihre Männlichkeit in ihrer Selbstinszenierung als Autor oder in der literarischen Provokation? Markieren sie gern den Dandy, weil sie den Spießbürger verachten? Ist ihre postmoderne Existenz lediglich ein ästhetisches Spiel, um Aufmerksamkeit zu erregen – aber politisch bedeutungslos? Sind sie am Ende gar frauenfeindlich? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Lieber Herr Heise,
haben Sie zunächst vielen Dank für Ihre intensive Auseinandersetzung mit meinem Beitrag. Und sie haben vollkommen Recht, das ist – je nach Perspektive – nicht unbedingt Hexenwerk. Über die Theorieströmungen beispielsweise des Strukturalismus konnte ja bereits seit den 1970er Jahren die Strukturhomologie beispielsweise von männlichem Entwicklungsgang und narrativem Aufbau von Erzählwelten nachvollzogen werden (z.B. Campbell oder Levi-Strauss); prominent hat das Walter Erhart für den Roman und paternale Männlichkeit aufgezeigt, der moderne Erzählweisen als solche erkennt, die Maß nehmen an männlichen Transaktionen. Auch sind Ihre Beobachtungen, luziden Interpretationen und suggestiven Fragen richtig, die also dahin zielen, dass sich ab dem frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart signifikante Veränderungen im Geschlechter‑, Gesellschafts‑, Kultur- und Wirtschaftsverhältnis eingestellt haben. Das kann ich an dieser Stelle nur unkommentiert stehen lassen.
Nur geht es mir um Folgendes: erstens stellt der Roman als neuzeitliches Genre immer schon eine Theorie der Form des Lebens bereits, und die problematisiert ihre eigenen Entwürfe; zweitens streben die Theorien des Genres dem mit proto-männlichen Entwürfen entgegen. Das beginnt ab 1800 mit Theorien, wie sie Friedrich Schlegel formuliert (im „Brief über den Roman“, der wiederum in Konversation mit seiner Wilhelm-Meister-Rezension steht und damit einen klaren Bezug zu Goethe herstellt) und reicht, in der Weise, wie ich es beobachte, bis Lukács. Anders formuliert: es gibt ab 1800 Überschneidungen zwischen Ästhetik und Lebenswissenschaften, und dieses artikulieren sich in der Frage nach der Form. Wenn der Roman als literarische Gattung der Moderne dann denjenigen Raum darstellt, in dem über diese Form des Lebens nachgedacht werden kann, dann gilt mein Interesse den Romantheorien, die diese Gattung lenken und steuern wollen, und das tuen sie nicht selten in Metaphoriken von Geschlechter, insbesondere von Männlichkeit. Im nächsten Schritt, und das war das Anliegen des obigen Beitrags, schient es mir dann interessant zu beobachten, wie einerseits Romantheorien mit ihrem Insistieren auf Männlichkeitsentwürfen (den Protagonisten, die Struktur, den impliziten Leser etc. betreffend) gegenstrebig sich verhält zu den scheiternden Entwürfen von Männlichkeiten und deren narrativer Struktur innerhalb der Romane selbst, bis schließlich zu Georg Lukács „Theorie des Romans“. Hier nun gilt es, nicht nur aufgrund des Umfangs des Beitrags einen Schnitt vorzunehmen; auch sind diskursive Umbrüche in den Darstellungsweisen von Körper und Geschlechter zu verzeichnen, die einschlägige Studie von Philipp Sarasin („Reizbare Maschinen, 2001) ist in der Hinsicht sehr aufschlussreich.
Damit stecke ich auch einen Rahmen ab, in dem Subjektentwürfe als Projekte neuzeitlicher Ordnungs- und Regierungsweisen begriffen werden müssen, solche also, die sich als geregelten Formate von Individuation verstehen lassen. Literatur ist dabei immer erkennendes und Erkenntnisobjekt: es bildet die Prozesse ab, in denen sich Subjektivierungen vollziehen und leiten zugleich eben dazu an. Mit der ansteigenden Prominenz des Romans wird dabei ein Erzählmodell privilegiert, das dezidiert männlichen Subjektentwürfen den Vorzug einräumt. Das meint nicht nur Protagonisten sondern eben auch deren Darstellungs- und Strukturierungsweise. Wie wir begreifen, was ‚männlich‘ und was ‚weiblich‘ ist, ist eine Frage eben auch von Erzählweisen, so hat ja die Biographieforschung längst erkannt, dass wir unsere Lebensentwürfe entlang anderer, auch fiktionaler Narrative entlang entwerfen.
Ich beschreibe das alles noch einmal so ausführlich, weil es hier ein Verständigungsproblem zu geben scheint. Denn mein Anliegen war es keineswegs, eine Motiv- oder Sozialgeschichte von Männlichkeit in Romanen des 20. Jahrhunderts zu schreiben (daher ist im dritten Abschnitt des Textes auch die Rede vom 19. Jahrhundert). Wenn Sie also beispielsweise vermännlichte und vermännlichende Rituale und ähnliches beschreiben, wie man es bei Ute Frevert liest dann hat das erstmal von Fern etwas mit meiner Lesart zu tun. Was Frevert beschreibt, ist ja letztlich eine Aktualisierung phantasmatischer Männlichkeit, wie sie insbesondere ab etwa 1800, vor allem nach den Befreiungskriegen gekoppelt an modernes Heldentum, verlangt wurde, das lässt sich auch sehr gut bei Bettina Plett, Maja Razbojnikova-Frateva oder Ute Helduser nachlesen. Aktivitäten wie Trinkgelage, Mutproben oder ähnliches sind dann letztlich nichts weiter als Materialisierungen eines männliches Habitus, der allererst kultiviert werden musste (vgl. Bourdieu). Und diese Phantasmen materialisieren sich auch in Vorstellungen vom Roman, also innerhalb seiner Theorien.
Auch die Frage verschiedener, untereinander ggf. rivalisierender Männlichkeitsentwürfe kann hier nicht in aller Ausführlichkeit diskutiert werden. Dass es bei all diesen Typen jedoch um eine Form performativer Männlichkeit geht, die sich gewissermaßen an phantasmatischen Maskulinitäten orientiert, muss den motivischen Ausgestaltungen entgegengestemmt werden. Zu dieser kultursoziologischen Figur haben etwa Raewyn Connell (in Anschluss an Foucault und Butler), James W. Messerschmidt, C.J. Pascoe, Tristan Bridges, Sylka Scholtz oder Michael Meuser sehr interessante Dinge geschrieben. Für den Gegenstand heißt das: was hier an einzelnen Entwürfen thematisiert und in literarischen Formationen beschrieben werden kann, geht auf spezifische Imagines zurück, deren Genese es zu verfolgen gilt, und die sind primär um 1800 auszumachen. Und deren Herkunft wäre in meiner Hypothese mitunter innerhalb von Romantheorien auszumachen.
Und so möchte ich auch noch einmal ganz dringend davor warnen, hier vorschnelle Schlüsse zu ziehen, die eventuell an einen anderen Text gerichtet sind, den ich so nicht geschrieben habe und den ich nicht schreiben wollte. Denn gefährlich wird es dort, wo eine solche Lesart zu Aussagen wie der führt, dass es nicht erwähnenswert wäre, dass Frauen innerhalb männlicher Behauptungsrituale keinen Platz hätten. Denn nicht nur marginalisiert das die Position der Frau innerhalb Ihrer Aussage; auch war das, worauf Sie sich beziehen, nicht Anliegen meines Textes. Denn mir geht es um die Deckungsgleichheit vermännlichter/männlich gedachter Entwicklungsweisen und (Roman-)Narrativen. Dass innerhalb dieser Narrative Frauen eine Position zukommt, die lediglich der eines Behelfsmittels gleichkommt, ist, denke ich, ganz und gar nicht unwichtig. Und eine solche Position zu marginalisieren, liefe Gefahr, etwa 40 Jahre gendertheoretisch informierte Literaturwissenschaft ebenso klein zu reden wie aktuelle politische Bewegungen– ich bin mir nicht sicher, ob das hier der richtige Ort ist. Wichtig ist mir nur festzuhalten, dass, insofern Literatur also Wahrnehmungs- und Konstruktionsmedium von Geschlecht (und vielem anderen) ist, eine kritische und ernsthafte Auseinandersetzung mit solchen Formen der Wirklichkeitsrezeptions und ‑produktion durchaus erstrebenswert ist.
Abschließend ist vielleicht auch schlicht einzugestehen, dass jeder der von Ihnen in den jeweiligen Paragraphen angesprochene Teilaspekt mindestens eine Dissertation wert ist. Dass das Format hier – das können wir ja bereits an den Strapazen sehen, die wir dem Gegenstand mit unseren Kommentaren zumuten – nicht unbedingt auf eine solche Detailverliebtheit hin angelegt ist, macht, denke ich, auch Sinn. Denn es soll, und damit hat es ja seinen Zweck unmittelbar erfüllt, zum Nachdenken anregen.
Lieber Herr Reisener,
hier spricht nun eine Frau! Aber nachdem ich Ihren Beitrag zu dem obigen Kommentar gelesen habe, weiß ich gar nicht mehr, worum es eigentlich geht? Das bestärkt mich in meiner Ansicht, die ich beim ersten Lesen ihrer Abhandlungs ohnehin schon hatte: Sie ist für mich viel zu akademisch. Soll heißen: Die Theorie steht im Vordergrund und die Werke kommen – bis auf Goethes „Wilhelm Meister“ – einfach zu kurz! Zudem: Der von Ihnen zitierte Spielhagen ist ein heute unbedeutender und nur in seiner Zeit gelesener Autor; Friedrich Theodor Vischer ist ein Nachhegelscher Philosoph, der allenfalls noch zur Weiterentwicklung der Hegelschen Ästhetik taugt. Zusammengenommen interessieren mich beide heute nicht sonderlich, wenn es darum geht, über junge Männer zu sprechen. Der moderne Roman – auch darüber wurde in dem obigen Kommentar schon gesprochen – bietet doch ganz gewiss andere Ansatzmöglichkeiten. Wie gehen Männer im zeitgenössischen Roman mit Frauen um? Was machen sie mit ihnen? Wie wehren sich Frauen gegen die männliche Inbesitznahmen (dazu fällt mir der Roman „Agnes“ von Peter Stamm ein). Heute fehlt es Frauen ja nicht mehr an Bildung, sondern höchstens an gesellschaftlicher Reputation. Ja, Fragen über Fragen …
Lieber Frau Schubert,
vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Ich gebe Ihnen umstandslos Recht, Vischer und Spielhagen sind Texte, die kaum noch eine Rolle spielen wenn es darum geht, ein gegenwärtiges Ästhetik‑, Roman- und Männlichkeitsverständnis entwickeln. Deshalb sind diese Text auch nur noch historisch zu lesen, also als Belege dafür, wie zu einer gewissen Zeit über Texte und Genres gedacht und geredet wurde. Diese Theorietexte möchte ich also nicht als Theorien anwenden, sondern als Dokumente davon lesen, wie Geschlecht und Roman sich im 19. Jahrhundert zueinander verhalten. Und bereits dort kann man also sehen, dass es einerseits Gattungskonzepte gibt, die einen proto-männlichen Roman (in all seinen Facetten) verlangt und dass dem andererseits aber Texte gegenüberstehen, die das nicht (mehr) einlösen können. Das sind m.E. Vorreiter fehlleitender Entwürfe von Erzählungen, wie wir sie heute teils aus dem Kino oder Netflix kennen (und dort sind die Umgangsweisen mit Frauen la teils haarsträubend). Dort suggerieren RomComs oder ähnliche Formate einen spezifischen Lebensentwurf, an dem wir (ob wir wollen oder nicht) Maß nehmen, mit der Folge, dass wir aufgrund der Nichteinlösbarkeit enttäuscht sind. Und ein großer Teil dieser Nichteinlösbarkeit rührt daher, dass Erzählungen dieser Art eine ideal-männliche Lebensweise als Blaupause gedient hat. Das in aller gegebenen Kürze nachzuzeichnen, war mein Anliegen. Dass die Texte das teils in den Ausschnitten nicht zu zeigen in der Lage waren, tut mir Leid, genau wie der akademische Sound. Beim Eindampfen solcher Texte passiert so etwas dann leider doch immer mal wieder, ich hoffe, Sie hatten dennoch Spaß an dem Text.
Liebe Mitstreiter,
eine Replik auf die Replik zu schreiben, erscheint mir angesichts der Fülle des hier dargebotenen Materials nahezu unmöglich. Deshalb will ich wenigstens einen Punkt herausgreifen, nämlich den Hinweis auf Friedrich Theodor Vischer:
Es hätte sich geradezu angeboten, lieber Herr Reisener, auf Vischers einzigen Roman „Auch Einer“ (1878) einzugehen, über den Lukács einst sagte, es gebe wohl keinen Angehörigen des deutschsprachigen Mittelstandes, der dieses Buch in seiner Jugend nicht gelesen hätte. (Leider ist mir das erst jetzt eingefallen.) Heute kennt man daraus höchstens noch den Aphorismus „die Tücke des Objekts“, gleichwohl der Roman nicht nur einen äußerst skurrilen Protagonisten vorführt, sondern uns auch noch mit dessen abwertenden Frauenbild konfrontiert, das man aus heutiger Sicht vielleicht sogar als „sexistisch“ bezeichnen könnte. Gemeinhin wird wohl angenommen, Vischer habe sich von den idealistischen Grundsätzen seines Hauptwerkes („Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen“) abgewandt, ohne gleichzeitig einen literatischen Neubeginn zu schaffen, weshalb der Roman irgendwo zwischen Tradition und Moderne hin- und herpendle. Aber das kann hier nur als Anstoß dienen; ansonsten müsste ich mich noch einmal genauer mit dem Werk beschäftigen.
Lieber Herr Reisener,
nach der dritten Lektüre mutet Ihr Text wie ein Eisberg mit dem bekannten Verhältnis von Oberfläche und Tiefgang an. Die Spitze ist klar erkennbar: Inhaltlich geht es um Männlichkeit im Roman, die binnen ca. 120 Jahren konstituiert, dann dekonstruiert wird. Allein: Dieses Schicksal teilt die Männlichkeit mit einer ganzen Reihe anderer Konzepte wie Bildung, Aufklärung, Bürgertum etc. – alle erfunden, um kurz vor dem ersten Weltkrieg zu Grabe getragen zu werden. Ich glaube allerdings nicht, dass Ihr Beitrag bloß Männlichkeit als INHALT des Romans zur Sprache bringen will.
Unter der Oberfläche schlummert m. E. eine weitere Ambition: Den Roman als MEDIUM der Männlichkeit kenntlich zu machen. Natürlich kann man sich dabei nur die Finger verbrennen: Was soll das denn sein, ein männliches Medium? Ein Männermagazin? Der Playboy gar? Vielleicht ist letzteres Beispiel interessanterweise doch instruktiv. Schließlich hat jener seine Kundschaft mit Männlichkeit in Geschmacks- und Empfindungsbereichen versorgt, die noch nicht binär kodiert waren. Dank des Playboys gab es plötzlich eine „männliche“ Innenarchitektur, „männliche“ Küchen, „männliche“ Mobilitäten etc. (nachzulesen in Preciados Pornotopia).
Ist der Roman nicht der Playboy des 19. Jahrhunderts? Ein Medium, das seinen Leser_innen Männlichkeit auf eine Weise näherbringt, die über die Erzählstruktur (Abenteuer, Verliebtheiten, Ehe) hinausweist? In Ihrem Text blitzt m. E. immer auch die These durch, dass der Roman eine Ordnung in das von der Moderne geschüttelte Gefühlsleben bringt; dass der Roman klärt, welche Ereignisse im Leben eines Menschen zu seiner Biographie gehören und welche nicht; dass der Roman die Positionalität der Geschlechter auslotet und festigt.
Qua Medium scheint der Roman, so habe ich Ihren Text gelesen, zur Ausdifferenzierung eines bis dato amorphen Gefühlslebens des Mannes beizutragen. Dass der Bildungsroman hier auf die empfindsame Frauenliteratur baut, die eine solche Gefühlsdifferenzierung bereits vorweggenommen hat, scheint Ihre These ja eher noch zu bekräftigen.
Den Roman als „Playboy des 19. Jahrhunderts“ zu bezeichnen, erscheint mir doch wirklich reichlich weit hergeholt. Der „Playboy“ ist ein Männermagazin, in dem Frauen wie Ausstellungsstücke – also als Ware – behandelt werden. Seinen Begründer, Hugh Hefner, kann ich mir zudem schlecht als Romancier des 19. Jahrhunderts vorstellen. Der „Playboy“ befriedigt Männerfantasien – und das teilweise in sehr sexistischer Manier. Keinesfalls geht es darum, dem Leser irgendeine Form von „Männlichkeit“ näherzubringen, die er vorher noch nicht kannte. Das „Playgirl des Jahres“ dürfte auch kaum als Projektionsfläche für die empfindsame Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts geeignet sein. Also, alles in allem ein eher abstruser Vergleich!
Im „Playboy“ zeigen sich Sexualität und Ökonomie als die prägenden Systeme der Gesellschaft. Beide folgen den Gesetzen der Kommerzialisierung, sie funktionieren parallel. Wer sagt denn, dass der Mann „zur Ausdifferenzierung eines bis dato amorphen Gefühlslebens“ des Romans bedurft hätte? Die Schriftsteller vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieben für den literarischen Markt – und für ihren persönlichen Erfolg. Selbst bei Heine – der nun allerdings kein Romanschriftsteller ist – geht es in den Briefen mit seinem Verleger Campe ständig um das Thema „Geld“ und um die bestmögliche Vermarktung von Heines Werken. Sich den Schriftsteller des 19. Jahrhunderts im stillen Kämmerlein sitzend vorzustellen, wie er mit der Schreibfeder in der Hand um die Sichtbarmachung seines Gefühlslebens ringt, ist wohl eher dessen geschuldet, was wir „romantisch“ nennen. Doch zeigt sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Durchdringung der romantischen Liebe mit den Praktiken des Konsums. Mit der Ausdifferenzierung von Männlichkeit hat das wenig zu tun. (Ich empfehle diesbezüglich den Beitrag von Eva Illouz: Vermarktung der Leidenschaft. Bedeutungswandel der Liebe im Kapitalismus, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Heft 1, 2005. S. 80ff.)
Lieber Herr Reisener,
ich finde die Beobachtung sehr spannend, dass in dem von Ihnen beschriebenen Erzählprinzip Männlichkeit durch die Instrumentalisierung von Frauenfiguren entwickelt wird. Ich möchte hier die These wagen, dass sich in zeitgenössischen trivial-populären Liebesromanen eine Transformation dieses Prinzips erkennen lässt – die Instrumentalisierung von Männerfiguren für das Erzählen einer gelungenen Weiblichkeit.
Die Autorinnen der „Romance Writers of America“ (Nora Roberts, Suzanne Elisabeth Phillips, Susan Brown,…) haben mit ihren Liebesromanen einen reißenden Absatz auf dem US-amerikanischen sowie in Übersetzung auch auf dem deutschen Markt. Und sie erzählen alle nach demselben Muster: Die Protagonistin ist eine junge Frau um die dreißig, die mit sich und ihrer Rolle in der Welt zu kämpfen hat (seien es ökonomische Existenzprobleme, schwierige Eltern, eine komplizierte Vergangenheit, Überarbeitung, Einsamkeit,…). Diese Frau trifft nun auf einen Mann und verliebt sich in ihn. Dummerweise ist besagter Mann grundsätzlich bindungsunwillig. Die Entwicklungsaufgabe der Heldin besteht nun darin, diesen Mann seinen bisherigen Lebensumständen abzutrotzen und am Ende zu heiraten. Im Laufe dieses Prozesses kommt sie über ihre ursprünglichen Schwierigkeiten hinweg und endet als ausgeglichene, glückliche und liebende Frau in der Ehe. Die männliche Figur ist hierbei nur Mittel zum Zweck. Zwar wird sie in jedem Roman mit einem Set an persönlichen Merkmalen ausgestattet, die Grundkomponenten sind jedoch immer dieselben: unglaublich attraktiv, groß und stark, ökonomisch potent und ein vollendeter Liebhaber. Die Probleme der weiblichen Figur werden also dadurch gelöst, mithilfe einer instrumentalisierten männlichen Figur am Ende eine als ideal dargestellte Weiblichkeit zu performieren.
Natürlich ist diese hier als Ideal verkaufte Weiblichkeit alles andere als innovativ oder subversiv. Die Fixierung gelungener Weiblichkeit auf die Rolle als Ehefrau ist genau so einschränkend, wie die Fixierung gelungener Männlichkeit auf die Rolle des Ehemanns im Bildungsroman. Was Romane, die mit der Umkehrung dieses „männlichen“ Erzählmusters arbeiten, so attraktiv für viele Leser*innen macht, finde ich jedoch eine sehr spannende Überlegung!