Das Sam­meln, um das es hier geht, ist kein unschul­di­ges. Es gehorcht nicht der Lei­den­schaft eines Pri­vat­samm­lers, der sei­ne Fund­stü­cke abends zufrie­den in die Schmet­ter­lings- oder Bier­de­ckel­kol­lek­ti­on ein­fügt. Statt­des­sen folgt es dem Wil­len, das Schick­sal gan­zer Bevöl­ke­run­gen mit Hil­fe gro­ßer Zah­len zu len­ken. Es ist ein Kind des 19. Jahr­hun­derts – eine Fol­ge des Glau­bens an die Sta­tis­tik und an die Pla­nung. Und es bestimmt noch immer unse­re Gegenwart.

Die Ent­fes­se­lung des rech­nen­den Geistes

Gegen Ende des 18. Jahr­hun­derts began­nen die euro­päi­schen Staa­ten, sich im Medi­um der Zahl zu begrei­fen. Ein greif­ba­res Bild der Rea­li­tät ver­mit­tel­ten nun nicht mehr Gott oder König, son­dern die nume­ri­sche Erfas­sung der Bür­ger, der Gebur­ten, der Todes­fäl­le und Ehe­schlie­ßun­gen. Moder­nes Regie­ren war zu einem Pro­jekt der Daten­samm­lung gewor­den. Mit­te des 19. Jahr­hun­derts gab es nahe­zu kei­nen Lebens­be­reich mehr, der nicht von der Sta­tis­tik erfasst wur­de. Wie Lum­pen­samm­ler schwärm­ten die Empi­ri­ker aus, um dis­pa­ra­te Din­ge und Bezie­hun­gen in bere­chen­ba­re Ein­hei­ten zu über­füh­ren und die­se in den staat­li­chen Ver­wal­tun­gen anzu­häu­fen. Sie ver­wan­del­ten den all­täg­li­chen Unrat in kost­ba­re Informationen.

Wie Lum­pen­samm­ler schwärm­ten die Empi­ri­ker aus …

Die neu­zeit­li­chen Sta­tis­ti­ker ver­fuh­ren wie einst Jäger und Samm­ler, die Vor­rä­te für die unsi­che­re Zukunft anleg­ten. Ihre Art der Vor­sor­ge bestand im Zusam­men­tra­gen von sozia­len Tat­sa­chen, auf deren Grund­la­ge sich gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung vor­her­sa­gen und pla­nen ließ. Neben demo­gra­phi­schen Anga­ben wur­de aber auch Inti­mes wie Absei­ti­ges in Zah­len­samm­lun­gen orga­ni­siert. Unzu­stell­ba­re Brie­fe, die Vor­lie­ben der fei­nen Leu­te, die psy­chi­sche Ver­fas­sung von Fin­del­kin­dern, die Stim­mungs­la­ge der arbei­ten­den Klas­se – alles wur­de in end­lo­sen Regis­tra­tu­ren zu quan­ti­fi­zier­ba­rer Aktensubstanz.

Die Geburt der Bevölkerung

Die Lei­den­schaft für Quan­ti­fi­zie­rung ließ neue Dis­zi­pli­nen wie die „Poli­ce­y­wis­sen­schaft“, die Buch­hal­tungs­leh­re und die Poli­ti­sche Arith­me­tik ent­ste­hen. Post­äm­ter und Zoll­ver­ei­ne erho­ben genau­so Daten über Men­schen und deren Bewe­gun­gen wie Ver­si­che­run­gen und Schu­len. Als Daten­la­wi­nen wie Natur­ge­wal­ten her­ein­bra­chen, zen­tra­li­sier­ten und bän­dig­ten die jun­gen Natio­nal­staa­ten die Infor­ma­tio­nen in sta­tis­ti­schen Ämtern. Mit ihnen erwuchs der Gesell­schaft ein neu­es Organ: ein Sen­so­ri­um der Fer­ne. Die Ämter waren, wie der sta­tis­tik­be­geis­ter­te Sozio­lo­ge Gabri­el Tar­de 1890 bemerk­te, zu „sozia­len Augen und Ohren“ mutiert, die wei­ter als jeder Mensch zu sehen und zu hören ver­moch­ten. Sie konn­ten belie­bi­ge Kom­ple­xi­tä­ten auf Zah­len­ta­bel­len redu­zie­ren und ver­tra­ten den Anspruch, so das maß­lo­se Cha­os und Gewim­mel der Rea­li­tät über­schau­bar zu machen.

Auch die Vereinigten Staaten zählten ab 1790 ihre Bürger*innen. Bei der siebten Volkszählung hatte das Familienoberhaupt auch Auskunft über seine Nachfahren zu geben (Bild: Edmonds, Francis William. 1854. Taking the Census. Metropolitan Museum of Art).
Auch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zähl­ten ab 1790 ihre Bürger*innen. Bei der sieb­ten Volks­zäh­lung hat­te das Fami­li­en­ober­haupt auch Aus­kunft über sei­ne Nach­fah­ren zu geben (Bild: Edmonds, Fran­cis Wil­liam. 1854. Taking the Cen­sus. Metro­po­li­tan Muse­um of Art).

Die stil­le Revo­lu­ti­on der Sta­tis­tik erschuf einen Gegen­stand, den es zuvor nicht gege­ben hat­te: die Bevöl­ke­rung. Mit ihr ist weder ein Volk gemeint, das sich auf eine gemein­sa­me Ver­gan­gen­heit bezieht, noch ein Ver­ein, der die Inter­es­sen sei­ner Mit­glie­der bün­delt. Die Bevöl­ke­rung ist ein Pro­dukt des Mes­sens und Klas­si­fi­zie­rens: In ihrer Exis­tenz ist sie von der aktu­el­len Daten­la­ge abhän­gig. Die staat­li­chen Regie­run­gen ori­en­tier­ten sich nicht mehr an Moral und uni­ver­sa­len Wer­ten, son­dern an die­sem neu­en sta­tis­ti­schen Kör­per. Es ging ihnen fort­an dar­um, „das Geschick der Bevöl­ke­rung zu ver­bes­sern, ihre Reich­tü­mer, ihre Lebens­dau­er, ihre Gesund­heit zu meh­ren“ – wie Michel Fou­cault es auf den Punkt brach­te (Fou­cault 2004: 157).

Die stil­le Revo­lu­ti­on der Sta­tis­tik erschuf einen Gegen­stand, den es zuvor nicht gege­ben hat­te: die Bevölkerung.

Doch mit der Bevöl­ke­rung ent­stand auch etwas ande­res: Ein neu­er Sinn für Nor­ma­li­tät erober­te das Den­ken. Der Durch­schnitts­mensch nahm sei­nen Platz mit­ten in der Gesell­schaft ein und for­der­te sei­ne Mit­men­schen auf, ihr Leben nach sei­nem Maß­stab neu aus­zu­rich­ten. Der bel­gi­sche Astro­nom und Mathe­ma­ti­ker Lam­bert Adol­phe Jac­ques Que­te­let wirk­te – unheil­bar mit dem Fie­ber der Sta­tis­tik infi­ziert – als eif­ri­ger Geburts­hel­fer die­ses Umbruchs.

Sozia­le Physik

Adolphe Quetelet (1796-1874). Radierung nach der Statue von Charles Fraikin. Das Standbild steht heute vor der Königlichen Akademie der französischen Sprache und Literatur, Brüssel.
Adol­phe Que­te­let (1796–1874). Radie­rung nach der Sta­tue von Charles Frai­kin. Das Stand­bild steht noch heu­te vor der König­li­chen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und Schö­nen Küns­te von Belgien.

Als einer der aktivs­ten For­scher sei­ner Zeit för­dert er Mit­te des 19. Jahr­hun­derts den wis­sen­schaft­li­chen Aus­tausch in Euro­pa. Karl Marx und Charles Dar­win dis­ku­tie­ren sei­ne Schrif­ten – wenn auch nicht immer zustim­mend. Im Unter­schied zu die­sen taucht Que­te­lets Name heu­te aller­dings nur noch in den Rand­spal­ten der Wis­sen­schafts­ge­schich­te auf. Dabei prägt er unse­re Vor­stel­lun­gen von Nor­ma­li­tät, vom Durch­schnitts­men­schen und vom Ide­al­ge­wicht bis heute.

Neben sei­ner Tätig­keit als Pro­fes­sor der Astro­no­mie und Mathe­ma­tik ist Que­te­let maß­geb­lich am Auf­bau der könig­li­chen Stern­war­te in Brüs­sel betei­ligt. Als Staats­die­ner arbei­tet er zugleich an diver­sen sta­tis­ti­schen Fra­gen. Sei­ne unter­schied­li­chen Inter­es­sen ver­folgt er mit ein und dem­sel­ben Ver­fah­ren, der­sel­ben über­grei­fen­den Metho­de: Jeder Erkennt­nis­su­che stellt der Mathe­ma­ti­ker das Sam­meln quan­ti­fi­zier­ba­rer Erfah­rungs­wer­te vor­an. Den Din­gen kommt man ihm zufol­ge nicht durch Logik oder Intui­ti­on auf die Spur, son­dern durch das unab­läs­si­ge und akri­bi­sche Anhäu­fen von Infor­ma­tio­nen. Que­te­let ver­schiebt also den Fokus dar­auf, was vor dem wis­sen­schaft­li­chen Räso­nie­ren steht: Mas­se, Mate­ri­al und Methode.

Die alte Königliche Sternwarte von Belgien, von Quetelet 1828 begründet. 1890 zog die Gesellschaft in einen Neubau.
Die alte König­li­che Stern­war­te von Bel­gi­en, von Que­te­let 1828 begrün­det. 1890 zog die Gesell­schaft in einen Neubau.

Als Sta­tis­ti­ker, der auf ein umfas­sen­des Kon­vo­lut an Geburts- und Ster­be­lis­ten, Urkun­den und Akten zugrei­fen kön­nen muss, um Aus­sa­gen über die Gesell­schaft zu machen, ist Que­te­let auf inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit ange­wie­sen. Sta­tis­ti­sche „Bure­aus“, Schu­len, Kran­ken- und Wai­sen­häu­ser, Mili­tär­aka­de­mien, aber auch Gefäng­nis­se gewäh­ren ihm Ein­bli­cke in ihre Erhe­bungs­ap­pa­ra­te. Jede der Schrif­ten Que­te­lets erzählt so auch vom anspruchs­vol­len „net­wor­king“, das sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Arbeit vor­aus­geht. Der ide­al­ty­pi­sche Wis­sen­schaft­ler im Quetelet’schen Sin­ne ist ein Samm­ler, ein Ver­wal­ter und ein Mon­teur von Daten.

Der ide­al­ty­pi­sche Wis­sen­schaft­ler im Quetelet’schen Sin­ne ist ein Samm­ler, ein Ver­wal­ter und ein Mon­teur von Daten.

Wie die zeit­lich par­al­le­len Samm­lungs­be­stre­bun­gen in der Anthro­po­lo­gie, Patho­lo­gie oder Phy­sio­lo­gie ging es auch Que­te­let um die Ver­mes­sung des Men­schen. Dar­un­ter woll­te er aber gera­de nicht das indi­vi­du­el­le und ein­zig­ar­ti­ge Sub­jekt ver­stan­den wis­sen, son­dern den Men­schen in sei­ner mas­sen­haf­ten Asso­zia­ti­on. Die wah­ren Bestim­mungs­grün­de der mensch­li­chen Exis­tenz lagen für den Sta­tis­ti­ker in den Geset­zen des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hangs. Sein Haupt­werk Über den Men­schen und die Ent­wick­lung sei­ner Fähig­kei­ten (franz. 1835, dt. 1838) ist eine rie­si­ge Ansamm­lung ver­füg­ba­rer sta­tis­ti­scher Erfas­sun­gen des Men­schen. Was Que­te­let auf der Grund­la­ge die­ser Mess­wer­te zu kör­per­li­chen, geis­ti­gen und mora­li­schen Fähig­kei­ten des Men­schen ent­schlüs­sel­te, ist die für sei­ne Zeit unge­heu­re Erkennt­nis, dass die Gesell­schaft fes­ten Regel­mä­ßig­kei­ten unter­wor­fen ist, wie die Geset­ze der Natur.

"Es scheint fast, dass die Tageszeiten einen Einfluss auf den Selbstmord durch Erhängen haben" (Quetelet 1835: 156-157).
„Es scheint fast, dass die Tages­zei­ten einen Ein­fluss auf den Selbst­mord durch Erhän­gen haben“ (Que­te­let 1835: 156–157).

Der Mensch ent­puppt sich unter Que­te­lets metho­di­schem Zugriff als Sam­mel­su­ri­um bere­chen­ba­rer Gesetz­mä­ßig­kei­ten, ohne sou­ve­rä­nes Bewusst­sein. Sei­ne vor Zah­len und Tabel­len über­quel­len­den Schrif­ten wol­len den Beweis antre­ten, dass nichts der indi­vi­du­el­len Ent­schei­dungs­fä­hig­keit über­las­sen ist: weder Mord noch Ehe­bruch, weder Sui­zid noch Duell. Gegen die ver­meint­li­che Wil­lens­frei­heit spre­chen die immer glei­chen Verteilungshäufigkeiten:

Die Gesell­schaft birgt in sich die Kei­me aller Ver­bre­chen, die began­gen wer­den sol­len, zugleich mit den zu ihrer Voll­füh­rung not­hwen­di­gen Gele­gen­hei­ten. Sie ist es gewis­ser­mas­sen, die die­se Ver­bre­chen vor­be­rei­tet, und der Schul­di­ge nichts als das Werk­zeug, das sie voll­führt“ (Que­te­let 1838: 7).

Die Gesell­schaft lässt mensch­li­che Hand­lun­gen zu den­sel­ben Zei­ten, an den­sel­ben Orten, unter den­sel­ben Umstän­den immer und immer wie­der sich ereig­nen. Qua­si hin­ter dem Rücken der Men­schen voll­zieht sich Gesell­schaft also wie Natur – nach eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Que­te­let bezeich­ne­te sein For­schungs­pro­gramm denn auch als Sozia­le Phy­sik.

Was ist „die Bevöl­ke­rung“? In Que­te­lets Schrif­ten ist sie ein Pro­dukt gesam­mel­ter Daten, aller­dings nicht im Sin­ne eines star­ren Setz­kas­tens, in dem Zah­len­din­ge in Reih und Glied ange­ord­net sind. Viel­mehr ist sie eine fle­xi­ble Kon­struk­ti­on, die dyna­misch auf Ver­än­de­run­gen der sozia­len Wirk­lich­keit reagiert. Sie ist ein Modell, das unsicht­ba­re Struk­tur­ge­set­ze sicht­bar macht. Des­halb war Que­te­let so nach­hal­tig von der Sta­tis­tik fas­zi­niert: Für ihn ist sie kei­ne tote Zah­len­mas­se, son­dern ein pul­sie­ren­des Akten­ge­flecht, das die Aus­ma­ße mensch­li­cher Bezie­hun­gen und Bewe­gun­gen zeigt und als augen­fäl­li­ger Beweis einer Bevöl­ke­rung dient, die nach ihren eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten orga­ni­siert ist.

Der Durch­schnitts­mensch

Einen blei­ben­den Platz in der Wis­sen­schafts­ge­schich­te ver­schaff­te sich Que­te­let mit der Kon­struk­ti­on einer Figur, die glei­cher­ma­ßen mathe­ma­ti­sches Theo­rem wie Kol­lek­tiv­me­ta­pher der moder­nen Mensch­heit ist: der hom­me moy­en, der alle sta­tis­ti­schen Mit­tel­wer­te einer spe­zi­fi­schen Popu­la­ti­on bün­delt und des­halb als gesell­schaft­li­che Leit­grö­ße die­nen kann:

Der Mensch, wie ich ihn hier betrach­te, ist in der Gesell­schaft das­sel­be, was der Schwer­punkt in den Kör­pern ist; er ist das Mit­tel, um das die Ele­men­te der Gesell­schaft oszil­li­ren; er ist, wenn man so will, ein fin­gir­tes Wesen, bei dem alle Vor­gän­ge den in Bezie­hung auf die Gesell­schaft resul­ti­ren­den mitt­le­ren Ergeb­nis­sen ent­spre­chen wer­den. Wenn man die Grund­la­gen einer Phy­sik der mensch­li­chen Gesell­schaft eini­ger­mas­sen fest­stel­len will, so muss man den Men­schen von die­sem Gesichts­punk­te auf­fas­sen, ohne sich mit den beson­de­ren Fäl­len … auf­zu­hal­ten“ (Que­te­let 1838: 15).

Durch­schnitts­wer­te stel­len für Que­te­let den Inbe­griff sta­tis­ti­scher Schön­heit dar, denn sie glei­chen die stö­ren­de Streu­ung von Abwei­chun­gen aus. Nor­ma­li­tät wird damit zu einer erstre­bens­wer­ten Grö­ße. Mit sei­ner Idee des hom­me moy­en beein­flusst der bel­gi­sche Sta­tis­ti­ker auch noch unser heu­ti­ges Ver­ständ­nis von „Nor­ma­li­tät“. Vor der sta­tis­ti­schen Dau­er­be­ob­ach­tung galt als nor­mal, was sich in das enge Kor­sett sozia­ler Nor­men füg­te. Die­ser „Pro­to­nor­ma­lis­mus“, so der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jür­gen Link (1997), sei unter ande­rem durch Que­te­lets For­schun­gen einem „fle­xi­blen Nor­ma­lis­mus“ gewi­chen, der Nor­ma­li­tä­ten per­ma­nent neu gene­riert und die eige­ne Abwei­chung davon über­wacht. Nor­mal ist also, was nicht zu weit links oder rechts einer Kur­ve liegt.

Glockenkurve der Größen- und Gewichtsverteilung beim Menschen. Der linke Bereich gehört den Zwergen, der rechte den Riesen. Zugleich nimmt die Kurve den heutigen Body-Mass-Index vorweg (aus: Quetelet, Adolphe. 1870. Anthropométrie ou Mesure des différentes facultés de l'homme.
Glo­cken­kur­ve der Grö­ßen- und Gewichts­ver­tei­lung beim Men­schen. Der lin­ke Bereich beschreibt die Zwer­ge, der rech­te die Rie­sen. Zugleich nimmt die Berech­nung der Kur­ve den heu­ti­gen Body-Mass-Index exakt vor­weg. Wie bei Que­te­let lau­tet auch heu­te noch die Glei­chung: Index = Kör­per­ge­wicht /​ Kör­per­grös­se² (aus: Que­te­let, Adol­phe. 1870. Anthro­po­mé­trie ou Mesu­re des dif­fé­ren­tes facul­tés de l’hom­me).

Wie sehr Que­te­lets Berech­nun­gen von Durch­schnitts­wer­ten noch das heu­ti­ge Emp­fin­den von Nor­ma­li­tät prä­gen, macht der Body-Mass-Index deut­lich: Die­ser ist kei­ne Erfin­dung einer fit­ness­be­geis­ter­ten post­in­dus­tri­el­len Gesell­schaft, son­dern ein Resul­tat der Quetelet’schen Kör­per­ver­mes­sung des Durch­schnitts­men­schen im 19. Jahr­hun­dert (vgl. Abbil­dung oben).

Samm­le und herrsche

Que­te­lets Visi­on einer immer stär­ke­ren Zen­tra­li­sie­rung von Infor­ma­ti­ons­quel­len ver­weist auf Pro­ble­me, die sich auch bei moder­nen Daten­ban­ken stel­len, denn schon zu sei­ner Zeit läuft die Daten­ak­ku­mu­la­ti­on Gefahr, in nutz­lo­se Infor­ma­ti­ons­flut zu kip­pen. Den Ämtern fehlt es bald nicht mehr an sta­tis­ti­schem Mate­ri­al, wohl aber an sinn­vol­len Gebrauchs­ord­nun­gen. Sie müss­ten einen selek­ti­ven Zugang zu allen gesam­mel­ten Daten gewäh­ren – einen Zugriff, der nicht wie die groß­for­ma­ti­gen Tableaus und Tabel­len der Enzy­klo­pä­dien alles auf ein­mal prä­sen­tiert, son­dern ein spe­zi­fi­sches Datum gezielt auf­find­bar macht.

Mit Blick auf heu­ti­ge digi­ta­le Infra­struk­tu­ren ist die Fra­ge nach der Logis­tik des Sam­melns erneut auf­ge­kom­men. Big Data ist so gese­hen nur die jüngs­te Neu­auf­la­ge des alten Pro­blems, wenn die Fra­ge ver­han­delt wird, wer auf das Sen­so­ri­um der Fer­ne zugrei­fen darf, um mehr sehen und hören zu kön­nen als ande­re. Aus dem Ver­tei­lungs­kampf um den imma­te­ri­el­len Daten­vor­rat könn­ten gera­de die „Ver­ei­nig­ten Daten“ (Staun 2013) als künf­ti­ge Welt­macht her­vor­ge­hen. Nur bedarf es für das Anle­gen die­ses Vor­rats mitt­ler­wei­le nicht mehr der amt­li­chen Lum­pen­samm­ler: Das Nut­zer­ver­hal­ten garan­tiert selbst eine unend­li­che Zufuhr an Rohmaterial.

Auf dem Boden digi­ta­ler Infra­struk­tu­ren ist die Fra­ge nach der Logis­tik des Sam­melns erneut auf die Tages­ord­nung getre­ten. Das Poli­ti­kum Big Data ist letzt­lich die jüngs­te Neu­auf­la­ge des alten Pro­blems, wer auf das Sen­so­ri­um der Fer­ne zugrei­fen darf, um mehr sehen und hören zu kön­nen als ande­re. Im Ver­tei­lungs­kampf um das imma­te­ri­el­le Öl ste­hen gera­de die “Ver­ei­nig­ten Daten” (Staun 2013) im Ver­dacht, als künf­ti­ge Welt­macht her­vor­zu­ge­hen. Nur bedarf es mitt­ler­wei­le nicht mehr der amt­li­chen Lum­pen­samm­ler, denn das Nut­zer­ver­hal­ten selbst garan­tiert für eine unend­li­che Zufuhr an Rohmaterial.

die Kunst, nicht der­ma­ßen regis­triert zu werden“

Eines Tages, so träum­te Que­te­let, wer­de es üblich sein, dass jeder für sich ein Ver­zeich­nis sei­ner kör­per­li­chen Akti­vi­tä­ten pflegt, um die eige­ne Lebens­füh­rung an den Nor­mal­zu­stän­den des hom­me moyen aus­zu­rich­ten (Que­te­let 1838: 571). Dass nun­mehr jeg­li­che Mikro­ak­ti­vi­tät vom Puls­schlag bis zur Ver­weil­dau­er auf Por­no­sei­ten Samm­ler­wert genießt und in den Daten­ban­ken weni­ger Unter­neh­men zusam­men­fließt, hat heu­te jedoch den Ruf nach Gegen­mit­teln laut wer­den lassen.

Auf eine Poli­tik der Zer­streu­ung set­zen bei­spiels­wei­se Kar­tell­äm­ter, wenn sie das expan­si­ve Sam­meln und Ver­knüp­fen diver­ser Daten­quel­len bekämp­fen, was zur Geschäfts­grund­la­ge der heu­ti­gen Markt­mo­no­po­lis­ten gehört. Auch das Zweck­bin­dungs­prin­zip im Daten­schutz möch­te die frei­ge­setz­ten Per­so­nen­in­for­ma­tio­nen an jenen Orten belas­sen, an denen sie erho­ben wur­den. Es will so über­grei­fen­den Archi­ven vor­beu­gen, die unter­schied­li­che digi­ta­le Spu­ren zu einem voll­stän­di­gen Per­so­nen­pro­fil zusammenschließen.

Hoch im Kurs steht heu­te auch eine Ethik der Daten­spar­sam­keit. Sie for­dert das Recht ein, die eige­nen Daten nicht sam­meln zu las­sen. Ihre Kri­tik ver­steht sie – um Michel Fou­caults Maxi­me leicht abge­wan­delt zu zitie­ren – als „die Kunst, nicht der­ma­ßen regis­triert zu wer­den“ (Fou­cault 1992: 12).

Lite­ra­tur

Fou­cault, Michel. 1992. Was ist Kri­tik? Berlin.

Fou­cault, Michel. 2004. Sicher­heit, Ter­ri­to­ri­um, Bevöl­ke­rung. Geschich­te der Gou­ver­ne­men­ta­li­tät I. Frank­furt am Main.

Link, Jür­gen. 1997.  Ver­such über den Nor­ma­lis­mus. Wie Nor­ma­li­tät pro­du­ziert wird. Opla­den.

Que­te­let, Adol­phe. 1838. Über den Men­schen und die Ent­wick­lung sei­ner Fähig­kei­ten oder Ver­such einer Phy­sik der Gesell­schaft. Stutt­gart.

Staun, Harald. 2013. „Die Ver­ei­nig­ten Daten“, Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung 28 (14.07.2013): 37.

Tar­de, Gabri­el. 2017 [1890]. Die Geset­ze der Nach­ah­mung. Frank­furt am Main.

Bild­nach­weis

Vin­ta­ge-video­ga­mes“ von Jim Gol­den, jim​gol​den​stu​dio​.com.

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Ange­li­ka Schwarz

Ange­li­ka Schwarz hat Sozio­lo­gie, Phi­lo­so­phie und Poli­tik­wis­sen­schaf­ten an der LMU Mün­chen stu­diert. In ihrer Mas­ter­ar­beit beschäf­tig­te sie sich mit der Ent­ste­hung der Sozio­lo­gie aus dem rech­nen­den Geist der Sta­tis­tik bei Adol­phe Que­te­let und Gabri­el Tar­de. Sie lebt in Mün­chen und rezen­siert neben­bei Bücher auf https://​nil​pferd​koe​ni​ge​.word​press​.com/.

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