Rebekka Habermas
Rebek­ka Habermas

Ende 2018 rie­fen Wissenschaftler*innen in der Wochen­zei­tung DIE ZEIT Muse­en und Öffent­lich­keit auf, den For­de­run­gen nach Rück­ga­be kolo­nia­ler Kul­tur­gü­ter nach­zu­kom­men. Den Appell ergänz­ten die His­to­ri­ke­rin­nen Rebek­ka Haber­mas und Ulri­ke Lind­ner mit einem aus­führ­li­chen Bei­trag über die Chan­cen einer Geschichts­schrei­bung in glo­ba­ler Perspektive.

Um zu erfah­ren, wie Kolo­ni­al- und Pro­ve­ni­enz­ge­schich­te neu zu den­ken sind, tra­fen wir Rebek­ka Haber­mas in Göt­tin­gen, wo sie Neue­re Geschich­te lehrt.

Ben­in­bron­ze der Edo. 16.–17. Jahr­hun­dert. Rei­ten­der Oba und sei­ne Gefolgs­leu­te. Metro­po­li­tan Muse­um of Art.

Die Ben­in­bron­zen sind zum Sym­bol kolo­nia­ler Raub­kunst gewor­den. Die meis­ten von ihnen wur­den in einer Straf- und Plün­de­rungs­ak­ti­on der Bri­ten im Jah­re 1897 geraubt. 200 sind im Besitz des Bri­tish Muse­um in Lon­don, die ande­ren sind über Euro­pa und Ame­ri­ka verstreut

AV: War­um dis­ku­tiert Euro­pa gera­de jetzt über die Rück­ga­be gestoh­le­ner Objek­te? Die Dis­kus­si­on hät­te ja schon vor Jah­ren geführt wer­den können.

RH: Es gibt vie­le Grün­de, sich mit den eth­no­gra­phi­schen Samm­lun­gen zu beschäf­ti­gen. Doch war­um jetzt? Mei­nes Erach­tens hat die Rück­ga­be­dis­kus­si­on seit der „Flücht­lings­kri­se“ an Fahrt auf­ge­nom­men, wenigs­tens hier­zu­lan­de. Viel­leicht ist die Debat­te eine Reak­ti­on auf ein Para­dox, das auch schon ande­re beob­ach­tet haben: Die Gegen­stän­de der Men­schen, die zu uns kom­men, wol­len wir behal­ten – die Men­schen selbst aber, die wol­len wir nicht.

Abge­se­hen davon gibt es schon lan­ge in vie­len euro­päi­schen Städ­ten post­ko­lo­nia­le Initia­ti­ven. Sie for­dern etwa die Umbe­nen­nung von Stra­ßen, die noch den Namen von Kolo­ni­al­her­ren oder Mis­sio­na­ren tra­gen. Bis nach Deutsch­land gewirkt haben auch die Pro­tes­te von Oxford und Cam­bridge in den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren. Stu­die­ren­de for­der­ten hier die Repa­tri­ie­rung von uni­ver­si­täts­ei­ge­nen Ben­in­bron­zen nach Nige­ria. Und auch in zahl­rei­chen Muse­en gibt es seit eini­gen Jah­ren Bemü­hun­gen, die eige­ne kolo­nia­le Ver­gan­gen­heit neu zu beleuch­ten. All das scheint lang­sam ins kol­lek­ti­ve Bewusst­sein zu sickern.

Postkoloniale Initiativen setzen sich für die Umbenennung oder Kenntlichmachung von Straßennamen ein. Im Bild: Lettow-Vorbeck-Str. in Bünde (Foto: Daniel Salmon)
Post­ko­lo­nia­le Initia­ti­ven set­zen sich für die Umbe­nen­nung oder Kennt­lich­ma­chung von Stra­ßen­na­men ein. Im Bild: Let­tow-Vor­beck-Str. in Bün­de (Foto: Dani­el Salmon)

Jeden­falls erfah­ren mei­ne Mitbürger*innen dank der Migra­ti­ons­be­we­gun­gen inten­si­ver als zuvor, was Glo­ba­li­sie­rung bedeu­tet. Und dun­kel begin­nen wir alle zu ahnen, dass wir weder der Nabel der Welt sind noch ein­sam auf einer Insel leben, son­dern Teil einer gro­ßen und ver­netz­ten Welt sind.

AV: Wel­che kol­lek­ti­ven Ima­gi­na­tio­nen ver­hin­dern, dass die­se Samm­lun­gen ein­fach zurück­ge­ge­ben werden?

RH: Ich den­ke, das liegt auch an einer lan­gen, aber in der Form genu­in euro­päi­schen Geschich­te des Sam­melns. Sam­meln beginnt im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts genau dann popu­lä­rer zu wer­den, als man anfängt, die her­auf­zie­hen­de Moder­ne auch als Bedro­hung zu emp­fin­den – sei es, dass man die Städ­te als sti­cken­de Kloa­ken wahr­nimmt, sei es, dass man fürch­tet, die Geschwin­dig­keit der Eisen­bahn wür­de zu unheil­ba­ren Krank­hei­ten führen.

Die schnel­len öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen weck­ten Ver­lust­ängs­te, ja Unter­gangs­ge­füh­le. Und die­se wie­der­um bil­de­ten den Nähr­bo­den für gera­de­zu gigan­ti­sche Ret­tungs­fan­ta­sien. Erst­mals stell­te man die Natur unter Schutz und ers­te Tier­schutz­ver­ei­ne ent­stan­den. Dann erfand man die Muse­en, um zu bewah­ren, was vom Unter­gang bedroht erschien. Das Hei­mat­kun­de­mu­se­um sicher­te jede Heu­ga­bel, das Natur­kun­de­mu­se­um spieß­te jeden Käfer auf. Und die Depots der eth­no­gra­fi­schen Muse­en quol­len von Kör­ben über.

James Barnard, Vizepräsident der <em> Royal Society of Tasmania</em>, eröffnete einen Konferenzbeitrag im Jahr 1890 mit den Worten: "It has become an axiom that, following the law of evolution and survival of the fittest, the inferior races of mankind must give place to the highest type of man". Gemeint waren die Aborigines, die mit dem "march of civilisation" nicht mithalten konnten (aus: McGregor 1993).
James Bar­nard, Vize­prä­si­dent der Roy­al Socie­ty of Tas­ma­nia, eröff­ne­te einen Kon­fe­renz­bei­trag im Jahr 1890 mit den Wor­ten: „It has beco­me an axi­om that, fol­lo­wing the law of evo­lu­ti­on and sur­vi­val of the fit­test, the infe­ri­or races of man­kind must give place to the hig­hest type of man“. Gemeint waren die Abori­gi­nes, die mit dem „march of civi­li­sa­ti­on“ nicht mit­hal­ten konn­ten (aus: McGre­gor 1993).

Gera­de für die Völ­ker­kun­de­mu­se­en spiel­te der angeb­lich dro­hen­de Unter­gang in Gestalt der doo­med races eine wich­ti­ge Rol­le. Außer­eu­ro­päi­sche Ras­sen sei­en, so die dama­li­ge Theo­rie, zum Aus­ster­ben ver­ur­teilt, da sie den Euro­pä­ern zivi­li­sa­to­risch unter­le­gen sei­en. Und des­halb hät­ten die Euro­pä­er die Pflicht, alle deren Kul­tur­gü­ter zu ret­ten. Zwar gab es ver­ein­zelt Ver­su­che, gan­ze Regio­nen unter Natur­schutz zu stel­len, doch letzt­lich sieg­te der Glau­be, doo­med races wären nicht zu ret­ten, wohl aber ihre Gegen­stän­de – für das Stu­di­um die­ser Völ­ker nach deren Untergang.

Die­se Ret­tungs­fan­ta­sie war natür­lich auch eine Form der Selbst­er­he­bung. Sie gehört seit­dem zum euro­päi­schen Selbst­ver­ständ­nis: Wir haben die Kul­tur, wir schüt­zen Kul­tur und wir ent­schei­den dar­über, wel­che Kul­tur zu bewah­ren ist und wel­che nicht.

AV: Offen­bar fällt es Euro­pa schwer dazuzulernen …

RH: Ja, und doch wird die­ses Selbst­ver­ständ­nis im Moment gera­de zur Dis­kus­si­on gestellt, was frei­lich auch als Gefahr wahr­ge­nom­men wird. Kommt da jemand und sagt, „Nicht geret­tet, geraubt habt ihr!“ wackelt plötz­lich die gan­ze Iden­ti­tät, die sich mit der Ret­tungs­fan­ta­sie über alles ermäch­tigt hat. Auf dem Spiel steht genau­so das damit ver­bun­de­ne Gefühl der Überlegenheit.

Schwer ver­dau­lich ist da bereits die Bot­schaft, dass die angeb­lich geret­te­ten Gegen­stän­de eigent­lich gestoh­len wor­den sind. Noch mehr zu bei­ßen gibt die Nach­richt, dass alle unse­re ver­meint­lich ein­zig­ar­ti­gen Leis­tun­gen – Fort­schritt, Zivi­li­sa­ti­on, Kul­tur, Wis­sen­schaft – nicht nur unser sin­gu­lä­res Ver­dienst sind. Sie fußen viel­mehr auf zuwei­len frei­wil­li­ger, meist aber unfrei­wil­li­ger Zusam­men­ar­beit wäh­rend der Kolo­ni­al­zeit, als euro­päi­sche For­schungs­rei­sen­de, Kolo­ni­al­be­am­te und Mis­sio­na­re zahl­rei­che Objek­te aus Afri­ka, Ozea­ni­en und Asi­en nach Euro­pa brach­ten: Man­ches waren Geschen­ke, das meis­te ent­stammt jedoch Plün­de­run­gen oder ande­ren For­men der unrecht­mä­ßi­gen Aneignung.

Und doch ver­dan­ken wir die­sen Begeg­nun­gen sehr viel von unse­rem Wis­sen, ja gan­ze Wis­sen­schaf­ten wie die Zoo­lo­gie, die Archäo­lo­gie und die Eth­no­lo­gie ent­stan­den hier erst. Das heißt umge­kehrt: Unse­re Ein­ma­lig­keit und unser Geni­us wer­den auf krän­ken­de Wei­se in Fra­ge gestellt.

AV: Der indi­sche His­to­ri­ker Dipesh Chakrab­ar­ty hat die­se Krän­kung mit dem Buch­ti­tel Pro­vin­cia­li­zing Euro­pe (2000) auf den Punkt gebracht. Euro­pa als Pro­vinz – der Titel macht auch deut­lich, dass die euro­päi­sche Geschich­te nur eine Geschich­te unter vie­len ist.

RH: Dem ist nur zuzu­stim­men – und das gilt natür­lich auch für die Schweiz, die sich immer noch als Insel in einer glo­ba­len Welt ver­steht. Obwohl die Schweiz kei­ne kolo­nia­le Groß­macht war, muss auch hier über die Pro­ve­ni­enz von Kul­tur­gü­tern dis­ku­tiert wer­den. Zumin­dest das Muse­um Riet­berg in Zürich stellt sich die­ser Dis­kus­si­on seit eini­gen Jahren.

AV: Eine aktu­el­le Aus­stel­lung zeigt gera­de ein paar exem­pla­ri­sche Objek­te, deren Her­kunft frag­wür­dig ist, dar­un­ter auch eine Gür­tel­mas­ke, die die­sel­be Pro­ve­ni­enz hat wie die Bron­zen aus dem Benin.

Ben­in­bron­ze der Edo. 16.–17. Jahr­hun­dert. Krie­ger und sei­ne Gefolgs­leu­te. Metro­po­li­tan Muse­um of Art.

RH: Das Muse­um Riet­berg hat sich schon ein­mal der Pro­ve­ni­enz­pro­ble­ma­tik ange­nom­men. Damals ging es noch um Raub­kunst wäh­rend des Nationalsozialismus

AV: Um noch­mals auf das euro­päi­sche Selbst­ver­ständ­nis zurück­zu­kom­men: Die Objek­te, die sich in unse­ren eth­no­lo­gi­schen Samm­lun­gen befin­den, wir­ken so, wie sie aus­ge­stellt sind, immer noch wie die mate­ria­li­sier­te Unter­schei­dung zwi­schen einem kul­ti­vier­ten „Wir“ und einem pri­mi­ti­ven „Sie“. Gäben wir die Expo­na­te zurück, wür­de es uns schwer­fal­len, uns noch zu distinguieren …

RH: Ja, mit die­sen Aus­stel­lun­gen arti­ku­lie­ren wir einen zen­tra­len Teil unse­res Selbst­ver­ständ­nis­ses: Wir sind eine Kul­tur, die aus­stellt – und damit unter­schei­den wir uns, so der Anspruch, erheb­lich von der­je­ni­gen Kul­tur, die aus­ge­stellt wird. So ver­wei­sen die­se Aus­stel­lun­gen auch auf das allem Anschein nach zumin­dest um 1900 noch unhin­ter­frag­te Recht, gan­ze Völ­ker zum Unter­su­chungs- und Aus­stel­lungs­ob­jekt zu machen. Damit wur­de ein Recht in Anspruch genom­men, dass ins­be­son­de­re vor dem Hin­ter­grund, dass vie­le die­ser „Unter­su­chungs­ob­jek­te“ schon bald vom Kolo­nia­lis­mus zer­stört wur­den, gera­de­zu zynisch anmutet.

Wir sind eine Kul­tur, die aus­stellt – und damit unter­schei­den wir uns, so der Anspruch, erheb­lich von der­je­ni­gen Kul­tur, die aus­ge­stellt wird.

AV: Das kolo­ni­al-roman­ti­sche Motiv von Unter­gang und Ret­tung – kommt die­ses nicht in einem Film wie Juras­sic Park (Spiel­berg 1992) heu­te noch per­fekt zur Gel­tung? Die Dinos sind zwar aus­ge­stor­ben, doch wir haben die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten, sie auf einer Muse­ums­in­sel auf­er­ste­hen zu las­sen und vor dem kom­plet­ten Ver­ges­sen zu bewah­ren. Ist das nicht Kolo­nia­lis­mus in ideo­lo­gi­scher Reinform?

Retten, was vom Untergang bedroht ist. Standbild aus Jurassic Park (Spielberg 1992).
Kolo­ni­al ret­ten, was vom Unter­gang bedroht ist. Stand­bild aus Juras­sic Park (Spiel­berg 1993).
Heumann, Ina et al. 2018. Dinosaurierfragmente. Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte, 1906-2018
Heu­mann, Ina et al. 2018. Dino­sau­ri­er­frag­men­te. Zur Geschich­te der Ten­da­gu­ru-Expe­di­ti­on und ihrer Objek­te, 1906–2018.

RH: Hier­zu gibt es ein wun­der­ba­res Buch. Es rekon­stru­iert, wie der gro­ße Dino, den man 1909 im kolo­nia­len Deutsch-Ost­afri­ka (heu­te Tan­sa­nia) ent­deck­te, ins Natur­kun­de­mu­se­um nach Ber­lin gekom­men ist. Die Auf­merk­sam­keit auf die­se Urtie­re ent­steht eben auch in die­ser Kri­se der Moder­ne und im Wett­streit der Nationen.

Und bei den Dinos geht es letzt­lich immer um die Fra­ge: Wer hat den größ­ten? Die Geschich­te der Gra­bung, der kolo­nia­le Kon­text, die Aus­stel­lung im Drit­ten Reich – all das ver­kün­det die Bot­schaft: Wir haben den Größ­ten, wir tun am meis­ten zur Bewah­rung der Ver­gan­gen­heit, wir sind die geschichts­träch­tigs­te Nation!

AV: Bei die­sen Urtie­ren besteht ja immer auch die Gefahr, zumin­dest in der kol­lek­ti­ven Phan­ta­sie, dass wir sie wie­der zum Leben erwe­cken und sie dann unse­re Zivi­li­sa­ti­on über­ren­nen. Kom­men wir noch­mals auf die eth­no­lo­gi­schen Samm­lun­gen und die „Flücht­lings­kri­se“ zu spre­chen: Sind die Men­schen, deren Objek­te wir in unse­ren Samm­lun­gen aus­stel­len, end­lich wie­der zum Leben erwacht und zu ihren Objek­ten zurückgekommen?

RH: Tat­säch­lich scheint da eine ver­gan­ge­ne Geschich­te wie­der leben­dig zu wer­den. Im ägyp­ti­schen Muse­um etwa füh­ren syri­sche Flücht­lin­ge die Besucher*innen durch die Aus­stel­lung. Da muss doch jeder Frau und jedem Mann klar wer­den, dass die­se so hübsch aus­ge­stell­ten, aber ein­sa­men Objek­te eigent­lich mit Per­so­nen liiert sind. Was haben wir nur dabei gedacht?

AV: Somit sind wir also erneut mit einem ver­trau­ten Motiv der Roman­tik kon­fron­tiert: Die toten Gegen­stän­de begin­nen wie­der zu leben …

RH: … und für vie­le ent­pup­pen sich die­se Gegen­stän­de gera­de heu­te als: zahl­rei­che und fremde.

AV: Sobald die Per­so­nen zu ihren Gegen­stän­den zurück­keh­ren, erhal­ten letz­te­re wie­der einen Kon­text: Ein Bast­korb zum Holz­sam­meln ist nicht mehr ein Zei­chen für eine angeb­lich pri­mi­ti­ve Kul­tur, son­dern ein ech­ter Gebrauchsgegenstand …

RH: … der damit sei­ne kolo­nia­le Aura ver­liert. Sehen Sie sich doch mal an, wie vie­le Kör­be in eth­no­lo­gi­schen Samm­lun­gen aus­ge­stellt, aus­ge­leuch­tet und beschrif­tet sind. Sel­ten fin­den Sie die Infor­ma­ti­on, wer die­se Bast­kör­be wie gebraucht hat und auch nicht, wer sie hier­her gebracht hat. Statt­des­sen erhal­ten wir eine ästhe­ti­sie­ren­de und dekon­tex­tua­li­sie­ren­de Aus­stel­lungs­form! Als Kind habe ich mich schreck­lich in die­sen Muse­en gelang­weilt, weil sie nur Din­ge ohne Geschich­te zeigen.

Als Kind habe ich mich schreck­lich in die­sen Muse­en gelang­weilt, weil sie nur Din­ge ohne Geschich­te zeigen.

AV: Zur Bio­gra­phie eines Objekts gehört aber nicht nur sein ehe­ma­li­ger Gebrauchs­kon­text. Man könn­te ja zusätz­lich eine Geschich­te dar­über erzäh­len, wel­che Rei­se so ein Objekt zurück­ge­legt hat, bis es in einem Muse­um landete.

RH: Ich habe ver­sucht, dies an den Ben­in­bron­zen durch­zu­spie­len. Nach­dem die Bri­ten die­se Ende des 19. Jahr­hun­derts geraubt hat­ten, wur­den sie auf Kunst­auk­tio­nen in der gan­zen Welt ver­stei­gert. Etli­che Muse­en brach­ten sich so in den Besitz die­ser Bron­ze­plat­ten aus dem 16. und 17. Jahr­hun­dert. Hier ent­fal­te­ten sie eine enor­me Wirkung.

Erst­mals mit ihnen kon­fron­tiert, kamen die Eth­no­lo­gie und die Kunst­ge­schich­te, die sich als wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­pli­nen just um die­se Zeit erst her­aus­bil­de­ten, schnell an ihre Gren­zen, stell­te sich doch die zeit­ge­nös­sisch gera­de­zu ket­ze­ri­sche Fra­ge, ob das Kunst sei und damit auch, ob die „Wil­den“ viel­leicht doch zu Kunst befä­higt sei­en. Carl Ein­stein, der Kunst­his­to­ri­ker, schrieb 1915 ein Buch über die Neger­plas­tik und for­der­te eine erwei­ter­te Zustän­dig­keit der Kunst­wis­sen­schaft. Offen­sicht­lich konn­te auch plötz­lich außer­halb Euro­pas Kunst ent­ste­hen. Man sieht: An der For­mie­rung der Kunst­ge­schich­te als Dis­zi­plin zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts waren die Bron­zen leb­haft beteiligt.

Ben­in­bron­ze der Edo. 16.–17. Jahr­hun­dert. Por­tu­gie­si­sche Kauf­leu­te. Metro­po­li­tan Muse­um of Art.

AV: Und dann?

Filmplakat von The Mask (1979). Die Hauptfigur Obi, gespielt von Eddie Ugbomah, versucht ins British Museum einzubrechen, um eine Maske aus dem Benin nach Nigeria zurückzubringen.
Film­pla­kat von The Mask (1979). Die Haupt­fi­gur Obi, gespielt von Eddie Ugbo­mah, ver­sucht ins Bri­tish Muse­um ein­zu­bre­chen, um eine Mas­ke aus dem Ben­in nach Nige­ria zurück­zu­brin­gen (Quel­le: The Cen­ten­ary Pro­ject, Goog­le Arts & Culture)

RH: Die Geschich­te lie­ße sich etwa im Nige­ria der 1960er-Jah­re fort­spin­nen. Hier spiel­ten die Bron­zen eine gro­ße Rol­le für die Iden­ti­täts­bil­dung des neu gegrün­de­ten Staa­tes. Obwohl das Ter­ri­to­ri­um von Nige­ria nur zu einem klei­nen Teil das ehe­ma­li­ge König­reich Ben­in umfasst, berief sich der neue Staat stark auf des­sen könig­li­che Ver­gan­gen­heit. Doch auch in der Gegen­wart leben die Bron­zen wei­ter. Mir sind zwei Fil­me aus Hol­ly­wood bekannt, in der die Plas­ti­ken eine zen­tra­le Rol­le spie­len: In dem einen bringt eine Art nige­ria­ni­scher James Bond auf gefähr­li­cher Mis­si­on die Mas­ken zurück in ihr Her­kunfts­land. Ihre Funk­ti­on im Film ist klar. Sie „empowern“ die anti­ko­lo­nia­le nige­ria­ni­sche Identität.

Ganz abge­se­hen davon ver­die­nen die Muse­en an den Bron­zen. Die Shops ver­kau­fen Nach­bil­dun­gen, Post­kar­ten und Minia­tu­ren auf Blei­stif­ten. Die Bron­zen sind gut gehen­de Mer­chan­di­sing-Pro­duk­te. Nur zu ver­ständ­lich sind da For­de­run­gen, wenigs­tens an die­sen Ver­diens­ten betei­ligt zu wer­den – ganz zu schwei­gen vom inter­na­tio­na­len Kunst­markt, auf dem die­se Bron­zen zu Mil­lio­nen­be­trä­gen gehan­delt werden.

AV: Es geht also um die Fou­lar­di­sie­rung des kolo­nia­len Erbes …

RH: Dazu kommt eine wei­te­re, eher indi­rek­te Kapi­ta­li­sie­rung: Kirch­ner, Pech­stein, Nol­de und ande­re Mit­glie­der der „Brü­cke“ besuch­ten um 1908 das Dresd­ner und das Ber­li­ner Völ­ker­kun­de­mu­se­um, mal­ten die Objek­te, dar­un­ter auch die Ben­in­bron­zen, ab und mach­ten sich die „pri­mi­ti­ve“ For­men­spra­che zu eigen. Die moder­ne Male­rei, der Expres­sio­nis­mus, der Dada­is­mus, spä­ter auch der Kubis­mus – sie alle müss­ten in der Geschich­te der Ben­in­bron­zen vor­kom­men. Auch da sind wir ver­floch­ten: Unse­re moder­ne Male­rei wür­de anders aus­se­hen, wenn nicht auch Picas­so von den Fang-Mas­ken so beein­druckt gewe­sen wäre.

AV: Noch eine Fra­ge zur Aus­stel­lungs­pra­xis. Grund­sätz­lich lie­ßen sich ja Objek­te auch ganz ande­res zei­gen – auch im Hin­blick dar­auf, dass sie nicht nur von irgend­wo herkom­men, son­dern auch irgend­wo ankom­men. Stich­wort: Adve­ni­enz statt Pro­ve­ni­enz. Das­sel­be gilt auch für die Men­schen, die zu uns kom­men. Sie sind ja nicht nur Flücht­lin­ge, son­dern auch Ankömm­lin­ge. Und als sol­che tref­fen sie hier auf Objek­te, die schon seit einem Jahr­hun­dert mit dem hie­si­gen Kul­tur­schaf­fen ver­floch­ten sind.

RH: In Aus­tra­li­en und Kana­da wer­den Aus­stel­lun­gen in Koope­ra­ti­on mit den Source Com­mu­ni­ties kon­zi­piert. Das führt gele­gent­lich zu inter­es­san­ten Situa­tio­nen, wenn die Com­mu­ni­ty-Ver­tre­ter plötz­lich sagen: „Das dür­fen Sie nicht aus­stel­len, weil es sei­ne Macht ver­liert, wenn es im Licht steht oder von Frau­en ange­se­hen wird.“ Dann stellt sich her­aus, dass die Objek­te gar nicht das sind, wofür wir sie hal­ten. Spä­tes­tens dann fällt einem auf, wie eigen­tüm­lich die Vor­stel­lung vom Muse­um als Auf­be­wah­rungs­ort ist. Wir haben ja auch Din­ge, die wir zwar ver­gra­ben, aber nicht wie­der aus­he­ben dür­fen – die Gebei­ne der Toten etwa.

Die Mis­sio­na­re zer­stör­ten die Objek­te, weil sie selbst an deren Macht glaubten.

Gera­de­zu para­dox ist der Umgang mit Objek­ten, denen man bestimm­te Kräf­te nach­sagt. Im Chris­ten­tum etwa schrei­ben wir Reli­qui­en auf­grund ihrer Pro­ve­ni­enz auch eine Wun­der­kraft zu. Die christ­li­chen Mis­sio­na­re hin­ge­gen zer­stör­ten vor Ort kul­ti­sche Gegen­stän­de, um deren Harm­lo­sig­keit zu demons­trie­ren. Zugleich haben sie die­se Objek­te im gro­ßen Stil nach Euro­pa gebracht und hier ver­kün­det: ‚Seht her, an die­sen Popanz glau­ben die Hei­den‘. Ob in Euro­pa oder in den kolo­ni­sier­ten Gebie­ten – die Mis­sio­na­re haben eine Form von Iko­no­klas­mus betrie­ben. Doch gera­de die Reli­qui­en geben den Hin­weis: Die Mis­sio­na­re zer­stör­ten die Objek­te, weil sie selbst an deren Macht glaubten.

AV: Vie­len Dank für das Gespräch.

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Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

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