Makan heisst auf arabisch Ort. Für dessen Direktor Ahmed El Maghraby ist es der Ort. „Ein magischer Ort“, sagen alle, die das kleine Kairoer Konzertlokal einmal betreten haben, und Ahmed sei dessen Seele. Ein Gedächtnis hat das Makan auch. Es befindet sich einem Büro im zweiten Stock des Lokals. Dort lagern 54 schwarze Festplatten mit 25 Terabyte Daten; 32 000 Audiodateien, 22 000 Videos. Monatlich werden es mehr.
25 Terabyte Daten; 32 000 Audiodateien, 22 000 Videos
Ahmed El Maghraby, Direktor (Bild: Susanna Petrin)
Diese Aufnahmen dokumentieren Musikerinnen und Musiker, Amateure wie Profis, beim Spielen traditioneller ägyptischer Musik. Folklore jeder Art: Bläser an Hochzeiten, Jammerweiber an Begräbnissen, Trommler an Pferdewettkämpfen. Sufi‑, Zigeuner- oder koptische Musik. Klänge von Instrumenten wie der Rabab, einer Art Laute; der Mizmar, einer Oboe, die ausschaut wie eine Kindertröte; oder, ein skurrileres Beispiel, eines Manjurs, eines Stoffgürtels an dem Dutzende Ziegenhufe hängen. Hüftschwünge lassen diese Hufe fröhlich gegeneinander klappern.
In Excel-Tabellen sind alle 54 000 Dateien der Reihe nach dokumentiert: Namen der Musiker, Instrument, Ort, Genre, Komponist. „Wir versuchen darüberhinaus so viel Informationen wie möglich aufzuschreiben, aber es ist im Grunde endlos“, sagt Ahmed. Unter all den Aufzeichnungen gebe es viele Variationen desselben, räumt er ein, „aber rund 10 000 darunter sind wirklich einzigartig“.
Auf den Videos sieht man oft zahnlose Männer in Gallabijas, dem langen ägyptischen Gewand. Ausdrucksstarke, gegerbte Gesichter singen heiser in von Fliegen umschwirrte Mikrofone. Viele dieser Künstlerinnen und Künstler leben bereits nicht mehr. Fast täglich erreicht Ahmed El Maghraby die Kunde des Todes von dieser Sängerin oder jenem Perkussionisten. Nachfolger sind selten. Die Jugend hört lieber Pop. „Unsere traditionelle Musik ist vom Aussterben bedroht“, sagt Ahmed, „täglich verliert sie an Vielfalt.“ Dank seinen Aufnahmen soll sie wenigstens nicht ganz in Vergessenheit geraten. Das Musikarchiv ist auf Anfrage jedem zugänglich.
Nicht nur in Ägypten; weltweit ist ein großes Musiksterben im Gang.
In den ägyptischen Dörfern geht leise eine Musiktradition mit ihren letzten Spielern unter. Nicht nur in Ägypten; weltweit ist ein großes Musiksterben im Gang. Eine Unesco-Studie beschäftigt sich mit den Ursachen. Zuoberst steht die Globalisierung: Die ziemlich homogene, westliche Popmusik, angetrieben von einem enormen Marketingbudget, droht regionale Eigenheiten zu verdrängen. Zweite Ursache: Landflucht. Drittens: Regierungen, die eine uniforme kulturelle Identität anstreben. Viertens: Religiöser Fundamentalismus. In Ägypten sind all diese Kräfte gemeinsam am Werk, weshalb hier traditionelle Musik besonders bedroht ist.
Im Makan ist sie allen Widerständen zum Trotz noch lebendig. Denn hier wird sie nicht nur auf Festplatten gehortet, sondern auch live vor Publikum gespielt. Mehrere Abende pro Woche finden Konzerte statt. Ahmed liebt es, Musiker zu unwahrscheinlichen Konstellationen zusammenzuführen: Norwegische Nomaden spielen im Makan mit arabischen Beduinen, Flamenco- trifft auf Zigeunermusik.
Einige hat Ahmed zu Bands zusammengestellt. Sein wohl größter Erfolg als Bandmanager ist „Mazaher“. 20 Musikerinnen und Musiker, die ein altes afrikanisches Ritual zelebrieren: Zar. Diese 20 seien gar die letzten Zarspieler Ägyptens, behauptet Ahmed. Jeden Mittwochabend treten 13 von ihnen im Makan auf, stets gemeinsam mit der Leadsängerin und Ritualmeisterin Umm Sameh, Kairos charismatischer Königin des Zars.
Immer wieder spielen sie dieselben Lieder. Und trotzdem – oder vielleicht deshalb – ist das Makan jeden Mittwoch gestoßen voll. Für viele ist das alte Ritual zu ihrem neuen Ritual geworden. Die Leute fangen bereits eine Stunde vor Konzertbeginn an Schlange zu stehen. Und das in einem Land, wo die Leute sonst immer zu spät kommen. Für eine Kunstform, von der man glaubte, sie werde geächtet und gefürchtet.
Umm Sameh im Makan
(Bild: Susanna Petrin)
Am Anfang war ein göttlicher Funke. „Ya Rab!“, sandte Ahmed ein Stoßgebet gen oben, während er die Treppen seines Wohnhauses hinabstieg. “Ya Rab, oh Gott, finde mir einen Ort!“ Unten angekommen, bog Ahmed nicht wie geplant rechts ab, um zur Uni zu gehen, wo er als Italienischprofessor arbeitete. „Etwas in mir sagte: Biege links ab.“
Ahmed El Maghraby ist in der Saad Zaghloul-Straße in Kairo geboren. Er ist hier aufgewachsen, hat hier geheiratet, hat fast immer hier gelebt. Aber meistens ist er rechts abgebogen, in die belebte Seite zur Hauptstraße Richtung Zentrum. Links standen seit jeher vier verlassene Gebäude gegenüber eines Mausoleums. An diesem Wintermorgen im Jahr 2004 blieb er vor dem letzten dieser Geisterhäuser stehen und fragte sich zum ersten Mal: „Wem gehört das eigentlich?“ Er wandte sich an einen Falafel-Verkäufer.
Das Eckhaus gehörte zu Beginn des letzten Jahrhunderts Abdel-Qader Hamza Pasha, ein Oppositioneller, Schriftsteller und Herausgeber diverser Magazine. Unten ratterte die Druckerpresse, oben klackten die Schreibmaschinen. 1946 starb Pasha, seit 1956 standen die Häuser leer. Ahmed machte einen Enkel ausfindig. Ob er dieses Haus haben könne? Es gebe da ein Problem, sagte jener: „Wir sind inzwischen eine Erbengemeinschaft von 128 Personen. Wie sollen wir uns da je auf etwas einigen? Aber schreiben Sie doch mal einen Antrag!“ Ohne jede Hoffnung setzte Ahmed el Maghraby einen Brief auf.
Das Makan von außen (Bild: Susanna Petrin)
Ahmed hatte sich seit seinen Studententagen für ägyptische Folklore interessiert. Er wurde Lehrer und Übersetzer. Erst als Freunde aus Frankreich ihn darauf aufmerksam machten, auf welchen Schatz er da eigentlich zugreifen könne, begann er seine Passion ernst zu nehmen. Die Regierung berief ihn zum Leiter eines mamlukischen Palastes in der Altstadt, dort sollte er Musiker auftreten lassen. „Es war der grösste Misserfolg meines Lebens“, erzählt Ahmed, „ich brachte nicht eine einzige Probe auf die Reihe“. Er wurde zerrieben von Korruption, Mittelmaß und Bürokratie, nicht willens, einer dieser Kräfte nachzugeben. Er kündigte und begann, auf eigene Faust Musik zu produzieren. Er gab die weltweit erste CD mit koptischer Musik heraus. Und sein „Mozart in Egypt“, Mozart interpretiert von ägyptischen Musikern mit ihren traditionellen Instrumenten, verkaufte sich 700 000 Mal. Er wurde Kulturattaché der ägyptischen Botschaft in Paris, lud Künstler aller Sparten ein, organisierte 300 Veranstaltungen jährlich – „mehr als alle anderen Botschaften zusammen“.
Manchmal durfte er Frauen weder filmen, noch ihre Stimmen aufnehmen.
Zurück in Ägypten begann er mit dem Sammeln von Folkloremusik. Dorf um Dorf suchte Ahmed El Maghraby auf der Suche nach Authentischem auf. „Je ländlicher und je ärmer“, sagt er, desto eher sei er fündig geworden. „Wo die Musik noch nicht verschmutzt ist von der Globalisierung, den Medien und all dem.“ Von Hinweis zu Hinweis ging die Reise. „Wenn man einmal einen Faden in der Hand hält, dann kann man sich entlang diesem weiter hangeln.“ Manchmal sei er ganze Tage herumgeirrt, nur um am Zielort gesagt zu bekommen: „Oh nein, der ist vor zwei Monaten gestorben.“ Manchmal durfte er Frauen weder filmen, noch ihre Stimmen aufnehmen. Etwa in der Oase Siwa, wo er einen zunehmenden Fundamentalismus saudi-arabischer Prägung beobachtet. Doch immer wieder stieß er auf Perlen. Es wuchs der Wunsch, sie einer grösseren Öffentlichkeit präsentieren zu können. Er wollte selber Bands formieren. Er wünschte sich ein eigenes Konzertlokal.
Eine Woche nach dem Abschicken seines Antrags, rief ihn einer der Erben an: Ein Mietvertrag für das Haus stehe zur Unterschrift bereit. „Es war, als ob Gott sagte: Du suchst einen Ort, da hast du einen. Also habe ich ihn Ort genannt“, sagt Ahmed. Die Erben fragten ihn: „Das Haus ist seit Jahrzehnten verriegelt. Wie ist es möglich, dass sie es anschauen konnten?“ Er antwortete: „Ich habe es nie von Innen gesehen.“ Er vertraute und unterschrieb.
Am nächsten Tag betrat er den Ort mit Hilfe einer Bohrmaschine, statt eines Schlüssels. Der Ort aber war wüst und leer. Kein Strom, kein Wasser, keine Toilette. Von der hohen Decke hangelten sich Spinnen bis zum Erdboden hinunter, den Marderleichen bedeckten. „Der Ort war ein Albtraum“, sagt Ahmed. Meter um Meter renovierte er ihn eigenhändig. Er baute eine zweite Mauer gegen die lärmige Strasse hin. Konstruierte einen Schwebeboden für eine gute Akustik. Verlegte Leitungen, strich Wände, montierte Lichter und Mikrofone. Er beließ dem Raum aber seinen alten, rohen Charakter.
„Spielt eure Musik! Nicht die Musik, von der ihr euch vorstellt, jemand anderes wolle sie hören.“
Im Büro serviert Ahmed Doum-Tee, eine schon von den Pharaonen geschätzte Palmenfrucht. „Die Ägypter ziehen heute Coca-Cola vor“, sagt er. Alles aus dem Westen gelte als modern, die eigene Kultur dagegen als rückständig. Das betreffe nicht nur die Musik, sondern auch die Kleidung, die Speisen, die Architektur. Orchester spielten klassische westliche Musik, in Hotels sei das Tragen von Gallabijas verboten, Downtown wurde nach dem Vorbild von Paris erbaut und die ursprünglichen Kochrezepte gingen vergessen. Eine Tendenz, die schon im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss von Pascha Mohammed Ali angefangen habe. Will der Nahe Osten sich nicht vom Westen abgrenzen? „Die Situation ist schizophren“, antwortet Ahmed. Als die traditionellen Musiker zum ersten Mal vor „blonden Menschen“ auftraten, hätten sie plötzlich anders gespielt, um zu gefallen. Ahmed musste ihnen immer wieder sagen: „Seid euch selber! Spielt eure Musik! Nicht die Musik, von der ihr euch vorstellt, jemand anderes wolle sie hören.“
Ahmed el Maghraby hat etwas von einem Asketen. Er ist mager, hat die verbliebenen grauen Haare zurückgelegt. Ernst, freundlich, würdevoll. Einer, der streng mit sich ist, bescheiden lebt, viel arbeitet. Er ist ein höflicher Mensch, fast scheu. Im Gespräch wippt sein linker Fuss: „Wir sind gefangen in einer Art zu denken, wir glauben, Kultur auf eine bestimmte Art präsentieren zu müssen. Im Namen des guten Images Ägyptens.“ Eine Konzertbesucherin habe ihn einmal gefragt, warum die Musiker im Makan nicht uniformiert seien. „Wir brauchen mehr Diversität, Menschen müssen unterschiedlich sein können“, sagt Ahmed. „Und um etwas zu erneuern, muss man zuerst das Alte verstehen.“
Im Zar gehe es um die Versöhnung mit Geistern und sich selber.
Beim Wort „Zar“ zucken die meisten Ägypter zusammen. Im ägyptischen Film und Fernsehen wird dieses Ritual dunkel als Hexerei, als Exorzismus dargestellt. Dabei gehe es im Zar vielmehr um die Versöhnung mit Geistern und mit sich selber, sagt Ahmed. Seine Rhythmen sollen eine heilende Wirkung haben. Früher hat Umm Sameh Zar nur im Privaten praktiziert. Jetzt tritt sie regelmäßig im Makan auf. Nicht nur in der traditionellen Konstellation mit Mazaher, sondern auch in der modernen Band „Taksir Sharqi“, von Ahmed 2017 zusammengestellt. Da trifft eine elektrische Gitarre auf eine Oud, ein Saxophon auf eine Arghulflöte, junge auf alte Musiker. Ihr Oud-Spieler Ahmed Omran erzählt: „Manchmal verbringen wir Stunden nur damit, das Musikarchiv zu durchstöbern, alte Aufnahmen anzuhören und deren Struktur zu analysieren. Nicht um das Alte zu kopieren, sondern um uns davon inspirieren zu lassen.“
Es ist wieder einmal Mittwochabend. Vor dem Makan plaudern und rauchen die Musiker. Einer wärmt die Perkussionsinstrumente über einem glühenden Eisen auf. Für einen guten Klang müsse die Feuchtigkeit aus dem Ziegenleder raus. Drinnen wartet das Publikum. Darunter hat es auffallend viele junge Ägypterinnen. Zu Makans Anfängen sei das anders gewesen, sagt Ahmed. „70 Prozent der Besucher waren zu Beginn Ausländer, 30 Prozent Einheimische. Heute ist es umgekehrt.“ Viele Ägypter beginnen offenbar doch wieder, sich für ihre eigene musikalische Kultur zu interessieren. So kann das Makan sich aus den Einnahmen der günstigen Tickets sowie mit Hilfe eines Sponsors knapp finanzieren.
Umm Sameh vor Publikum (Bild: Susanna Petrin)
Letzen Sommer läutete in Nidwalden Martin Hess’ Telefon. „Ich habe in Ägypten deinen Bruder gefunden“, sagte ihm Pro-Helvetia-Direktor Philippe Bischof. Gemeint war Ahmed El Maghraby. Auch Martin Hess ist seit Jahren auf der Suche nach authentischer Volksmusik. Auch er hält wenig von Pseudofolklore für Touristen. Er suche die richtige Haltung: „Leute, die Musik ohne Absicht machen.“ Hess hat solche Menschen im Bhutan wie im Muotathal gefunden; dort Mönche mit ihren uralten Gesängen, da Naturjodler mit dem „eigenständigsten“ Juuz. Seit 2006 holt Martin Hess solche Entdeckungen an sein Volkskulturfest Obwald.
Im Herbst reiste Martin Hess nach Kairo und traf Ahmed. „In fünf Minuten haben wir gewusst, dass wir tatsächlich Brüder sind.“ Innert zehn Minuten war eigentlich bereits klar, dass Musiker des Makans die Hauptgäste des nächsten Volkskulturfestes sein würden. Er sähe einige Parallelen zwischen traditioneller ägyptischer und Appenzeller Musik, erzählt Martin Hess. Das Kanun, eine Kastenzither, sei eine Verwandte des Hackbretts. Zar kombinierbar mit Jodel. Nächsten Juli werden Zar-Spieler mit Appenzeller Musikern auf einer Bühne in Obwald stehen, wird Umm Sameh auf einen Naturjodler treffen. Eine ganz neue Musikform wird geboren.
Quellen
Hager el Hadidi. 2016. Zar. Spirit Possession, Music, and Healing Rituals in Egypt. Kairo: AUC Press.
International Music Council. 2006. The Protection and Promotion of Musical Diversity. Bericht zuhanden der UNESCO.
Bildnachweis
„Case of Bass Collection“ von Jim Golden, jimgoldenstudio.com.
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Susanna Petrin
Susanna Petrin lebt und arbeitet als Journalistin in New York. Ihre allerersten Texte – von denen sie hofft, sie mögen für immer verschollen bleiben – schrieb sie mit 14 für die einstige Jugendzeitschrift Magic. Seither hat sie unter anderem ein Studium der Germanistik, Anglistik und Publizistik in Basel und Zürich abgeschlossen, als Redaktorin für diverse Zeitungen gearbeitet und Einsitz in die Jury des Schweizer Buchpreises genommen.
Dieses Unterfangen oder vielmehr, diese Mission, traditionelle Musik vor dem völligen Vergessen zu bewahren, erinnert mich sehr an eine andere, ebenfalls prekäre Situation unserer Zeit: das Sprachensterben. Wieviele haben wir aktuell noch, ca. 6500? Und die Hälfte davon wird auch bald nicht mehr existieren, so die Prognosen. Auch Musik ist Sprache, man sagt doch oft, sie sei quasi universal. Setzen wir die Errungenschaften unserer modernen Gesellschaft, wie eben die Digitalisierung ein, um wenigstens Spuren für unsere Nachwelt zu bewahren – das ist ein absolut erstrebenswertes Ziel. Und die hier im Artikel geschilderte Kombination aus dem Anlegen einer digitalen Sammlung von traditioneller Musik für die Zukunft und gelebter traditioneller Musik auf der Bühne des „Makan“ für das Jetzt finde ich höchst unterstützenswert. Der Text regt an, ihn selbst einmal zu besuchen, diesen fast magischen „Ort“.