Dem Familienvater und engagierten Politiker Timarchos wurde im Jahr 345 v. Chr. das Bürgerrecht von Athen aberkannt. Die Beschuldigung: Er habe sich in der Jugend prostituiert. Das Verfahren war formal eine „Überprüfung der Würde“ wie sie jeden treffen konnte, der als Redner in der Volksversammlung auftrat. Der Ankläger, ein politischer Gegner, verfolgte damit das Ziel, Timarchos kaltzustellen. Und er hatte Erfolg. Mit der sehr plakativen und skandalheischenden Argumentation konnte er die Geschworenen überzeugen. Timarchos habe sich in seiner Jugend prostituiert und damit das Recht verwirkt, in der Volksversammlung Anträge zu stellen.
Das Urteil bedeutete den politischen und sozialen Tod des Timarchos. Ihm wurden alle politischen Rechte aberkannt, an den Volksversammlungen und Festen der Stadt durfte er nicht mehr teilnehmen, den Marktplatz nicht mehr betreten. Dies war das Ende eines Lebens, das sich bis dahin ausnimmt wie ein Musterbeispiel der Biographie eines männlichen Bürgers im antiken Athen zur Zeit der Demokratie. Warum nur konnte das jugendliche Sexualleben die Karriere eines Politikers ruinieren? Gegen welche gesellschaftlichen Vorgaben hatte der junge Mann verstoßen?
Warum konnte das jugendliche Sexualleben die Karriere eines Politikers ruinieren?
Die Gerichtsrede aus der Feder des Aischines, einem berühmten Redenschreiber des 4. Jahrhunderts v. Chr., ist ein wertvolles Zeugnis. Zwischen den Zeilen sagt es viel über idealisierte Männlichkeit, gesellschaftliche Werte und die Sozialisation junger Männer aus. Freilich geht es auch in diesem Dokument – wie meistens in den überlieferten Texten – nicht um einen x‑beliebigen Bürger, sondern um ein Mitglied der Élite: den Sohn einer reichen Familie, der seit seiner Jugend erfolgreich nach gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss gestrebt hatte – bis der Prozess seine glanzvolle Karriere beendete.
Lust und Status
Die altertumswissenschaftliche Forschung hat sich vorwiegend auf den politischen Hintergrund dieser Gerichtsszene konzentriert und damit auf die Frage, wie Athen auf die Bedrohung durch die Makedonen reagierte. Zu der ebenfalls verhandelten Sexualität hat die Forschung lange Zeit eher Wertungen als Analysen beigesteuert. Unbestritten ist, dass im demokratischen Athen ältere Männer mit jüngeren Liebesbeziehungen pflegten. Deren Charakter wurde teils idealisierend als erotisch gefärbte Mentorschaft, teils abwertend als pädagogisch verbrämter Kindesmissbrauch eingeordnet.
In seiner Studie Der Gebrauch der Lüste näherte sich Michel Foucault (1984) auf neuartige Weise dem antiken Begehren. Die Griechen strebten, so Foucault, weniger eine Regulierung der Sexualität durch Verbote an. Es ging ihnen nicht um eine Moralisierung und Pathologisierung einer ‚verwerflichen‘ Sexualität. Ihnen war vielmehr am maßvollen Umgang mit der Lust gelegen: Wer darf sich wie sexuell verausgaben? Allerdings hing das richtige Maß von etlichen Faktoren ab, darunter Alter, Geschlecht und sozialer Status. Studien im Anschluss an Foucault zeichnen inzwischen ein sehr differenziertes Bild der klassischen Lust: Athen war keineswegs ein Ort unbeschwerter Homosexualität und sexueller Freizügigkeit. Vielmehr existierten klare Vorstellungen, welche Handlungen und Haltungen für eine Person als angemessen galten.
Nicht jedem war alles erlaubt. Einem jungen Mann der Élite gereichte es zur Ehre, wurde er von älteren Bürgern begehrt und verführt. Für einen Erwachsenen (etwa ab achtzehn Jahren) hingegen war es eine Schande, ließ er sich von anderen Männern penetrieren. Für junge Männer war es ehrenvoll, teure Geschenke als Zeichen der Gunst zu erhalten. Doch als korrupt galt, wer Geld für sexuelle Gefälligkeiten entgegennahm. Gab es über den Wohlstand des Geliebten Zweifel, drohten die feinen Unterschiede solcher Tauschgeschäfte also schnell zu verwischen.
Wer einem anderen Böses wollte, versuchte, den Blick der Zeitgenossen auf solche Normverstöße zu lenken und eine Anklage vor dem Geschworenengericht zu platzieren. Der Vorwurf der Käuflichkeit wog schwer in der demokratischen Kultur von Athen. Die meisten Sozialbeziehungen waren durch den ausgewogenen Tausch von Gütern und Leistungen geprägt. Empfing jemand Lohn in Form von Geld, weckte das den Verdacht der Bestechlichkeit: die Gegenleistung erfolgte, so die Mutmaßung, nicht freiwillig, sondern nur durch Preisgabe der geistigen und körperlichen Autonomie. Wer für Geld einer bestimmten Sache das Wort redete, galt als politisch korrupt. Wer seinen Körper gegen Geld anbot, machte sich selbst zum Objekt und zur Hure. Das entsprechende griechische Wort porne, das auch in männlicher Form vorkommt, leitet sich von dem Verb „verkaufen“ ab.
Der Vorwurf der Käuflichkeit wog schwer in der demokratischen Kultur von Athen.
Jugend und Sport
Die Gerichtsrede gegen Timarchos gibt Auskunft über die Sozialisation dieses Sprösslings aus reichem Hause. Sie erzählt lebendig von der sowohl kritischen als auch bewundernden Beobachtung, unter der die Élite stand. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Schilderung in diffamierender Absicht erfolgt und viele gängige Klischees über die damalige aristokratische Jugend aufgreift.
Die Kindheit des Timarchos war, so lässt sich aus verschiedenen Quellen rekonstruieren, von Ritualen begleitet, die den Jungen schrittweise in immer größere soziale Kreise einführten. Das erste Ritual bestand in der Anerkennung des Kindes durch den Vater. Nahm dieser den Säugling auf, bestätigte er nicht nur dessen Herkunft, sondern übertrug ihm auch das Erb- und athenische Bürgerrecht. Wenige Tage später stellten die Eltern das Kind in einer Zeremonie den Verwandten vor. Im Laufe der nächsten Jahre wurde Timarchos in immer größere Kultverbände eingeführt. Mit etwa 18 Jahren gelangte er schließlich in die Bürgerliste, die der zuständige Ortsverband (demos) führte.
Alle diese Rituale waren geprägt von gemeinsamen Festessen, deren Mitglieder den Neuankömmling fortwährend prüften: War der Junge reif genug, bestimmte (vor allem kultische) Zeremonien zu vollziehen? Gelang es ihm, seine Altersgenossen in geistiger und körperlicher Hinsicht zu übertreffen? Die Erwachsenen förderten und forderten den Nachwuchs, hielten ihn dazu an, „immer der beste zu sein und die anderen zu übertreffen“. Bereits Homer formulierte diesen Leistungsanspruch, der nach dem 7. Jahrhundert v. Chr. die Aristokraten zu sportlichen und geistigen Höchstleistungen anspornte.
Der Ort, um diesen Anspruch unter Beweis zu stellen, war das Gymnasion, ein von Säulen umstandener Sportplatz, auf dem die Jungen unbekleidet unter Anleitung trainierten. Die sportliche Ertüchtigung in Form von Ringen, Laufen, Weitsprung oder Faustkampf hatte auch eine paramilitärische Funktion. Sie bereitete den jungen Mann auf den zweijährigen Militärdienst vor.
Diese Ausbildung stand vorwiegend den Söhnen der wohlhabenden Familien offen, die auf die Arbeitskraft des Nachwuchses zu Hause oder auf dem Land verzichten konnten. Die Reichen konnten sich zudem einen Sklaven als Pädagogen („Knabenbegleiter“) leisten. Dieser hütete nicht nur die abgelegten Habseligkeiten, sondern bewachte auch den Sprössling vor Belästigungen durch ältere Männer, die auf dem Turnplatz nach jungen Geliebten Ausschau hielten. Aischines‘ Rede gegen Timarchos schildert die Gymnasien als Tummelplätze lüsterner erwachsener Männer, die die wohlhabenden Knaben bedrängen.
Wandel und Begehren
Homosexuelle Beziehungen zwischen einem Erwachsenen und einem Jungen sind im antiken Griechenland seit der archaischen Zeit bezeugt. Sie gehörten zum distinkten Habitus der Aristokratie und waren durch Sitten und Bräuche normiert. Gepflegt und inszeniert wurden sie an geselligen Trinkgelagen (Symposion), die fester Bestandteil des aristokratischen Lebensstils waren. Hier trat der ältere Liebhaber mit seinem jüngeren Liebling auf, präsentierte den folgsamen und möglichst passiven Knaben der Männerrunde. Die anwesenden Männer buhlten um die Gunst des Schönsten mit Geschenken, die den Reichtum des Buhlers veranschaulichten, sowie mit Versen, die in der Symposionslyrik bis heute erhalten sind.
Das Trinkgeschirr, das bei diesen Anlässen Verwendung fand, zeigt häufig sexuelle Annäherungen eines aktiven, älteren Liebhabers an einen jungen, passiven Geliebten. Schlägereien um begehrte Knaben waren offenbar keine Seltenheit. Nicht nur die Liebhaber rivalisierten miteinander, auch die Jungen standen zueinander in Konkurrenz.
So befremdlich es aus heutiger Perspektive auch erscheint: Dieses spezielle Verhältnis hatte auch eine erzieherische Funktion. Ein älterer Mann, der weder der Vater war, noch zur Familie gehörte, nahm sich des Jungen an, wies ihn in gesellschaftliche Erwartungen ein und diente ihm als Vorbild.
All diese sexuellen und sozialen Rollenwechsel vollzogen sich für den Angehörigen der Élite nicht im Privaten und Geheimen, sondern unter den Augen der breiten Gesellschaft von Athen.
Begann der Bart zu wachsen, war die Zeit beendet, in der sich der junge Mann den Älteren als gefällig erweisen sollte. Nun galt es, selbst aktiv zu werden. Seit alter Zeit standen dem reichen Sohn dafür Hetären („Gefährtinnen“) als kultivierte Gespielinnen zur Verfügung, die für ihre gewährte Gunst wiederum Geschenke erhielten. Allerdings standen die Frauen außerhalb der Bürgergemeinschaft, sie hatten in Athen den Status von Fremden und waren zudem häufig Sklavinnen. Sie kamen weder für eine Heirat noch gemeinsame Kinder in Frage. Die arrangierte Ehe hingegen vollzog der Mann – inzwischen 30 Jahre – mit der behüteten Tochter eines Bürgers. Mit ihr pflegte er eine eher sparsame Sexualität, die meist mit der Geburt von Kindern auch erlosch. Spätestens jetzt war der Zeitpunkt gekommen, selbst zum Liebhaber eines jungen Mannes zu werden. All diese sexuellen und sozialen Rollenwechsel vollzogen sich für den Angehörigen der Élite nicht im Privaten und Geheimen, sondern unter den Augen der breiten Gesellschaft von Athen.
Gericht und Urteil
Aischines‘ Rede unterstellt Timarchos, die Rolle des „Lieblings“, des passiven jungen Mannes, nicht rechtzeitig aufgegeben zu haben. Im Gegenteil. Er habe diese Rolle professionalisiert, indem er sich geradezu gewerbsmäßig verkaufte. Er sei auf die schiefe Bahn geraten, indem er sich übermäßig an Gelagen beteiligte und sein ererbtes Vermögen verschleuderte. Ob die gegen ihn erhobenen Vorwürfe tatsächlich zutrafen, lässt sich heute nicht mehr entscheiden. Jedenfalls konnte eine Person ohne gute Leumund leicht von der politischen Bildfläche weggefegt werden. Das Sexualleben seiner Jugend mag den gängigen Sitten entsprochen haben, doch Jahrzehnte später gelingt es seinem Gegner, die Richter mit Schmutzgeschichten von der Prostitution des Angeklagten zu überzeugen.
Zu Zeiten Timarchos‘ hatte die Aristokratie ihre politische Dominanz zwar eingebüßt, dennoch bestanden die alten Formen der Geselligkeit weiter. Gegenüber der weniger privilegierten Bürgerschaft inszenierten sich die adligen Wortführer in der Volksversammlung immer noch als kultivierte und gebildete Élite: durch Kleidung, Haar- und Barttracht, Körperhaltung, Lebensstil wie auch durch Form und Inhalt der Redebeiträge. Die ungebildeten Laienrichter, die als Geschworene ihr Urteil fällten und überwiegend zu den einfachen Bürgern zählten, reagierten wiederum beleidigt, wenn ein Redner sie wie Bauerntrottel ansprach und ihnen unterstellte, sie hätten von der Welt der Reichen und Schönen keine Ahnung. Auch wenn die alte Aristokratie ihre Macht eingebüßt hatte, von ihrem Glanz ging immer noch eine Faszination aus. Deshalb konnte ein moralischer Appell wie jener von Aischines die Geschworenenrichter zu konservativen Sittenwächtern ummodeln – vermutlich, ohne dass diese bemerkten, wie sehr sie im politischen Ränkespiel instrumentalisiert wurden.
„Die Hellenen waren unglücklicher, als die Meisten glauben“
August Boeckh
Zu Beginn seiner Griechischen Culturgeschichte zitiert Jacob Burckhardt (1898) den Altertumsforscher August Boeckh: „Die Hellenen waren unglücklicher, als die Meisten glauben“. Sowohl Boeck als auch Burckhardt hegten keine Zweifel an den zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der Griechen. Allerdings wandten sich beide gegen eine Idealisierung, welche die Folgekosten dieser Entwicklungen ausblendete.
Betrachtet man die antike Gesellschaft aus einer postmodernen Perspektive und fragt, wie es um heranwachsende junge Männer, um deren sexuelle und soziale Entfaltung bestellt war, so wird man Boeckh und Burckhardt wahrscheinlich zustimmen.
Literatur
Aeschines. 1855 [346/5 v. Chr.]. Rede gegen Timarchos. Übersetzt und herausgegeben von Benseler, Gustav Eduard. Leipzig.
Burckhardt, Jacob. 2002–2013 [1898–1902]. Griechische Culturgeschichte. 4 Bände (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19–22). Aus dem Nachlass herausgegeben von Burckhardt, Leonhard; Reibnitz, Barbara von; Schmid, Alfred und Ungern-Sternberg, Jürgen von. Basel und München.
Foucault, Michel. 1989 [1984]. Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt am Main.
Bildnachweis
Das Titelbild zeigt die stürzende Statue des Black Panther, König von Wakanda. Scan aus dem Comicbuch Black Panther – A Nation Under Our Feet Book 1. 2016. Geschrieben von Ta-Nehisi Coates, gezeichnet von Brain Stelfreeze. © Marvel.
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Elke Hartmann
Elke Hartmann lehrt und forscht an der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kultur- und Geschlechtergeschichte der Antike, die Paarbeziehungen im klassischen Athen, die Frauen in der Antike, die Sozialgeschichte der römischen Kaiserzeit.