Mittlerweile wissen wir: Es darf öffentlich und offen über weibliches Begehren gesprochen werden. Emma Watson empfahl in einem Interview unverblümt die interaktive Onlineplattform OMG Yes. „Auf Grundlage aktueller Forschung“ verspricht die Website einen „ehrlichen und informativen Zugang zur weiblichen Lust“. In zahlreichen Videos erzählen Frauen von ihren favorisierten Masturbationstechniken, die im Anschluss an digitalen, fotorealistischen Vulvas per Touchscreen trainiert werden können. „Own your sexual experience!“
Sexpositive Frauen bewegen sich heute kompetent zwischen Wissenschaft, Empowerment, Cyborg, Spiel und Spaß. Doch wo bleiben die Jungs und Männer mit dem Zugang zu ihrer Lust? Können sie emanzipierter weiblicher Sexualität Stand halten? Wie navigieren sexualpädagogische Formate durch die so oft ausgerufene Krise der Männlichkeit?
Das touchable video von OMG Yes simuliert eine Vulva, die sich durch Berührung auf dem Touchscreen verändert. Hier geht’s zum Anleitungsvideo.
Mit biologischem Wissen ist es nicht mehr getan. Moderne Sexualkunde muss der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten, sexuellen Orientierungen und erotischen Vorlieben Rechnung tragen. Doch schaffen es aktuelle Aufklärungsformate, junge Männer so differenziert anzusprechen?
Technik
Im jugendlich-hippen Design präsentiert sich das Videoformat Dr. Bock des SRF-YouTube-Kanals Youngbulanz. Es empfiehlt das Erkunden vielfältiger Onanietechniken durch „Streicheln, Pumpen, Melken, Massieren“ des Glieds. Dazu fordert es zum gleichzeitigen Bewegen des Beckens auf, um sich so für die Stoßbewegungen beim Koitus zu rüsten. Die Hand soll als Vagina imaginiert werden, da es dann „später auch einfacher wird beim Sex mit der Frau“. Masturbation erhält hier eine Um-Zu-Struktur zur Einübung heterosexueller Penetration.
Die Erläuterung diverser Handgriffe macht klar, dass das Thema Selbstbefriedigung zwar kaum tabubesetzt ist, es aber Jungs uniform anspricht: das Format unterstellt sie als phantasielos, penisfixiert und auf rasche Triebabfuhr bedacht. Damit vergibt Dr. Bock die Chance, junge Männer mit ihrem Begehren – ähnlich wie OMG Yes – vertraut zu machen und es zum Selbstzweck genießen zu dürfen.
Der Frage-Antwort-Katalog Absolute Jungensache (Thor-Wiedemann und Janssen 2013) beschwichtigt Sorgen pubertierender Jungs über ihre Penisgröße oder ‑krümmung damit, dass sich die Mädchen daran nicht stören würden – als wären Bewertungen durch das andere Geschlecht der ultimative Maßstab. Die heteronormative Ausrichtung der eigenen Sexualität auf die Befriedigung weiblicher Lust bestärkt männliche Archetypen. Die sexuelle Leistung bleibt so nach außen orientiert und bemisst sich an anderen als den eigenen Maßstäben. Zugang zur eigenen emotionalen Befindlichkeit und Sinnlichkeit erhalten junge Männer so jedenfalls nicht.
Diversität
Das Praxismethodenbuch Sexualpädagogik der Vielfalt (Tuider et al. 2014) versucht mit einem dezidiert nicht-diskriminierenden Ansatz, Standardisierungen der Lust kritisch zu begegnen. Der Ansatz der Materialiensammlung besteht in der Vorgabe der Themen durch Jugendliche und nicht durch Pädagogen. Im Buch finden sich daher auch Begriffe wie Gangbang und Taschenmuschis oder Fragen wie „Wo könnte der Penis sonst noch stecken?“.
Die Übungsvorschläge, die sich an Fachkräfte richten, fordern eine Entlarvung und Relativierung privilegierter Männlichkeit. Geht es darum, mit den Teenagern einen „Puff für alle“ zu gestalten, weist der Ratgeber darauf hin, nicht nur die Bedürfnisse eines „weißen heterosexuellen Mannes“ zu beachten, sondern auch die einer „lesbischen Trans-Frau“. Das Einnehmen anderer Sexualidentitäten könne Jungs lehren, ihre Lust spielerisch zu begreifen und sowohl das eigene, als auch das Begehren anderer wahrzunehmen.
Möglicherweise hätte es dem Buch nicht geschadet, die Puffübung mit einer Diskussion zu den gesellschaftlichen Bedingungen der Prostitution zu begleiten. Dies hätte die teils reißerische und verzerrende Rezeption des Bandes verhindert, die eine fruchtbare Debatte über Sexarbeit im 21. Jahrhundert bereits im Keim erstickt hat.
Ästhetik
Euphorisch besprochen wurde hingegen das Aufklärungsbuch Make Love (Henning und Bremer-Olszewski 2012), bebildert mit Fotografien, die junge Paare in intimen Szenen zeigen – weder pornographisch noch schambesetzt. Beim Durchblättern fällt der Wunsch nach einer Darstellung von Vielfalt und Abweichung auf. Eine Person of Color ließ sich ablichten und auch Homoerotik findet angemessen Platz. Die ästhetischen Entscheidungen wirken trotzdem normalisierend. Die Jugendlichen sind alle schön: schlanke, gepflegte Körper im warmen Instagram-Retro-Filter. Die Teenager wirken zudem größtenteils androgyn. Gerade die Jungs werden von metrosexuellen Typen repräsentiert, die sauber und haarlos sind.
Was also gänzlich fehlt, obwohl sie doch so sehr zum Sex dazugehören, sind Körperflüssigkeiten. Keine Anzeichen von Schweiß, fleckigen Laken, Lusttropfen oder Glückstränen. Auch wenn im Text Jungen dazu aufgefordert werden, doch einmal ihre eigene Samenflüssigkeit zu kosten und von „feuchten Träumen“ die Rede ist: die Bilder bleiben trocken.
Warum so saftlos?
Diese Trockenheit gilt für die meisten Aufklärungsmedien, auch die vielgelobten wie OMG Yes. Die visuelle Abwesenheit von Körperausscheidungen beraubt Sexualität zwei entscheidender Qualitäten: Ohne Saft zerfließen erstens keine hegemonial bestimmten Grenzen, zweitens bleiben die großen Gefühle unsichtbar. Insofern Weiblichkeit kulturgeschichtlich mit Fluidität einher geht, bleibt trotz Wärmefilter die saubere Coolness der Abbildungen männlich codiert. Trocken geben sich auch die Texte: Emotionen kommen lediglich als Effekt von Hormonausschüttungen zur Sprache. Dem barocken Überfluss und der Merkwürdigkeit, die Sex mit sich bringen kann, fehlt der Raum.
Technisch-sexuelle Selbstermächtigung ist zweifellos bereichernd. Dabei aber gerät die Möglichkeit aus dem Blick, im Sex sich und seine sonst behauptete Souveränität zu verlieren. Flüssigkeiten wären in der Lage, diesen willkommenen Autonomieverlust zu veranschaulichen. Das könnte gerade für junge Männer, denen ansonsten Souveränität und Autonomie als Leittugenden vermittelt werden, befreiend wirken.
Doch das Motto der vorgestellten Aufklärungsformate lautet nun Mal, dass guter Sex erlernt sein will. Wie jede Aufforderung zum Training ist auch diese ambivalent, da es einerseits die Freiheit und Freude des schöpferischen Tätigseins bejaht, andererseits in die neoliberale Falle der ständigen, überfordernden und lustfeindlichen Selbstverbesserung fallen lässt.
Richtig sexy ist das weder für die Jungen noch die Mädchen.
Quellen
Henning, Ann-Marlene; Bremer-Olszewski, Tina. 2012. Make Love. Ein Aufklärungsbuch. München.
Schweizer Radio und Fernsehen, Youngbulanz, Dr. Bock: DIY – Masturbation!? Tipps für Jungs, Sendung vom 15.09.2017, https://www.youtube.com/watch?v=VJcr9-Shfso.
Thor-Wiedemann, Sabine; Janssen, Claas. 2013. Absolute Jungensache – 99 Fragen & Antworten für Jungs. Ravensburg.
Tuider, Elisabeth; Müller, Mario; Timmermanns, Stefan; Bruns-Bachmann, Petra; Koppermann, Carola. 2012. Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. Weinheim/Basel.
Bildnachweis
Das Titelbild zeigt Peter Quill alias Star Lord im Kampf gegen einen Widersacher. Scan aus dem Comicbuch All-New Guardians of the Galaxy #1. 2017. Geschrieben von Gerry Duggan, gezeichnet von Aaron Kuder. © Marvel.
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Beate Absalon
Beate Absalon hat Kulturwissenschaft und Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und Visual Cultures an der Goldsmiths–University of London studiert. Als Junior Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien steht sie am Beginn ihrer Promotion über eigensinnige Ästhetiken sexueller Bildung. Im Kollektiv „luhmen d’arc“ leitet sie Workshops zu Spielformen erfinderischer Intimität und hält davon inspirierte Reflexionen auf www.luhmendarc.blog fest