Ben­ja­min (7) und Niklas (9) hor­ten bei­de Stei­ne. Doch wäh­rend Ben­ja­min allein und aus­gie­big sei­ne Schät­ze poliert, lässt Niklas Freun­de und Ver­wand­te mit ver­bun­de­nen Augen raten, wel­che Sor­te sie in der Hand hal­ten. Malin (8) und Fran­zis­ka (8) sam­meln zwar kom­mer­zi­el­le Spiel­zeu­ge, dar­un­ter Fil­ly-Pfer­de. Doch im Spiel mit ihren Sam­mel­stü­cken offen­ba­ren sie eine so ver­blüf­fen­de Ori­gi­na­li­tät, dass Lud­wig Dun­cker resü­miert: „Wir erfah­ren hier ganz direkt etwas über das Kind, sei­ne Auf­merk­sam­kei­ten, sei­ne Wahr­neh­mun­gen und Wün­sche“. Der renom­mier­te Erzie­hungs­wis­sen­schaft­ler hat für sein Buch Wenn Kin­der sam­meln (2014) Dut­zen­de kind­li­cher Depots ana­ly­siert, die vor allem eines zei­gen: Kein Kind sam­melt wie das andere.

Die Reform­päd­ago­gin Maria Montesso­ri (1938) erklär­te die „Sam­mel­wut” und den „Besitz­trieb” der Kin­der noch zum Sym­ptom inne­ren Übels. Die Klei­nen wür­den sich „wie die Fang­ar­me einer Qual­le” an Gegen­stän­de hef­ten, um den Lie­bes­man­gel einer abwei­sen­den Umwelt zu kom­pen­sie­ren. Heu­te begrei­fen Psy­cho­lo­gie und Päd­ago­gik Sam­meln dage­gen ver­mehrt als Weg, auf dem das Kind zum auto­no­men Sub­jekt her­an­reift. Sam­meln gilt als „kul­tu­rel­le Pra­xis“ (Wil­de 2015), durch die das Kind kon­zen­triert die Welt ken­nen­ler­nen und begrei­fen kann. Die klei­nen Sammler*innen set­zen sich inten­siv mit ihren Fund­stü­cken aus­ein­an­der, ord­nen sie in Kate­go­rien und Käst­chen, fügen ihnen Namen und Beschrei­bun­gen hinzu.

Kin­der wol­len kei­ne Samm­lun­gen, sie wol­len sammeln.

Doch ist Sam­meln ein Bil­dungs­weg? Aus Kin­der­sicht wahr­schein­lich nicht. Ange­sichts der Spie­le, die die Klei­nen mit ihren Objek­ten trei­ben, gehor­chen die Samm­lun­gen kei­nem fes­ten Zweck. Ganz im Gegen­teil herr­schen hier oft Unord­nung und Ver­nich­tungs­wil­le. Die Kin­der ver­ste­cken oder lösen ihre Kol­lek­tio­nen ähn­lich rasch auf, wie sie sie zusam­men­ge­tra­gen haben. Die Bestän­de lan­den unterm Bett oder neben dem Klo. Sie fin­den sich zusam­men­ge­wor­fen in Eimern oder in Dosen wie­der. Gele­gent­lich wer­den sie besich­tigt, nur um gleich wie­der ver­packt zu wer­den. Anders als Muse­en, Depots und Archi­ve sind Kin­der­samm­lun­gen also weder von lan­ger Halt­bar­keit noch von gros­ser Repräsentativität.

Kin­der wol­len kei­ne Samm­lun­gen, sie wol­len sam­meln. Im Dia­log mit Lud­wig Dun­cker und auf den Spu­ren von Julia Kris­t­e­va, Sig­mund Freud und Wal­ter Ben­ja­min sucht die­ser Arti­kel nach Indi­zi­en, mit denen sich kind­li­che Sam­mel­lust spie­le­risch begrei­fen lässt. Hier wird das Gesetz des Zufalls wich­ti­ger als die for­cier­te Suche nach bestimm­ten Objek­ten. Sam­meln wird zur kör­per­li­chen Erfah­rung, beson­ders wenn es um Ekli­ges geht. Und der Umgang mit den Objek­ten besteht vor allem im Zei­gen und Ver­ste­cken, Suchen und Finden.

All die­se Eigen­schaf­ten infan­ti­len Sam­melns kon­tras­tie­ren scharf mit den absichts­vol­len, dau­er­haf­ten und reprä­sen­ta­ti­ven Samm­lun­gen Erwach­se­ner. Sie las­sen außer­dem Zwei­fel auf­kom­men, ob Päd­ago­gik und Didak­tik kind­li­ches Sam­meln gezielt för­dern kön­nen. Die­ses bleibt letzt­lich zu rät­sel­haft, um von einem päd­ago­gi­schen Zugriff ent­zau­bert zu werden.

Brief­mar­ken und Bar­bies: Das Gesetz des Zufalls

In unse­rem Gespräch bedau­ert Dun­cker die Ein­sei­tig­keit, mit der die Päd­ago­gik dem kind­li­chen Sam­meln begeg­ne. Sie fokus­sie­re zu sehr auf eine ziel­ori­en­tier­te Didak­tik, um die Chan­ce einer ding­ge­lei­te­ten Erzie­hung zu erken­nen: „Die Schu­le geht vor­schnell in die Abs­trak­ti­on und begriff­li­ches Arbei­ten. Wir brau­chen mehr Raum für das Plötz­li­che, das Hin- und Her­su­chen, fürs Zeit­ver­ges­sen und Ver­tie­fen.“ Eine sol­che „ästhe­ti­sche Bil­dung“, wie Dun­cker sie in sei­nem neu­es­ten Buch (2018) beschreibt, erfah­ren Kin­der in ers­ter Linie bei Sam­mel­spie­len. Dabei unter­such­ten sie ihre Objek­te ganz genau, erschlös­sen neue The­men­ge­bie­te und kul­ti­vier­ten ihre Neu­gier. Außer­dem erkun­de­ten die Klei­nen im Spiel die Zeit. Die gesam­mel­ten Din­ge ent­hal­ten Erin­ne­run­gen an lie­be Men­schen und wert­vol­le Momen­te – sei­en dies das Feu­er­wehr­au­to, das der Vater geschenkt hat, Omas Ser­vi­et­ten, die nun das gesam­te Kin­der­zim­mer deko­rie­ren, oder Schlümp­fe, die auch schon die Mut­ter gesam­melt hat.

Sam­meln und Kau­fen ist für mich eigent­lich was kom­plett Ande­res“ Tom (11)

Lindgren, Astrid. 1945. Pippi Langstrump, Stockholm.
Lind­gren, Astrid. 1945. Pip­pi Lang­strump, Stock­holm.

Doch die welt­erschlie­ßen­de Funk­ti­on kind­li­chen Sam­melns gehorcht meist dem Gesetz des Zufalls. Selbst Kin­der, die wie Lara (10) ihre Brief­mar­ken­samm­lung als Alters­vor­sor­ge ver­ste­hen, bemes­sen den Wert der Din­ge nicht am öko­no­mi­schen Gehalt, den die Erwach­se­nen ihnen zuwei­sen. Vie­le wol­len gar nicht sam­meln, was ech­tes Geld kos­tet. Weit höher im Kurs ste­hen Geschenk­tes oder Gefun­de­nes. „Sam­meln und Kau­fen ist für mich eigent­lich was kom­plett Ande­res“, meint Tom (11), stol­zer Kron­kor­ken­samm­ler. Kin­der war­ten lie­ber auf den Zufall und erst, wenn sie „lan­ge kei­nen Zufall mehr hat­ten“, suchen und beschaf­fen sie sich gezielt ihre begehr­ten Objek­te (Dun­cker et al. 2014).

Mit Pip­pi Lang­strumpf (1945) hat Astrid Lind­gren dem Zufall kind­li­chen Sam­melns ein Denk­mal gesetzt. Als „Sachen­su­che­rin” fin­det Pip­pi mit ver­schlos­se­nen Augen all jene Din­ge, die not­wen­dig zu fin­den sind, dar­un­ter Strau­ßen­fe­dern, Gold­klum­pen, Schrau­ben­mut­tern, Knall­bon­bons und nicht zuletzt: tote Ratten.

‚Ich wer­de jeden­falls nicht auf der fau­len Haut lie­gen. Ich bin näm­lich ein Sachen­su­cher, und da hat man nie­mals eine freie Stun­de.”‘ […] ‚Was ist das?‘, frag­te Tho­mas. ‚Jemand, der Sachen fin­det, wisst ihr. Was soll es ande­res sein‘, sag­te Pip­pi. ‚Die gan­ze Welt ist voll Sachen, und es ist wirk­lich not­wen­dig, dass jemand sie fin­det. Und das gera­de, das tun die Sachen­fin­der.‘ ‚Was sind denn das für Sachen?‘, frag­te Anni­ka. ‚Ach, alles mög­li­che‘, sag­te Pip­pi. ‚Gold­klum­pen und Strauß­fe­dern und tote Rat­ten und Knall­bon­bons und klei­ne Schrau­ben­mut­tern und all so das.‘ “

Schne­cken und Schä­del: Die Lie­be zum Abseitigen

Das Gesetz des Zufalls geht mit einer Lie­be zum Absei­ti­gen ein­her, das die ande­re, gewis­ser­ma­ßen ‚aso­zia­le‘ Sei­te kind­li­cher Samm­lun­gen aus­macht. So ver­heim­licht Tom, der neben Kron­kor­ken auch abge­lau­fe­ne Bus­fahr­kar­ten zusam­men­trägt, sei­nen Eltern regel­mä­ßig, wenn etwas von der Stras­se in sei­ne Samm­lung wan­dert. „Wer sam­melt, muss Opfer brin­gen”, so Tom. Auch Mattheo (8) und Jan­nis (11), bei­des lei­den­schaft­li­che Samm­ler toter Tie­re, sehen sich zu Kom­pro­mis­sen gezwun­gen. Jan­nis etwa darf die Schä­del und Gebis­se nur im Gar­ten eines Freun­des auf­be­wah­ren, wäh­rend Mattheo alles gründ­lich rei­ni­gen und auch eini­ges weg­wer­fen muss.

Das Ritu­al des Rei­ni­gens und damit Ertas­tens und Befüh­lens der Gegen­stän­de ist bei vie­len Kin­dern Haupt­be­schäf­ti­gung mit ihrer Samm­lung. Ben­ja­min (7) putzt sei­ne Edel­stei­ne oft stun­den­lang, ver­spürt aber auch gro­ße Lust sich die­se Tätig­keit zu ver­wei­gern: „Ges­tern zum Bei­spiel habe ich die Stei­ne ein­fach nur mal ange­schaut und nicht ange­fasst.“ Dabei kam ihm der Gedan­ke, einer davon könn­te „ver­stei­ner­te Kacke” sein. Fas­zi­niert und gebannt rei­ni­gen Mattheo und Jan­nis immer wie­der die Höh­len und Win­dun­gen ihrer toten Objek­te. Auch Lilia­ne (7), die eine leben­di­ge Schne­cken­samm­lung im Gar­ten pflegt, fin­det „cool”, wenn die Tie­re über­all „rum­glit­schen”. Dabei bedenkt sie auch deren Ver­dau­ung: „Die haben so eine Art Zun­ge, die das zer­drückt. Und dann quet­schen sie das nach hin­ten, in den Popo” (Dun­cker et al. 2014).

Mit Vor­lie­be tra­gen Kin­der zusam­men, was vom nor­ma­len Leben aus­ge­schlos­sen ist: Das Aus­ge­schie­de­ne, das Schmut­zi­ge und das Tote.

Das Beob­ach­ten und Berüh­ren glit­schi­ger, toter oder fäka­ler Ober­flä­chen, das Den­ken und Phan­ta­sie­ren an den Gren­zen zu Tod und Ekel mischt sich hier in das päd­ago­gisch wert­vol­le Spiel von Selbst- und Welt­erkun­dung. Infan­ti­les Sam­meln ist nicht nur ästhe­ti­sche Bil­dung, son­dern eine kör­per­li­che, ja vis­ze­ra­le Erfah­rung. Mit Vor­lie­be tra­gen Kin­der zusam­men, was vom nor­ma­len Leben aus­ge­schlos­sen ist: Das Aus­ge­schie­de­ne, das Schmut­zi­ge und das Tote. All dies sind Din­ge, die Julia Kris­t­e­va (1980) zu Abjek­ten erklär­te. Sie rufen Ekel bezie­hungs­wei­se Abjek­ti­on her­vor, weil sie die Gren­zen des Ichs, vor allem aber die Gren­zen von Leben und Tod überschreiten.

Nicht etwa feh­len­de Rein­heit oder Gesund­heit ver­ur­sa­chen Abjek­ti­on, viel­mehr das, was jede Iden­ti­tät, jedes Sys­tem und jede Ord­nung stört; das also, was Gren­zen, Posi­tio­nen und Regeln miss­ach­tet. Das Dazwi­schen, das Zwei­deu­ti­ge, das Zusam­men­ge­setz­te.“ (Kris­t­e­va 1980: 12, Über­set­zung: JB).

Mit Ekel-Lust erkun­den Kin­der ihre glit­schi­gen und gam­me­li­gen Din­ge und betre­ten damit ein Reich, das zwi­schen Ich und Ding, zwi­schen Sub­jekt und Objekt, zwi­schen Wirk­lich­keit und Phan­ta­sie nicht zu tren­nen vermag.

Zei­gen und Ver­ste­cken: Freuds Fadenspule

Eine Beob­ach­tung Freuds ergänzt die­se Dyna­mik kind­li­chen Sam­melns um das Spiel von Prä­senz und Absenz. In Jen­seits des Lust­prin­zips (1920) beschreibt der Grün­der der Psy­cho­ana­ly­se das eigen­wil­li­ge Geba­ren eines 18 Mona­te alten Kin­des. Sobald des­sen gelieb­te Mut­ter das Haus ver­lässt, wirft es eine Spin­del mit einem lau­ten „o‑o-o‑o” fort, um sie dann am Faden wie­der zurück­zu­ho­len und freu­dig mit „da” zu begrüssen.

Ich merk­te end­lich, dass das ein Spiel sei und dass das Kind alle sei­ne Spiel­sa­chen nur dazu benüt­ze, mit ihnen ‚fort­sein‘ zu spie­len. Eines Tages mach­te ich dann die Beobach­tung, die mei­ne Auf­fas­sung bestä­tig­te. Das Kind hat­te eine Holz­spu­le, die mit einem Bind­fa­den umwi­ckelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Bei­spiel am Boden hin­ter sich her­zu­zie­hen, also Wagen mit ihr zu spie­len, son­dern es warf die am Faden gehal­te­ne Spu­le mit gro­ßem Geschick über den Rand sei­nes ver­häng­ten Bett­chens, so dass sie dar­in ver­schwand, sag­te dazu sein bedeu­tungs­vol­les o‑o-o‑o und zog dann die Spu­le am Faden wie­der aus dem Bett her­aus, begrüß­te aber deren Erschei­nen jetzt mit einem freu­di­gen ‚Da‘. Das war also das kom­plet­te Spiel, Ver­schwin­den und Wie­der­kom­men … “ (Freud 1940: 12).

Mit die­ser ers­ten „gro­ßen kul­tu­rel­len Leis­tung” erlangt für Freud das Kind sei­ne Unab­hän­gig­keit von der Mut­ter. Es ist ihr Ver­schwin­den und Wie­der­kom­men, wel­ches das Kind spie­le­risch in Sze­ne setzt – letzt­lich, um über die müt­ter­li­che An- und Abwe­sen­heit selbst zu bestim­men. In Fort-Da-Spie­len wird das Kind auto­nom. Es eig­net sich Welt und sogar Wor­te an, indem es Din­ge her­vor­ho­len und weg­tun kann, wann immer es will. Bei Freud bleibt die­se Selbst­be­stim­mung jedoch stets an einen Man­gel geknüpft: das Ver­las­sen­wer­den von der Mut­ter. Für den Psy­cho­ana­ly­ti­ker wird die „Pas­si­vi­tät des Erlei­dens” hier in eine „Akti­vi­tät des Spie­lens” gewendet.

Her­vor­ho­len und ver­ber­gen, ord­nen und ver­wer­fen – mit die­sen Bewe­gun­gen herr­schen Kin­der über ihre ange­sam­mel­ten Dinge.

Die­sem trau­ri­gen Kern von Freuds Theo­rie muss nicht fol­gen, wer nach dem Mus­ter des Fort-Da-Spiels kind­li­ches Sam­meln erhel­len will. Doch kann die Lust am Ver­schwin­den­las­sen und In-Unord­nung-Brin­gen damit ver­tieft wer­den. Augen­schein­lich geht es den Kin­dern bei ihren Sam­mel­spie­len nicht allein ums Zusam­men­tra­gen und Prä­sen­tie­ren der Objek­te. Genau­so ger­ne las­sen sie gan­ze Kol­lek­tio­nen ver­schwin­den. Mattheo bewahrt sei­ne toten Tie­re in einem Eimer auf und hat vor allem Spaß dabei ihn „rand­voll“ zu machen, um mit jedem neu­en Stück die gesam­te Samm­lung umzu­schich­ten. Fran­zis­ka spielt mit den Fil­ly-Pfer­den nicht, um sie ins pin­ke Fan­ta­sie­schloss ein­zie­hen zu las­sen, son­dern, um sie ein­zeln in einem klei­nen Köf­fer­chen in ihrem Schrank zu ver­stau­en (Dun­cker et al. 2014). Her­vor­ho­len und ver­ber­gen, ord­nen und ver­wer­fen – mit die­sen Bewe­gun­gen herr­schen Kin­der über ihre ange­sam­mel­ten Din­ge. Sie ver­ste­cken, ver­stau­en oder ver­nich­ten sie, um aus den Res­ten neue Sam­mel­ord­nun­gen erste­hen zu lassen.

Fern­ab von der Kon­ven­ti­on Erwach­se­ner, ent­stan­de­ne Samm­lun­gen um jeden Preis zu erhal­ten, üben sich Kin­der also im Spiel um die Prä­senz und Absenz gesam­mel­ter Arran­ge­ments – so, als ob jede Samm­lung dem Rhyth­mus von „fort” und „da” gehorchte.

Form und Inhalt: Ben­ja­mins Strumpf

In sei­nen auto­bio­gra­phi­schen Noti­zen Ber­li­ner Kind­heit um neun­zehn­hun­dert (1950) schil­dert Wal­ter Ben­ja­min die Sam­mel­lei­den­schaft sei­ner Jugend. Jeder Stein, jede gepflück­te Blu­me und jeder gefan­ge­ne Schmet­ter­ling waren für ihn der Anfang einer Samm­lung und alles, was er besaß, mach­te für ihn eine ein­zi­ge Samm­lung aus (ibid.: 90). Dem Kind Ben­ja­min, so reflek­tiert der Erwach­se­ne, lag dabei wenig dar­an, Neu­es zu erhal­ten; viel­mehr woll­te er Altes erneu­ern. Mit den banals­ten Gegen­stän­den such­te er eine Welt vol­ler Mög­lich­kei­ten zu erschaf­fen. Bei­spiel hier­für sind die gefal­te­ten Strümp­fe, die Ben­ja­mins poe­ti­sche und phi­lo­so­phi­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt versinnbildlichen.

So schil­dert der Erzäh­ler, wie es ihn als Kind immer wie­der zur Kom­mo­de zog, in der der Schatz ver­bor­gen war. Dabei drang er „so tief wie mög­lich” in das Inne­re des Möbels ein, wühl­te sich vor, bis er die wei­che, wol­le­ne Mas­se eines Strumpf­paars erspür­te. Vol­ler Auf­re­gung begann er sie aus­zu­wi­ckeln. Doch was er letzt­lich in den Hän­den hielt, war eigent­lich: nichts. Bestürzt muss­te er jeweils fest­stel­len: „Form und Inhalt, Hül­le und Ver­hüll­tes” erwei­sen sich als ein- und dasselbe.

Ich muss­te mir Bahn bis in ihre hin­ters­ten Win­kel schaf­fen; dann stieß ich auf mei­ne Strümp­fe, die da gehäuft und in alt­her­ge­brach­ter Art gerollt und ein­ge­schla­gen ruh­ten. Jedes Paar hat­te das Aus­se­hen einer klei­nen Tasche. Nichts ging mir über das Ver­gnü­gen, die Hand so tief wie mög­lich in ihr Inne­res zu ver­sen­ken. … Denn nun mach­te ich mich dar­an, ‚Das Mit­ge­brach­te‘ aus sei­ner wol­le­nen Tasche aus­zu­wi­ckeln. Ich zog es immer näher an mich her­an, bis das Bestür­zen­de sich ereig­ne­te: ich hat­te ‚Das Mit­ge­brach­te‘ her­aus­ge­holt, aber ‚Die Tasche‘, in der es gele­gen hat­te, war nicht mehr da. Nicht oft genug konn­te ich die Pro­be auf die­sen Vor­gang machen. Es lehr­te mich, dass Form und Inhalt, Hül­le und Ver­hüll­tes das­sel­be sind“ (Ben­ja­min 2010: 58).

Im Bild der lee­ren Strumpf­ta­sche rekon­stru­iert Ben­ja­min die magi­sche Über­ein­stim­mung zwi­schen kind­li­chem Den­ken und gegen­ständ­li­cher Welt. Dar­in hören Socken auf, Socken zu sein und Kom­mo­den, Kom­mo­den. Statt­des­sen erlan­gen Auf­be­wah­rungs­ort und Objekt einer Samm­lung ein fast uner­schöpf­li­ches Ent­de­ckungs­po­ten­ti­al. Immer wie­der stülpt das Kind den Strumpf um, obwohl es weiß, dass es in ihm nichts zu fin­den gibt. Ben­ja­mins Strumpf wird so zum Sym­bol eines „ver­geb­li­chen Sammelns”(Finkelde 2006), des­sen Zweck allein in der Wie­der­ho­lung liegt.

Sam­meln, nicht Sammlungen

Vor­bei sind die Zei­ten, die den kind­li­chen Sam­mel- und Besitz­trieb als patho­lo­gisch ver­däch­tig­ten. Selbst die Päd­ago­gik begreift das lei­den­schaft­li­che Anhäu­fen von Din­gen inzwi­schen als eine Form der Ich-Bil­dung. Aller­dings sehen Kin­der­for­scher wie Lud­wig Dun­cker dar­in auch eine Gefahr: Gerät das infan­ti­le Sam­meln unter die Räder einer all­zu ziel­ge­rich­te­ten Didak­tik, schüt­tet man das Kind mit dem Bade aus. Es droht die Ver­wechs­lung von Sam­meln und Sammlungen.

Bei den ver­steck­ten und ver­sun­ke­nen Spie­len der Klei­nen mit ihren Objek­ten geht es nicht in ers­ter Linie um die Gene­rie­rung von Wis­sen und Sozi­al­kom­pe­tenz. Es geht dar­um, etwas in den Hän­den zu hal­ten und es wie­der ver­schwin­den zu las­sen. Fort-Da. Das Gesetz des Zufalls, die Ekel-Lust am Abjek­ten, das Spiel von Prä­senz und Absenz sowie das ver­geb­li­che Suchen sind zwar höchst hete­ro­ge­ne Ele­men­te, doch eben sie sind die Merk­ma­le kind­li­chen Sam­melns – und ste­hen jeder reprä­sen­ta­ti­ven Samm­lung entgegen.

Lite­ra­tur

Ben­ja­min, Wal­ter. 1950 [2010]. Ber­li­ner Kind­heit um neun­zehn­hun­dert. Son­der­aus­ga­be mit einem Nach­wort von Theo­dor W. Ador­no. Berlin.

Dun­cker, Lud­wig; Hahn, Katha­ri­na; Heyd, Corin­na. 2014. Wenn Kin­der sam­meln: Begeg­nun­gen in der Welt der Din­ge. Seel­ze.

Dun­cker, Lud­wig. 2018. Wege zur ästhe­ti­schen Bil­dung. Anthro­po­lo­gi­sche Grund­le­gung und schul­päd­ago­gi­sche Ori­en­tie­run­gen. Mün­chen.

Fin­kel­de, Domi­nik. 2006. „Ver­geb­li­ches Sam­meln. Wal­ter Ben­ja­mins Ana­ly­se eines Unbe­ha­gens im Fin de Siè­cle und der euro­päi­schen Moder­ne“, arca­dia 41.

Freud, Sig­mund. 1920 [1940]. Gesam­mel­te Wer­ke Bd. XIII. Frank­furt am Main.

Kris­t­e­va, Julia. 1980 [1982]. Powers of hor­ror. An essay on abjec­tion. New York.

Lind­gren, Astrid. 1945 [1986]. Pip­pi Lang­strumpf. Ham­burg.

Montesso­ri, Maria. 1967 [2010]. Kin­der sind anders. Stutt­gart.

Wil­de, Deni­se. 2015. Din­ge sam­meln: Annä­he­run­gen an eine Kul­tur­tech­nik. Bie­le­feld.

Bild­nach­weis

Bar­ret­te-Coll­ec­tion“ von Jim Gol­den, jim​gol​den​stu​dio​.com.

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Julia Boog

Julia Boog hat Ger­ma­nis­tik und Kunst­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Ham­burg stu­diert. Ihre Dok­tor­ar­beit wid­me­te sie dem Witz der Dif­fe­renz in der Migra­ti­ons­li­te­ra­tur u. a. von Feli­ci­tas Hop­pe und Yōko Tawa­da. Der­zeit lebt und arbei­tet sie in Wien. (Foto: Rebec­ca Hoppe)

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