Eigent­lich woll­ten wir mit Andre­as Kraß ein Inter­view zu Män­ner­freund­schaf­ten füh­ren. Ent­wi­ckelt aber hat sich ein Gespräch, das von „schwul“ über #MeToo bis Har­ry Pot­ter all das anspricht, was soge­nann­te „Män­ner“ ver­un­si­chert. Män­ner­freund­schaf­ten inklusive.

Andre­as Kraß, im Gespräch mit Corin­na Virch­ow (im Bild) und Mario Kaiser.

Andre­as Kraß hat 2016 ein Buch über die Män­ner­freund­schaft ver­öf­fent­licht. Er ist Pro­fes­sor für älte­re deut­sche Lite­ra­tur und lei­tet seit 2012 die For­schungs­stel­le Kul­tur­ge­schich­te der Sexua­li­tät an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin. Wir haben den Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und enga­gier­ten Män­ner­for­scher in einem Stra­ßen­ca­fé in Ber­lin getroffen.

AV: Bevor wir Sie zur Män­ner­freund­schaft befra­gen – dür­fen wir  Sie um eine Ein­schät­zung der aktu­el­len Ver­un­si­che­rung von Män­nern bit­ten? Vor kur­zem ist in der ZEIT eine Replik auf #MeToo erschie­nen. Der Autor Jens Jes­sen beklagt die Infra­ge­stel­lung des Geschlechts­we­sens „Mann“ und fühlt sich ange­grif­fen. Dabei über­sieht er die Chan­ce, Männ­lich­keit neu zu defi­nie­ren; auch „Män­ner“ wol­len ja nicht not­wen­di­ger­wei­se in den alten patri­ar­cha­len Struk­tu­ren leben.

AK: Die Ver­un­si­che­rung der Män­ner hat eine län­ge­re Vor­ge­schich­te. Schon im frü­hen 20. Jahr­hun­dert gab es femi­nis­ti­sche Bewe­gun­gen, Frau­en­recht­le­rin­nen for­der­ten u.a. das Wahl­recht. Zeit­gleich for­mier­ten sich die ers­ten homo­se­xu­el­len Befrei­ungs­be­we­gun­gen, hier in Ber­lin war der Sexu­al­wis­sen­schaft­ler Magnus Hirsch­feld eine zen­tra­le Gestalt. Bereits damals wur­de in Fra­ge gestellt, was wir heu­te hege­mo­nia­le Männ­lich­keit nen­nen. Die­se defi­niert sich einer­seits durch die Pri­vi­le­gie­rung des Man­nes gegen­über den Frau­en, ande­rer­seits durch den Vor­rang der Hete­ro­se­xua­li­tät gegen­über ande­ren Sexua­li­tä­ten. Der Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Nach­kriegs­zeit unter­bra­chen die­se Auf­brü­che und sorg­ten für restau­ra­ti­ve Tendenzen.

Bei Män­nern wird das Enga­ge­ment für Gleich­be­rech­ti­gung ja oft gera­de dann stär­ker, wenn sie sich für ihre Töch­ter ver­ant­wort­lich fühlen.

Wir befin­den uns heu­te in einer Zeit, in der die Geschlech­ter­ver­hält­nis­se neu defi­niert wer­den. Dar­an betei­li­gen sich beson­ders Men­schen, die in weni­ger repres­si­ven Ver­hält­nis­sen auf­ge­wach­sen und von Eltern erzo­gen wor­den sind, die ein Inter­es­se am beruf­li­chen Erfolg ihrer Töch­ter haben. Bei Män­nern wird das Enga­ge­ment für Gleich­be­rech­ti­gung ja oft gera­de dann stär­ker, wenn sie sich für ihre Töch­ter ver­ant­wort­lich füh­len. Die der­zei­ti­ge Befrei­ungs­be­we­gung lässt sich als his­to­ri­sches Ereig­nis sehen und anhand von cha­rak­te­ris­ti­schen Lebens­läu­fen rekon­stru­ie­ren. Man kann die bio­gra­phi­sche Erfah­rung, eine Toch­ter zu haben und sich für sie ein­zu­set­zen, nur in bestimm­ten Jahr­zehn­ten machen.

AV: Bie­tet die Männ­lich­keits­for­schung eine Ant­wort auf die aktu­el­le Verunsicherung?

AK: Die Männ­lich­keits­for­schung kennt affir­ma­ti­ve und kri­ti­sche Spiel­ar­ten. Einer­seits ver­sucht sie aus einem kon­ser­va­ti­ven Inter­es­se her­aus die alte und pri­vi­le­gier­te Ord­nung wie­der­her­zu­stel­len, auch mit­hil­fe wis­sen­schaft­li­cher Kon­zep­te und Begrif­fe. Ande­rer­seits gibt es pro­gres­si­ve For­schen­de, die ihre Impul­se aus den gen­der und que­er stu­dies bezie­hen. Sie neh­men Männ­lich­keit kri­tisch und stets in Bezie­hung zu ande­ren Geschlech­tern wahr.

AV: Neben der gegen­wär­ti­gen Ver­un­si­che­rungs­wel­le regis­trie­ren wir spä­tes­tens seit den ers­ten PISA-Stu­di­en einen Kri­sen­dis­kurs um den jun­gen Mann. Die­ser wach­se, so die Dia­gno­se von Pres­se und besorg­ten Eltern, in femi­ni­sier­ten Umge­bun­gen auf. Er kön­ne sich nicht ange­mes­sen aus­le­ben, sei­ne Auf­müp­fig­keit wer­de mit Rital­in the­ra­piert etc.

AK: Die aktu­el­le Debat­te um männ­li­che Pri­vi­le­gi­en lässt uns auf­hor­chen, wenn es um angeb­lich benach­tei­lig­te jun­ge Män­ner geht. In dem Augen­blick, in dem wir unse­ren Blick auf die Kri­se der jun­gen Män­ner len­ken, bli­cken wir ja von der Kri­se jun­ger Frau­en weg. In der Fra­ge nach ver­un­si­cher­ten Män­nern – egal wie kri­tisch sie sich gibt – wird aber­mals bekräf­tigt, dass die jun­gen Män­ner doch ein wenig inter­es­san­ter sei­en als die jun­gen Frauen.

Wir soll­ten eher über die Kri­se der jun­gen Frau sprechen.

Wir soll­ten eher über die Kri­se der jun­gen Frau spre­chen. Jun­ge Frau­en sind oft als Schü­lerin­nern beson­ders flei­ßig und leis­tungs­fä­hig. Ab einem bestimm­ten Alter schlägt das um. Plötz­lich sto­ßen die Mäd­chen mit ihren Talen­ten und Fähig­kei­ten an glä­ser­ne Decken. Umge­kehrt erhal­ten jun­ge Män­ner uner­war­tet Aner­ken­nung, die ihre bis­he­ri­gen Miss­erfol­ge wie­der­gut­macht. Auch wenn ihre schu­li­schen Leis­tun­gen gerin­ger waren, ver­die­nen sie oft weit mehr als ihre klu­gen Klassenkameradinnen.

AV: Das The­ma Trans­gen­der lässt das Aus­ein­an­der­bre­chen eines bipo­la­ren Koor­di­na­ten­net­zes erken­nen. Dies könn­te einen Ent­wick­lungs­ho­ri­zont eröff­nen, der den jun­gen Män­nern klar macht, was alles mög­lich ist und weni­ger, in wel­che fixe Rol­le sie sich zu fügen haben. Doch wor­an ori­en­tie­ren sich jun­ge Männer?

AK: Jun­ge Män­ner ori­en­tie­ren sich viel­fach an Fan­ta­sien, die ihnen in Büchern, Fil­men und Video­spie­len ange­bo­ten wer­den, und somit am „kul­tu­rel­len Ima­gi­nä­ren“ einer doch sehr hete­ro­nor­ma­ti­ven Männ­lich­keit. Gele­gent­lich wer­den auch leicht beschä­dig­te Hel­den gezeigt wie zum Bei­spiel in den Aven­ger- Fil­men. Gera­de das macht sie main­stream­fä­hig. Dem Her­an­wach­sen­den bestä­ti­gen sol­che Fil­me, dass das Rol­len­bild des männ­li­chen Super­hel­den grund­sätz­lich erstre­bens­wert ist.

AV: Gibt es ein Merk­mal, das all die­se Hel­den gemein­sam haben? Grob geschätzt sind 80 Pro­zent Wai­sen­kin­der. Har­ry Pot­ter, Bat­man, Wol­veri­ne oder Oli­ver Twist. Zudem sorgt häu­fig genug ein Unfall für die Trans­for­ma­ti­on von Tee­nie zu Held…

AK: Das ist das Nar­ra­tiv der „beson­de­ren Geburt“. Joseph Camp­bell hat das in sei­nem bekann­ten Buch Der Heros in tau­send Gestal­ten dar­ge­legt. Er ana­ly­siert all die ver­schie­de­nen Bio­gra­phien von Göt­tern, Halb­göt­tern und Hel­den. Ein wich­ti­ges Ele­ment in allen heroi­schen Geschich­ten ist die aus­ge­zeich­ne­te Geburt – von Hera­kles über Sieg­fried bis hin zu den Science-Fiction-Helden.

Seit der Anti­ke gibt es in allen Epo­chen ein Reper­toire an Hero­en, an denen sich Kin­der ori­en­tie­ren. In ihrem Spiel über­schnei­den sich Rea­li­tät und Fan­ta­sie, hier üben sie auch ihre Geschlech­ter­rol­len ein. Des­halb fin­de ich es so erstaun­lich, dass wir einer­seits über Gleich­be­rech­ti­gung, Eman­zi­pa­ti­on und ange­mes­se­ne Schul­för­de­rung dis­ku­tie­ren, dass ande­rer­seits aber das hete­ro­nor­ma­ti­ve Fan­ta­sie-Uni­ver­sum mas­siv zurück­schlägt. Unab­hän­gig von allem, was wir debat­tie­ren, teilt die Kon­sum­in­dus­trie die Welt nach wie vor in Pink und Blau ein. Es gibt ja kei­nen ersicht­li­chen Grund, war­um Spiel­zeug gegen­dert sein soll. Ande­rer­seits ist es erfreu­lich, wenn Jun­gen mit Bar­bie-Prin­zes­sin­nen und Mäd­chen mit Feu­er­wehr­au­tos spie­len dür­fen, ohne dass ihre Eltern ner­vös werden.

AV: Über­blickt man die Lite­ra­tur der letz­ten 500 Jah­re, scheint es für die männ­li­chen Her­an­wach­sen­den eine Art Mora­to­ri­um zu geben, in dem sie auf­ge­for­dert wer­den, sich aus­zu­to­ben. Egal, was sie in die­ser Zeit anstel­len, es wird ihnen verziehen.

AK: Ein jun­ger Mann zu sein, ist sehr ambi­va­lent. Auf der einen Sei­te erwar­tet die Mehr­heits­ge­sell­schaft von ihm, her­aus­for­dern­de Erfah­run­gen zu machen, sei­ne Kör­per­kraft auf­zu­bau­en, aben­teu­er­li­che Din­ge aus­zu­pro­bie­ren. Auf der ande­ren Sei­te erzeugt genau die­se Erwar­tungs­hal­tung ein Gefühl des Schei­terns und Unge­nü­gens. Hier schlägt das Uni­ver­sum der Super­hel­den erneut zurück, denn die heroi­schen Männ­lich­keits­idea­le blei­ben in der Rea­li­tät stets uner­reich­bar. Wenn Jun­gen gegen­über Mäd­chen pri­vi­le­giert wer­den, nur weil sie Jun­gen sind, so wird ihnen eine Bestä­ti­gung für etwas gege­ben, das unver­dient ist. Dafür, dass sie Jun­gen sind, kön­nen sie ja nichts.

Das ist die eigent­li­che Krux: dass der Mann Pri­vi­le­gi­en ver­tei­digt, die er nur des­we­gen hat, weil er ein Mann ist.

Per­ma­nent für etwas bestä­tigt zu wer­den, das man nicht geleis­tet hat, erzeugt einen dou­ble bind. Man hat das Gefühl, etwas bestä­ti­gen zu müs­sen, für das man eigent­lich nicht ver­ant­wort­lich ist. Es ist die blo­ße Tat­sa­che des Männ­lich­seins, die dem Jun­gen oder Mann die­se Vor­tei­le ver­schafft. Das ist die eigent­li­che Krux: dass der Mann Pri­vi­le­gi­en ver­tei­digt, die er nur des­we­gen hat, weil er ein Mann ist – Pri­vi­le­gi­en, die er nicht durch Leis­tung, Fleiß, Talent oder eine beson­de­re Gabe erwor­ben hat.

AV: Sind die jun­gen Män­ner wirk­lich in der Lage, ihre unver­dien­ten Pri­vi­le­gi­en zu durch­schau­en? Schließ­lich assis­tie­ren eine Rei­he von Natu­ra­li­sie­run­gen und Bio­lo­gi­sie­run­gen dem Mann in sei­ner Über­zeu­gung, er sei „erfin­de­ri­scher“, kön­ne „nüch­ter­ner den­ken“, oder ein­fach grund­sätz­lich etwa bewe­gen. All die­se Aus­sa­gen wir­ken wie Fall­schir­me, wel­che davor bewah­ren, zu erken­nen, wie unver­dient Män­ner-Pri­vi­le­gi­en sind.

AK: Natu­ra­li­sie­rung heißt, dass eine sozi­al und kul­tu­rell her­ge­stell­te Hier­ar­chie und Asym­me­trie als Natur ver­schlei­ert wird. Das ist die Lek­ti­on, die Roland Bar­thes in sei­nen Mythen des All­tags erteilt. Wir ver­de­cken die Ein­sicht in die Gewor­den­heit von Macht­ver­hält­nis­sen, wenn wir sie zur Natur erklären.

Neh­men Sie fol­gen­des Bei­spiel. Jemand sagt: „Es gibt vie­le Män­ner, die ihre Frau­en schla­gen“. Ein ande­rer erwi­dert: „Ja, aber es gibt auch Frau­en, die ihre Män­ner schla­gen.“ Nun besteht der ideo­lo­gi­sche Trick dar­in, eine schein­ba­re Balan­ce her­zu­stel­len, um das Pro­blem so auf­zu­lö­sen: „Es gibt das eine, es gibt das ande­re, also gleicht sich das aus.“ Wenn man aber auf die tat­säch­li­chen Zah­len schaut, wird natür­lich schnell deut­lich, dass die Zahl der schla­gen­den Män­ner die der gewalt­tä­ti­gen Frau­en pro­por­tio­nal weit übertrifft.

AV: Nun gehö­ren zum jun­gen Mann nicht nur die Kri­se und das Unge­nü­gen und die unver­dien­ten Mög­lich­kei­ten. Jun­ge Men­schen, jun­ge Män­ner sind ja auch groß­ar­tig. Die Welt steht ihnen offen, ihre eige­nen Mög­lich­kei­ten eupho­ri­sie­ren sie.

AK: Mäd­chen und Jun­gen emp­fin­den beim Her­an­wach­sen glei­cher­ma­ßen das Gefühl, plötz­lich über unge­ahn­te Kräf­te zu ver­fü­gen und etwas errei­chen und bewe­gen zu kön­nen. Die Fra­ge ist nur, wer hier eupho­risch in die Luft sprin­gen darf und bei wel­chen Gele­gen­hei­ten? Wer wird ermu­tigt und wer wird ent­mu­tigt? Die gesell­schaft­li­chen Stra­te­gien der Ermu­ti­gung und Ent­mu­ti­gung sind ent­schei­dend. Mit die­sen Stra­te­gien wer­den jun­ge Men­schen in ihre Geschlech­ter­rol­len eingewiesen.

Mit den gesell­schaft­li­chen Stra­te­gien der Ermu­ti­gung und Ent­mu­ti­gung wer­den jun­ge Men­schen in ihre Geschlech­ter­rol­len eingewiesen.

AV: Sich mit jun­gen Män­nern zu beschäf­ti­gen, heißt, sich mit Mili­tär, Sport­clubs oder Inter­na­ten zu befas­sen. Bis vor weni­gen Jah­ren waren die Män­ner in die­sen Insti­tu­tio­nen aus­schließ­lich unter sich. Das wirft die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis von Homo­so­zia­li­tät und Homo­se­xua­li­tät auf. Gele­gent­lich haben wir den Ein­druck, Män­ner kön­nen nur dann Bluts­brü­der­schaft, Team­play etc. aus­agie­ren, wenn sie jeden Ver­dacht auf Homo­se­xua­li­tät ausmerzen.

AK: Zunächst ein­mal ist fest­zu­hal­ten, dass Homo­se­xua­li­tät ein wis­sen­schaft­li­ches Kon­zept des 19. Jahr­hun­derts ist, mit dem man bis heu­te ver­sucht, Ord­nung zu schaf­fen und Nor­ma­li­tät her­zu­stel­len. Homo­se­xua­li­tät dient als nega­ti­ve Folie, um ein sehr hete­ro­ge­nes Feld in zwei Berei­che zu zer­tei­len: einen „nor­ma­len“ auf der einen, einen abwei­chen­den auf der ande­ren Sei­te. Die Nor­ma­li­tät defi­niert sich in Abgren­zung von dem, was als „anders“ ima­gi­niert wird.

Män­ner müs­sen sich dau­ernd fra­gen, wo die Freund­schaft auf­hört und die Homo­se­xua­li­tät beginnt.

Homo­so­zia­li­tät ist ein wei­tes Feld. Um Nah­be­zie­hun­gen zwi­schen Män­nern zu beschrei­ben, ver­wen­de ich ger­ne den Begriff des homo­so­zia­len Begeh­rens von Eve Kosof­sky Sedgwick. Affek­ti­ve Bezie­hun­gen zwi­schen Per­so­nen des­sel­ben Geschlechts sind zum Bei­spiel die Lie­be zwi­schen Vater und Sohn, die Sym­pa­thie zwi­schen Leh­rer und Schü­ler, ein gutes Ver­hält­nis zwi­schen Chef und Ange­stell­tem, eine enge Freund­schafts­be­zie­hung, eine sport­li­che Bezie­hung in einer Fußballmannschaft.

Die­ses fili­gra­ne und ver­äs­tel­te Kon­ti­nu­um wird nun durch das Tabu der Homo­se­xua­li­tät in der Mit­te durch­bro­chen. Män­ner müs­sen sich dau­ernd fra­gen, wo die Freund­schaft auf­hört und die Homo­se­xua­li­tät beginnt. Der Dis­kurs der Homo­se­xua­li­tät wirkt wie ein Skal­pell, das das Gewe­be des homo­so­zia­len Begeh­rens durch­schnei­det in einen Bereich, der affir­miert und einen Bereich, der dis­kri­mi­niert wird. Des­halb the­ma­ti­sie­ren männ­li­che Gemein­schaf­ten gera­de­zu zwang­haft Homo­se­xua­li­tät, um sich in der Ableh­nung zu ver­ge­wis­sern, dass  sie selbst auf gar kei­nen Fall homo­se­xu­ell sind.

Homo­se­xu­el­le Män­ner müs­sen gar nicht anwe­send sein, damit die­se Form der Selbst­ver­ge­wis­se­rung funk­tio­niert. Es reicht, dass man sei­ne Vor­ur­tei­le und Zerr­bil­der pflegt und sich gele­gent­lich ein­mal einen Mann vor­knöpft, den man als „schwul“ hin­stellt und dann ver­prü­gelt. An ihm wird stell­ver­tre­tend die homo­pho­be Angst aus­agiert, selbst nicht nor­mal zu sein. Das­sel­be gilt für die Pho­bie gegen Trans-Menschen.

AV: Hat die Angst, als „schwul“ zu gel­ten, in den letz­ten Jah­ren noch zuge­nom­men? Der­zeit sehen wir weni­ge Abbil­dun­gen von Män­nern, die sich zärt­lich berühren.

AK: Die Fra­ge lässt sich wohl so grund­sätz­lich nicht beant­wor­ten. Es gibt ja vie­le ritua­li­sier­te Berüh­run­gen. Das beginnt beim Schul­ter­klop­fen und endet bei kom­pli­zier­ten For­men des Abschla­gens mit den Hän­den. In die­sen Ritua­len wird immer wie­der eine Ambi­va­lenz sicht­bar. Einer­seits gibt es den Wunsch nach kör­per­li­cher Nähe, die für Kin­der als nor­mal gilt. Beim Ein­tritt in die Puber­tät wird der Jun­ge dann dazu ange­hal­ten, sich die­se kör­per­li­che Nähe abzu­ge­wöh­nen. Irgend­wann bekommt er kei­nen Gute­nacht­kuss mehr von sei­nem Vater, und der Papa schmust auch nicht mehr mit ihm. Ande­rer­seits erlischt der Wunsch nach kör­per­li­cher Nähe auch zu Per­so­nen des eige­nen Geschlechts nicht ein­fach. Ich glau­be, dass hier eine Ritua­li­sie­rung des Kör­per­kon­tak­tes ein­springt. Sol­che Riten ermög­li­chen einer­seits kör­per­li­cher Nähe, ande­rer­seits ver­lei­hen sie ihr eine höhe­re sozia­le Bedeutung.

AV: Wie ritua­li­siert und kodiert denn die Lite­ra­tur die Freund­schafts­be­zie­hun­gen unter Män­nern? Wie kana­li­siert, inhi­biert oder akti­viert sie das homo­so­zia­le Begehren?

AK: In der west­li­chen Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie sind Män­ner­freund­schaf­ten in Form von Men­to­rats­be­zie­hun­gen zwi­schen Leh­rern und Schü­lern sehr häu­fig. Zwi­schen ihnen wer­den eine Zunei­gung und eine Inti­mi­tät beschrie­ben, die nicht nur eine ero­ti­sche, son­dern auch eine päd­ago­gi­sche Dimen­si­on haben. Die Freund­schaft zwi­schen einem älte­ren und einem jün­ge­ren Mann ist eine Kon­stan­te, die in ver­schie­de­nen Epo­chen und Kul­tu­ren nur ver­schie­den ein­ge­färbt ist.

Pädo­phi­le Über­grif­fe wur­den oft als päd­ago­gi­scher Eros gerecht­fer­tigt und vertuscht.

In der grie­chi­schen Anti­ke gibt es bekannt­lich das phi­lo­so­phi­sche Ide­al, das zwi­schen Leh­rer und Schü­ler eine gegen­sei­ti­ge Attrak­ti­on bestehen soll, die einen Tausch impli­ziert. Der Leh­rer erfreut sich an der Schön­heit und Jugend des Kna­ben, die­ser wie­der­um an der Weis­heit und dem Anse­hen sei­nes Men­tors. Man kann das mit der mit­tel­al­ter­li­chen Bezie­hung zwi­schen Rit­ter und Min­ne­da­me ver­glei­chen: Der schö­ne Jüng­ling ist für den Leh­rer ein Objekt des Begeh­rens, das sich uner­reich­bar machen muss, aber des­we­gen umso hef­ti­ger umwor­ben wird. Das christ­li­che Mit­tel­al­ter hat das Modell des päd­ago­gi­schen Eros vor allem in monas­ti­schen Milieus wei­ter­ge­führt, wenn­gleich deut­lich arg­wöh­ni­scher. Auf­grund der Ver­ur­tei­lung von gleich­ge­schlecht­li­cher Sexua­li­tät ist ein Schat­ten auf die­se Form der Freund­schaft gefal­len; ande­rer­seits wur­den pädo­phi­le Über­grif­fe oft als päd­ago­gi­scher Eros gerecht­fer­tigt und vertuscht.

AV: Wird der Eros in die­sen Men­to­rats­be­zie­hun­gen auf­grund der Uner­reich­bar­keit des Jüng­lings nicht eben­falls ver­hin­dert? Das erin­nert doch sehr an das Homo­se­xua­li­täts­ta­bu des 19. Jahrhunderts…

AK: Dar­in besteht ja gera­de die Para­do­xie, dass die Uner­reich­bar­keit des begehr­ten Objekts das Begeh­ren selbst stei­gert. Im Übri­gen gehor­chen Män­ner­freund­schaf­ten in der Lite­ra­tur stets bestimm­ten Codes und Regeln. Eine typi­sche Kon­stel­la­ti­on ist die Tri­an­gu­lie­rung. Man führt eine drit­te Figur ein, meist eine weib­li­che, bei­spiels­wei­se eine Mut­ter. Die Freun­de ken­nen sich seit ihrer Kind­heit und sind von der glei­chen Mut­ter geliebt und auf­ge­zo­gen wor­den. Nur han­delt es sich bei dem einen Sohn nicht um einen leib­li­chen Bru­der, son­dern um einen Pfle­ge- oder Adoptivsohn.

AV: Den Milchbruder…

AK:  Genau, so wie bei Ham­let und Hora­tio, Achill und Patro­klos oder Gil­ga­mesch und Enkidu. Durch die gemein­sa­me Kind­heit und die gemein­sa­me müt­ter­li­che Bezugs­fi­gur wer­den Freund­schaft und Brü­der­lich­keit eng anein­an­der gekop­pelt. Die Ver­schwä­ge­rung ist ein wei­te­rer Topos. Niklas Luh­mann hat das in sei­nem Buch Lie­be als Pas­si­on schön auf den Punkt gebracht: „Zuerst inni­ge Freund­schaft, gehei­ra­tet wird dann die Schwes­ter des Freundes.“

Die Freund­schaft wird über die Ver­schwä­ge­rung in eine fami­li­en­ar­ti­ge Bezie­hung über­führt. Bei­spie­le sind in der Moder­ne Ten­ny­son und sein Freund Hal­lam, im Mit­tel­al­ter Roland und sein Waf­fen­bru­der Oli­vi­er, in der Anti­ke Cice­ro und Atti­cus (des­sen Schwes­ter Cice­ros Bru­der heiratete).

Eine drit­te Tech­nik besteht dar­in, eine nega­ti­ve Neben­fi­gur ein­zu­füh­ren, um so die Haupt­fi­gur zu ent­las­ten. Ein Bei­spiel ist die mit­tel­al­ter­li­che Fas­sung von Ver­gils „Aen­eis“. Ama­ta, die Mut­ter der Lavi­nia, ver­sucht ihrer Toch­ter Aene­as aus­zu­re­den, indem sie dar­auf hin­weist, dass er frü­her schon sei­ne Ehe­frau Dido ver­las­sen habe, und behaup­tet: „Er hat es nicht so mit den Frau­en, mit ihm wirst du nie­mals glück­lich wer­den. Was Män­ner mit Frau­en machen, das macht er mit ande­ren Män­nern.“ Im Nach­hin­ein stellt sich her­aus, dass der Vor­wurf unbe­rech­tigt ist, und mit der Figur, die den Zwei­fel aus­ge­spro­chen hat, wird auch der Zwei­fel selbst abser­viert – Ama­ta stirbt kurz dar­auf. So fällt dann auch kein Schat­ten mehr auf die pas­sio­nier­te Bezie­hung, die Aene­as mit sei­nem jun­gen Freund und Waf­fen­bru­der Pal­las führte.

AV: In ihrem Buch gibt es noch eine wei­te­re Tech­nik zur Beför­de­rung und Camou­fla­ge der Lie­be, eine weit­aus tödlichere…

AK: Ja, das Haupt­in­stru­ment – das war über­haupt der Anlass mei­nes Buches. Fast immer muss einer der Freun­de ster­ben. Die Dich­ter wäh­len die Situa­ti­on der Toten­kla­ge als Lizenz, um in pas­sio­nier­ter Wei­se über die Freund­schaft spre­chen zu kön­nen. Das sind also Pas­si­ons­ge­schich­ten im dop­pel­ten Sinn. Der eine Freund ist gestor­ben, der ande­re beklagt den Ver­lust. Das Set­ting des Lei­dens erlaubt die Lei­den­schaft. Wohl acht­zig Pro­zent der lite­ra­ri­schen Tex­te, die von pas­sio­nier­ten Freund­schaf­ten erzäh­len, enden mit dem Tod eines der Freun­de. Trau­er, Kla­ge und Mit­lei­den sind sozu­sa­gen die Fort­set­zung des homo­so­zia­len Begeh­rens im Zei­chen des Todes. Ich war daher zuerst sehr geneigt, mein Buch „Nur über sei­ne Lei­che“ zu nennen.

AV: Das deu­tet dar­auf hin, dass nur der Tod die letzt­lich legi­ti­me Form einer Män­ner­freund­schaft ist.

AK: Spä­ter, bei Tris­tan und Isol­de oder Romeo und Julia, kommt dann noch die Hete­ro-Vari­an­te hin­zu. Aber ja – wenn man den Dich­tern glaubt, dann ist der Tod der Beginn einer wun­der­ba­ren Freundschaft.

Der Tod ist der Beginn einer wun­der­ba­ren Freundschaft.

Lite­ra­tur

Kraß, Andre­as. 2016. Ein Herz und eine See­le: Geschich­te der Män­ner­freund­schaft. Frank­furt am Main.

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt Bat­man im Kampf gegen Vic­tor Fries ali­as Mr. Free­ze. Scan aus dem Comic­buch Bat­man: The City of Owls. 2013. Geschrie­ben von Scott Sny­der und James Tyni­on, gezeich­net von Greg Capul­lo, Jona­than Gla­pi­on et al. © DC.

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Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

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