Utopien antizipieren eine mögliche Zukunft. Sie nehmen auf, was in uns schlummert. Sie spiegeln Gegenwärtiges, indem sie es in der Zukunft kontrastieren. Und sie beflügeln gesellschaftliche Veränderungen. Die 1968er-Bewegungen zeugen davon. Wie steht es um aktuelle Utopien?
Gang durch die Utopien
Utopien sind Visionen und Illusionen, die Güter verstaatlichen oder nach ihren Bedürfnissen verteilen wollen. So ist Platons Staat, eine der ersten Utopien, weder auf Gelderwerb noch auf Handel erpicht. Die Oberschicht darf höchstens viermal so viel wie die Unterschicht besitzen. Der Philosoph kontrastiert hier das hierarchische Gefüge, dem er entstammt und das er teilweise reproduziert. Er bleibt ein Kind seiner Zeit. Im Vordergrund steht bei ihm das Gemeinwesen, weniger der Mensch: Die Sklaverei bleibt also erhalten – noch. Jambulos, ein griechischer Schriftsteller des 3. Jh. vor Chr. schafft auch diese kurz danach ab. Im Stil moderner Utopien berichtet er von einer zufällig entdeckten Sonneninsel, auf der er das Glück gemeinsamen Eigentums sieben Jahre lang genießen durfte.
Erst viel später taucht die utopische Insel beim Humanisten Tommaso Campanella (1602) wieder auf, nun aber verwandelt zum Sonnenstaat. Und auch knapp 2000 Jahre nach Jambulos gibt es hier kein Privateigentum. Wenig zuvor berichtet Thomas Morus (1516) ebenfalls von einem idealen Staat – in seinem Roman über die entlegene Insel Utopia. Mit diesen Werken greift die Renaissance großzügig auf die griechische Antike zurück und befördert das utopische Denken für die Neuzeit.
Eine andere Gesellschaft ist möglich. So lautet die Botschaft vieler Utopien. Die einen sind visionär, die anderen ziemlich realistisch. So etwa die Stadt New Harmony, die Robert Owen 1824 erwirbt, um dort vergeblich eine Produktionsgemeinschaft zu gründen. Neben Owen versuchen noch andere Frühsozialisten, ihre Utopien umzusetzen.
Marx und Engels hingegen konzentrieren sich schon bald darauf, den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu entwickeln, um so die „literarische Kleinkrämerei“ ihrer Vorgänger hinter sich zu lassen. Ernst Bloch zufolge kommt mit dieser Verwissenschaftlichung etwas Blei in die Flügelschuhe der Utopie. Von Bloch selbst stammen die Werke Geist der Utopie (1918) und Das Prinzip Hoffnung (1985 [1959]). Sie sind eigenwillig formuliert und inspirieren mit ihrer Konzeption der konkreten Utopie die 1968er-Bewegungen.
Ernst Blochs konkrete Utopie
Ernst Bloch begründet das, was er konkrete Utopie nennt. Sie ist nicht wie die Utopien der Frühsozialisten abstrakt und ideal, sondern im Leben verankert. Sie stellt sich gegen das Elend und den Tod. Sie erhebt sich aus den tiefsten Tiefen unseres Wachtraums. Und sie motiviert uns, zu leben. Bloch begreift eine solche Utopie als antizipierendes Bewusstsein, dessen Wunschbilder eine Welt begründen, die frei von Leiden, Angst und Entfremdung ist. Konkrete Utopien greifen auf, was noch nicht geworden und teilweise noch nicht bewusst ist.
Bleiben Wünsche unerfüllt, schmerzt uns das zwar, treibt uns aber zugleich an. Der Schmerz ist Bloch zufolge umso größer, je weniger wir uns unserer Wünsche bewusst sind. Er ist ein dumpfes Indiz für die drückende Not, die weg muss. Zunächst stellt er sich dort ein, wo es um die Selbsterhaltung des Menschen geht. Ist das nackte Überleben erstmal gesichert, tauchen neue Begierden auf, die uns kaum weniger als der vorige Mangel quälen.
Also sucht sich das Selbst nicht nur zu erhalten, es wird explosiv; Selbsterhaltung wird Selbsterweiterung.
Ernst Bloch
Nun kurbelt die kapitalistische Produktionsweise uns zur Erwerbsarbeit an. Mit ihr ist die Selbsterhaltung zwar auf Dauer gestellt, doch die Differenz zwischen dem bisher Erreichten und dem künftig Besseren versetzt den Menschen derart in Bewegung, dass er sich selbst zu erweitern trachtet:
„Das Körper-Ich […] sucht die Lage zu verändern, die den leeren Magen, den hängenden Kopf gebracht hat. Das Nein zum vorhandenen Schlechten, das Ja zum vorschwebenden Besseren wird von Entbehrenden ins revolutionäre Interesse aufgenommen. Mit dem Hunger fängt dies Interesse allemal an, der Hunger verwandelt sich, als belehrter, in eine Sprengkraft gegen das Gefängnis Entbehrung. Also sucht sich das Selbst nicht nur zu erhalten, es wird explosiv; Selbsterhaltung wird Selbsterweiterung.“
Das explosive Selbst beginnt zu träumen. Und aus Träumen werden Utopien, sobald Vernunft und Bewusstsein Hilfe bieten. Sie lassen aus den unbewussten Dämmerungen des Traums bewusste Inhalte hervortreten. Doch selbst mit diesem Rationalitätszuschuss wandert die utopische Hoffnung auf schmalem Grat. Bleibt sie an den Dingen kleben, ist sie kaum mehr als die Hoffnung „des Empiristen mit den Brettern vorm Kopf“ (ebd. 165). Überfliegt sie hingegen die Dinge, scheitert sie genauso wie die Utopien der Frühsozialisten im Jahrhundert zuvor.
Gefragt also ist die gut abgestimmte Mischung zwischen Vernunft und Hoffnung – eine Mischung, die in der Wirklichkeit Möglichkeiten und in den Möglichkeiten Wirklichkeiten erkennt. Die utopische Hoffnung klammert sich an die „zukunftshaltigen Eigenschaften der Wirklichkeit“. Sie ereignet sich, um es mit Musils Mann ohne Eigenschaften zu sagen, in der Verschränkung von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn. Politisch gewendet bedeutet dies: Die Utopie ist für Bloch das Werdende, die politische Zukunft – im konkreten Augenblick.
Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche
„Soyons réalistes, demandons l’impossible“. Dieser Aufruf prangt 1968 an vielen Mauern. Er eröffnet politische Denk- und Gestaltungshorizonte und regt – ganz im Sinne Blochs – dazu an, die Utopie als Teil der Wirklichkeit zu denken. Er verspricht kein Paradies, lockert aber enge Sichten auf. Er deutet das Mögliche im scheinbar Unmöglichen an, symbolisch und realistisch zugleich: „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, lautet der Slogan der Situationistischen Internationalen in jenen Jahren. Wer alte Muster angeht, entdeckt neue Freiheiten. Unter dem Beton wächst Gras. Was sein könnte, ist vorstellbar und verwirklicht sich vielleicht schon morgen.
Stadtgärten und Solaranlagen auf heutigen Hausdächern sind nur die offensichtlichen Zeugen der utopischen Potentiale von gestern. Was einst kaum denkbar war, ist inzwischen Usus, realisiert in unserer alltäglichen Praxis. „In der Tat sind die seit damals erstrittenen Freiheitsgewinne inzwischen stark verankert, sei es die Infragestellung von traditionellen Hierarchien und Statusautoritäten, seien es die Rechte von Frauen oder die immer selbstverständlicher werdende öffentliche Präsenz von Minderheiten“, schreibt Steffen Vogel (2017).
1968 reagieren die Utopien auf autoritäre Gefüge und den wirtschaftlichen Aufschwung. Sie wenden sich gegen die Entfremdung in westlichen Überflussgesellschaften – selbst in der Schweiz mit ihren sechs Millionen Einwohner*innen, drei Millionen Haushalten und einer Million Fernseh-Konzessionen. Am 9. Mai 1968 beteiligen sich 50‘000 Schweizer Bürger*innen an einer Vietnam-Aktion der Caritas. Am 13. Juni 1968 fordern Demonstrierende in Zürich ein autonomes Jugendzentrum. Die Tagesschau berichtet von Protesten. Die Neue Zürcher Zeitung titelt: „Wehret den Anfängen!“. Doch die widerständige Solidarität verbreitet und nährt weitreichende Utopien: Sogar eine Weltrevolution ist denkbar. Zumindest ein fairer Handel mit garantiertem Absatz von Rohstoffen und Waren zu indexierten Preisen. Und heute?
Utopische Potentiale heute
Kritischer Konsum ersetze vielfach das strukturelle Hinterfragen von ungerechten Handelsstrukturen, meint Steffen Vogel zum Erbe der konkreten Utopie von damals. „Das Private ist politisch“ bedeute heute oftmals „Nur noch das Private ist politisch“. Heute werden Subkulturen eher kommerzialisiert, denn bekämpft. Die verbreitete Unsicherheit lasse zudem antibürgerliche Lebensentwürfe abschreckend wirken. Und schließlich haben die neuen nationalistischen Strömungen und besonders der Wahlsieg Donald Trumps Institutionen verteidigungswürdig gemacht, die 1968 noch radikal infrage gestellt worden wären, etwa die Gerichte oder das Parlament (ebd. 104).
Es gehe heute weniger darum, den Kapitalismus zu überwinden oder die Demokratie als Fassade bürgerlicher Herrschaft zu entlarven.
Und doch sieht Vogel viel Kontinuität im libertären Selbstverständnis der Bewegungen. Mit ihrem Anti-Autoritarismus haben die 68er eine Tradition begründet. Und nach den symbolischen und kulturellen Forderungen kommen heute wieder vermehrt sozialpolitische Anliegen aufs Tapet. Sie verlangen etwa einen Mindestlohn oder eine Begrenzung des Maximallohns. Der technologische Wandel bringe zudem neue Mentalitäten hervor, die auf spontane Kooperation setzen. Dennoch gehe es heute weniger darum, den Kapitalismus zu überwinden oder die Demokratie als Fassade bürgerlicher Herrschaft zu entlarven.
Jedenfalls habe die vergangene Krisendekade nicht nur den Aufstieg der Nationalisten hervor gebracht, sondern vielerorts auch eine politisierte jüngere Generation. Von der kulturrevolutionären Durchschlagskraft der 68er ist sie laut Vogel zwar weit entfernt. Dennoch sorgt sie für eine politische Belebung, „die in Zeiten wie diesen dringend gebraucht“ wird.
Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2007 begehren Bürger*innen vermehrt auf, meint auch Oliver Nachtwey in seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft (2016). Beispiele sind die Occupy-Bewegung, die Indignados und Podemos in Spanien sowie Syriza in Griechenland. Die soziale Frage kehrt zwar vielerorts zurück, steht nun aber unter den Bedingungen der Individualisierung und neuer Unübersichtlichkeiten. Instabile soziale Lagen lassen Apathie und soziale Abgrenzung aufkommen, populistische Haltungen nehmen Ängste vor dem Abstieg und dem Fremdem auf. Junge protestieren gegen mangelnde Aufstiegsperspektiven, Ältere gegen das Entwerten ihres gesellschaftlichen Status, gegen Renten- und Lohnkürzungen. Emanzipatorische Bewegungen suchen neue demokratische Praxen, zumal es der traditionellen Linken kaum gelingt, die Unzufriedenheit aufzugreifen und autoritären Gefahren wirksam zu begegnen.
Was die jüngeren Ansätze zum Widerstand kennzeichnet, ist ein Verständnis von Identität, das Pluralität beinhaltet und Ambivalenzen zulässt. Da gemeinschaftliche Geborgenheit oft mit enger sozialer Kontrolle verknüpft ist, ziehen freiheitlich orientierte Menschen selbst gewählte und nüchtern distanzierte Beziehungen in urbanen Zentren vor. Das fördert da und dort die Bereitschaft, aus freien Stücken soziale Verpflichtungen einzugehen und mit neuen Formen des kollektiven Engagements zu experimentieren. Die daraus entstehenden sozialen und politischen Verbindlichkeiten entsagen jener Gemütlichkeit, die trügerisch Halt verspricht. Sie begründen eine Identität, die keine kongruente utopische Totalität propagiert, sondern Widersprüche akzeptiert, ohne in Beliebigkeit abzudriften. Das hilft und führt weiter.
Die konkrete Utopie lebt neu auf
Wer nationalistischen und neoliberalen Rezepten etwas entgegen setzen will, muss, wie bereits von Ernst Bloch postuliert, für Benachteiligte und dafür einstehen, dass alle ein gutes Leben führen können. Eine bessere Welt ist möglich, aber sie kommt nicht von alleine. Die Sozialutopien von heute zielen einerseits auf die Existenzsicherung aller Menschen ab. Andererseits wollen sie die Sinnfrage, was in einem Menschenleben wirklich wichtig ist, vermehrt in den Alltag integrieren. Das ist vielversprechend und verspricht nicht zuviel. Eine konkrete Utopie formiert sich.
Seien wir also utopisch. Verlangen wir das greifbar Realistische. Ohne uns damit zu begnügen. Uns erwartet zwar kein Leben im Paradies, aber umso mehr gilt: Soyons réalistes, demandons l’impossible. Dazu gibt es keine Alternative.
Literatur
Bloch, Ernst. 1985 [1918]. Geist der Utopie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bloch, Ernst. 1985 [1959]. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Nachtwey, Oliver. 2016. Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp.
Vogel, Steffen. 2017. „Die post-utopische Revolte. Die Erben von ’68 und der neue Marsch durch die Institutionen“, Blätter für deutsche und internationale Politik 6, S. 101–108. Online.
Bildnachweis
Das Titelbild wurde uns freundlicherweise von Lumas zur Verfügung gestellt.
Bildtitel: I’ll be your summer 01
Jahr: 2016/17
Künstlerin: Isabelle Menin
Erhältlich bei: www.lumas.com
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Ueli Mäder
Ueli Mäder ist emeritierter Professor für Soziologie an der Uni Basel. Von ihm stammt u.a. das Buch macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz (Zürich 2015: Rotpunktverlag).
In unserer pluralistischen globalisierten Gesellschaft ist des Einen Utopie eines Anderen Dystopie. Die Einen träumen von nationaler Identität, die Anderen von Multikulturalismus, von Aufstiegsperspektiven oder Rentenerhalt auf hohem Niveau. Der Klimawandel, die Zeit und die Geburtenrate/demografischer Wandel werden viele Antworten von selbst liefern, wo kein weltweiter gesellschaftlicher Konsens gefunden werden kann.
Die grossen Träume unserer Zeit (Grundeinkommen, gerechte weltweite Ressourcenverteilung, irgendwelche nationalistische Wunschvorstellungen von Segregation) sind zeitgleich auch Alpträume anderer Menschen. Deshalb die harten Fronten zwischen Demokraten und Republikanern/Trumpisten. Jeder will seine eigene Utopie auf Kosten der Anderen. Führt dieser Hass zu einem neuen alten Bürgerkrieg?
Diesmal nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in den Foren und in Online Kommentaren,wo der Hass auf Ausländer, Schwarze, Frauen/Feministinnen schon greifbar ist
Es ist eine Glaubensfrage. Eine Frage des Selbstwerts, des Respekts gegenüber dem Anderen und Andersartigen, Andersdenkenden. In der globalisierten Welt der Uniformität ringen wir mit dem Pluralismus und hadern mit der Toleranz.
Schaffen wir am Ende globalen Konsens wenn es um Selbstbestimmung der Frauen, Minoritäten, LGBT etc. geht? Oder werden die Utopien der Minoritäten, Frauen und Kinder untergehen in einem neuen androzentrischen technophilen Weltbild, welches alles Andersartige verachtet.
Welche Welt schaffen wir, wenn in einer technikdominierten Zukunft, kaum Frauen in Entscheidungsgremien vertreten sind? Rechtloser Wilder Westen wie im Darknet, wo jede Perversion noch einen Abnehmer findet? Failed states wandeln sich in solche Höllen, damit wir im Himmel leben können.
Star Trek hatte die Utopie einer pangalaktischen marktwirtschaftlichen Allianz und einer fairen Gesellschaft. Ein grosser Einfluss auf die Geek Kultur der USA welche Silicon Valley prägt. Russische Hacker wurden jedoch durch Asimov, Heinlein und Andere geprägt und haben andere Utopien, welche diametral zum Internationalismus von Star Trek stehen können.
Fangen wir bei uns selbst an und hinterfragen unsere eigenen Utopien. Wessen Hölle verursacht unser voller Supermarkt, SUV, Fernreise, Plastiksalat, Fleischkonsum? Wessen Hölle schaffen wir durch unseren Himmel?
Danke. Ja, fangen wir auch bei uns selbst an. Hinterfragen wir unsere Utopien. Als Projektionen. Und fragen wir, welche Hölle wir durch unseren Himmel verdrängen.
Es ist ein generelles Problem, die 68er-Bewegung auf die heutige Zeit zu übertragen. Die 68er-Bewegung entstammte einem Generationenkonflikt – nämlich dass die alte (Kriegs-)Generation von der neuen (Nachkriegs-)Generation unter Generalverdacht gestellt wurde. Damit verbunden war stets die Frage an die Älteren: „Wo wart ihr 1933?“ Denn die Verdrängung der Vergangenheit funktioniert ja in Deutschland in den 50ern und Anfang der 60er-Jahre nahezu perfekt, was man z.B. am Aufkommen des Heimatfilms beobachten kann, aber auch an der Formierung der alten Seilschaften in der Verwaltung, der Justiz und in der Wissenschaft.
Zudem muss man festhalten, dass das Aufbegehren gegen die verkrustete Gesellschaft allein an den Universitäten stattfand – keinesfalls an anderen Orten. Dies anzunehmen, erscheint mir als ein komplettes Missverständnis! Befeuert z.B. durch die Rückkehr Adornos und Horkheimers nach Deutschland und die damit verbundene Popularisierung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung fingen immer mehr Studenten – die einflussreichsten waren wohl Dutschke und Krahl – damit an, die alte Gesellschaft infrage zu stellen. Neben den oben genannten wurden Walter Benjamin, Marcuse, Bloch, Habermas – plötzlich aber auch Hegel und Marx – gelesen und auf breiter Front diskutiert. Damit verbunden war eine explizite Kritik am Spätkapitalismus und an seinen psychischen Unterdrückungsmechanismen – Freud kam wieder in Mode; später folgten Foucault, Derrida und andere Strukturalisten. Spätfolgen kolonialer Herrschaft wurden ebenso kritisiert wie die Auswirkungen des amerikanischen Imperialismus auf die Weltpolitik und das Leben im sowjetischen Gulag.
Diese Intellektualisierung einer ganzen Generation sucht man heute vergebens. Demzufolge gibt es auch keine Diskussionen mehr über eine Welt, in der es einmal anders wäre. Die Macht des Vorfindbaren hat alle Utopien ausgelöscht. Allenfalls findet man noch Ansätze in Gerechtigkeitsdebatten, die von den Medien lanciert und einem gesättigten Publikum zu später Stunde präsentiert werden. Hinzu kommt das Verschwinden des Intellektuellen aus der öffentlichen Wahrnehmung – er zählt einfach nicht mehr. Undenkbar wäre eine Rückkehr wie in den 50er-Jahren, als Adorno noch Radiovorträge über den geistigen Zustand der Zeit gehalten hatte, die tatsächlich gehört wurden. Das Verstummen der Intelligenz macht Platz für die Schreihälse dieser Welt, die ihre Botschaften – einfältig verpackt – unters Volk bringen, das sie wie Fastfood konsumiert. Gering die Hoffnung, dass sich der Geist noch einmal aufschwänge, um etwas zu bewegen und in die Tat umzusetzen. Dass, was Marx über die Religion sagte, sie sei Opium fürs Volk, ist heute auf die Politik als Ganzes anzuwenden: nicht Utopien sind gefragt, sondern das Ausharren im Immergleichen, das den Widerspruch schon im Keim erstickt. Mitmachen ist alles und Nachplappern die höchste Existenzform. Wer wollte da noch nein sagen?
Danke. Ja, die 68er-Bewegung lässt sich nicht auf unsere Zeit übertragen. Sie reagierte auf autoritäre Strukturen, nicht nur auf die ältere Generation. Und sie reichte weit über die Hochschulen hinaus. Besonders in Frankreich.
Ja, der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland in dieser Hinsicht ist wirklich frappant. Dazu ein kleines Beispiel: Als Sartre starb (1980), war das in Frankreich ein nationales Ereignis. Als Bloch starb (1977), war das in Deutschland eher eine lokale Begebenheit. „Der Geist ist isoliert und tragisch“, schrieb Benn 1937, „aber gut, das wissen wir nun …“ Wenn wir hier auf der Straße nach dem Namen eines lebenden deutschen Philosophen fragten, was bekämen wir dann zu hören? Sloterdijk? Vielleicht … eher nichts
Gelungener Text. Utopien sind seit Morus moralisch imprägniert; in einem Kommentar oben steht: „Glaubensfrage“. Das lässt mich in über religiösen bzw. esoterischen Fundamentalismus stolpern, der mir gegenwärtig zunehmend häufig begegnet. Gewiss ist der „Gottesstaat“ für die Gläubigen gefühlte Realität, ich aber glaube eine unbarmherzige Utopie zu erkennen, wenn Religionsvertreter Tump preisen (gerade der! bloss weil er ihre Utopie bestärkt) oder wenn mir eine junge Frau auf der Strasse mit Bibel unter dem Arm erklärt, nur in Bezug auf das Kommende werde ich finden, was mich glücklich mache. Für Utopien wurden allerorts Menschen massakriert – die utopische, vielleicht absurd anmutende Frage lautet hier: Wie können wir die rationalen Utopien von den irrationalen scheiden?
Die Frage ist doch, ob ein Fundamentalismus – welcher Couleur auch immer – überhaupt noch Raum für Utopien lässt? Denn der Fundamentalist hat ja ein vorgefertigtes Weltbild, an dem er unter allen Umständen festhalten will. Ansonsten wären ihm ja Andersdenkende nicht suspekt, sondern eher eine Bereicherung, wenn er in einen Diskurs mit ihnen entreten würde. Aber genau das geschieht ja nicht, denn der Fundamentalismus grenzt aus und verdammt die Andersdenkenden zur Erleidung von „Höllenqualen“. Das ist sicherlich kein geistiges Vorbild für eine liberale und weltoffene Gesellschaft, die sich zur Aufgabe macht, die kritischen Fähigkeiten des Menschen freizusetzen.
die geschmeidigkeit unsere wirtschaftssystems, wenn es um das profitversprechende vereinnahmen gut gemeinter alternativen geht, scheint grenzenlos und sichert dem kapitalismus zusammen mit dem relativen wohlstand im norden der welt sein weiteres überleben.
da bleibt in der tat nur eine art resignative utopie – also die realistische sicht auf die schwere der aufgabe, die welt für alle ohne leid zu schaffen.
hinzu kommt der unterschied zwischen der schwere dieser globalen aufgabe und dem täglichen alltagsvollzug: retten weniger plastiktüten die welt? umgekehrt wirds immerhin motivierend:mit noch mehr tüten wirds keinesfalls besser. also: bescheiden, auch wenn diese tugend noch keinen systemwechsel bringt.
und bloch statt des unsäglich oberflächlich-rechthaberischen reaktionär abdriftenden sloterdyk.
mit seiner einfachen feststellung. „im moment der erfüllung sehen wir uns um den inhalt der wünsche betrogen“ (aus dem kopf zitiert) hat mir bloch schon für viele trautige stimmungslagen, in denen ich mich seit kindsbeinen immer wieder mal fand (bereits schon als erste spielzeuge nicht das hielten, was sie als wünsche versprachen!) , eine hilfreiche erklärung geliefert.
Wir, Nikolaus und Moritz pflegen ein gemeinsames Hobby: Über die 68er ablästern. Nicht blanker Hass ist unsere Motivation für unsere auch mal unter die Gürtellinie gehenden Runninggags. Es ist mehr die gemeine Luststeigerung des Nörgelns an einem langjährigen Weggesellen, die uns treibt. Wir sind die Erben der 68er, was heisst, wir kommen aus dem 68er- verzauberten Bildungsbürgertum. Wir haben seine Erziehungsexperimente ausgehalten, mussten seinen Musikgeschmack ertragen und haben in endlosen basisdemokratischen Sitzungen versucht seine Entscheidungsschwierigkeiten zu überwinden. Das Erbe hat uns geprägt, wir haben es schätzen gelernt aber auch seinen nicht-paradiesischen Unzulänglichkeiten erlebt. Lieber Ueli, Dein Artikel bietet uns jetzt eine dankbare Auflage, eine Auswahl unserer Ressentiments loszuwerden, die, obwohl wir uns zusammengerissen haben, recht überspitzt sind. Sie kreisen darum, dass Umsetzungsversuche der 68er Utopien nicht immer an ihrer mangelnden Umsetzbarkeit scheiterten, ihrem Realismus. Teilweise waren die Zukunftsträume der 68er einfach nicht gut durchdacht.
“Keine macht, für niemand”: Die Hierarchieversessenheit eurer Zeit war sicher erdrückend. Der Versuch machtlose Organisationen aufzubauen aber naiv. Ihr habt uns eine Organisationskultur überlassen, die übersieht, dass ihre Strukturen sehr wohl Machtmissbrauch ermöglichen, diesen aber kaum kontrollieren können. Wer am längsten am konsensorientierten Plenum bleibt, die Auslegung der Gruppenideale definiert und geschickt Vetos platziert, kann die Agenda einer Gruppe bestimmen oder lahmlegen. Weil eigentlich prinzipiell jeder mitmachen darf, gibt es kaum transparente Verfahren, um unerträgliche Mitglieder auszuschliessen; oder unberechtigten Ausschluss anzufechten. Trotzdem funktioniert die Entscheidungsfindung nach Konsensprinzip erstaunlich gut. Jemand mit wirklich abweichender Meinung ist in den Gruppen aber oft einfach nicht anwesend. Vielleicht hätten die 68er besser über Institutionen der Machtkontrolle nachgedacht, statt Macht‑, und Hierarchielosigkeit zum unhinterfragbaren Dogma zu erheben.
“Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren”. Erfolgreich konntet ihr einige Professoren mit brauner Kriegskarriere davon abhalten, weiterhin ihre Forschung und Lehre zu betreiben. Dem eigenen Muff hätte man sich trotzdem widmen können. Die 68er befreiten zwar die Kapitalismuskritik (wieder) von explizitem Antisemitismus, es gelang ihr aber nicht das verbleibende Grundgerüst genügend nachhaltig miteinzureisen, die krude Verschwörungstheorie. Sie geistert in der linken Protestszene munter weiter. Natürlich wurde versucht Kapitalismuskritik weiterzuentwickeln. Vielmehr Zeit verbrachte man aber mit der möglichst genauen und endlosen Exegese der Schriften weniger anerkannter Intellektueller. Der Erstellung des Negativs zur eigenen Utopie, der eigenen Kapitalismustheorie und Kritik, hätte man ruhig etwas mehr von der Kreativität schenken können, deren Auslebung man sonst vehement einforderte.
“Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment”. Die 68er brachen das Tabu, dass öffentlich nicht über Sexualität geredet werden sollte. Dank der besseren Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, konnte man nicht nur offener über Sex reden, sondern ihn auch offener praktizieren. Im Lusttaumel ging wohl aber unter, dass die Sexualitätsauslebung nicht nur zur Möglichkeit, sondern auch zum Zwang werden kann. So schön Sexualität ist, es gibt gute Gründe dafür ihre möglichst freie Auslebung nicht zum höchsten Ziel gemeinsamer Zukunftsvorstellungen zu erklären. Nicht alle können sie haben, nicht alle Vorlieben werden von allen geteilt und manchmal kommts trotz Vorsicht zu Ernst, der vl. nicht unbedingt vom Konsens der Kommune erzogen werden möchte.
Natürlich war vieles an den 68er Utopien gut. Die Verbreitung der Heute mit den 68ern in Verbindung gebrachten Ideale hat uns sicher einige Unannehmlichkeiten erspart, bzw. einige Möglichkeiten geöffnet. Trotzdem sollten die 68er kritisch aufgearbeitet werden, bzw. die Diskussion ihrer Defizite nicht einfach Konservativen und der populistischen Rechten überlassen werden. Die Utopien der 68er können und sollten geprüft werden. Das würde den heutigen Protestbewegungen mehr helfen, als ihnen übermässigen Realismus vorzuhalten. Seien wir realistisch, nichts ist unmöglich: Lieber zweimal prüfen, ob die Umsetzung einer Utopie nicht nur die Hölle der anderen wäre, sondern auch die eigene.
Nikolaus Thoman
Moritz Maurer
Gut gebrüllt, Löwe! Die 68er-Bewegung ist m.E. ein völlig überbewertetes Phänomen – ein Deckmäntelchen, das sich vorzugsweise deutsche Bildungsbürger umhängen, um ihre ehemals revolutionäre Gesinnung hervorzukehren. In Wahrheit steckt viel heiße Luft dahinter!
Wer – wie ich – in den 70er Jahren in der Provinz aufwuchs, bekam davon ohnehin nicht viel mit. Was sich dort abspielte, geschah in den Großstädten und im studentischen Milieu. Im Fernsehen sah man Steine werfende Studenten und angezündete Autos. Auf die kleinbürgerliche Mentalität meiner Eltern wirkte das wie das perfekt inszenierte Chaos.Ich erinnere mich noch gut an den entsetzten Ausruf meiner Mutter: „Und die wollen uns eines Tages regieren!“ Wer glaubt, dieser Ausspruch sei ein Einzelfall gewesen, irrt sich gewaltig. Gestalten wie Fritz Teufel, Rainer Langhans oder Uschi Obermaier wurden auf der Mattscheibe bestaunt wie Exoten.
Als Freak mit zweifelhaftem politischen Anspruch trug man lange Haare, löchrige Jeans und Turnschuhe, hing in verräucherten Kneipen und lauten Diskotheken mit Stroboskoplampen herum – und ließ den Joint kreisen! Dabei hörte man Musik von Pink Floyd, Deep Purple und Led Zeppelin. Später auch Frank Zappa! Dass die Mitglieder einiger dieser Bands fast 50 Jahre später noch immer auf der Bühne stehen und ihre alten Songs singen würden, konnte man damals natürlich nicht ahnen.
Auf dem Campus tummelten sich K‑Gruppen, die vor der Mensa ihre Stände aufgebaut hatten und lautstark die proletarische Weltrevolution verkündeten. Dass jedes Grüppchen sein eigenes revolutionäres Weltbild hatte, das dem der anderen – die man verächtlich mit pejorativen Ausdrücken bewarf – meilenweit überlegen war, versteht sich von selbst. Rechtsgerichte Studentenverbindungen oder solche, die man dafür hielt, umging man geflissentlich oder machte sie als billige „Staatsknechte“ verächtlich. Ohnehin war die politische Stimmung immer aufgeheizt: Es gab Vietnam, den Schah, Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke und Che Guevara – allesamt Volkshelden oder Volksverräter. Im ASTA wurde stundenlang über irgendeine Direktive des Kultusministeriums diskutiert – jeder Redner versuchte seinen Vorredner in der revolutionären Gesinnung noch zu übertrumpfen oder ihn als „Konterrevolutionär“ zu brandmarken.
Ja, das waren die politisch wilden Jahre … nur, wenn ich nach Hause kam, war davon nichts zu spüren. Die kleinbürgerliche Idylle – und wahrhaftig nicht nur unsere – nahm dergleichen überhaupt nicht zur Kenntnis. Ihre Welt war die Rudi Carrell-Show, Heintje, Freddy Quinn und Peter Alexander. Der revolutionäre Gestus kam hier gar nicht erst an …. Muff und Mief waren und blieben an der Tagesordung. Irgendwo in Bonn regierte Helmut Schmidt und versuchte gerade, die RAF in den Griff zu kriegen …. dass sich die Stadt-Guerilla in unserem Land ausbreitete, war nun das Tagesthema. Einige revolutionäre Heißsporne bekamen jetzt regelrecht Auftrieb – andere schüttelten den Kopf und gingen ihres Weges. Bald würde „die bleierne Zeit“ beginnen …
Kleinlaute Frage an alle hier Diskutierenden, kleinlaut, weil sie von einem kommt, der politisch erst in den 1990ern sozialisiert wurde: Ist es wirklich notwendig, Utopien mit dem ständigen „©68er“ zu versehen? Die universitäre Widerstandsbewegung war doch kein Sozialplan, an dessen Erfüllung sich die Kommenden abzuarbeiten hatten. Auch die 1990/2000er hatten ihre Utopien, die authentisch aus den entsprechenden Bewegungen, historischen Ereignissen oder (wenn man so will) dem „Zeitgeist“ heraus entstanden − und das nicht als Kopien oder Erfüllungen des Vergangenen. Mir scheint dieser ganze Rückbezug von jeglicher linken oder emanzipatorischen Idealsetzung auf die 68er (sei er affirmativ oder von polemischem Widerspruch geprägt) ein recht nostalgisches und teilweise auch pathetisches Unterfangen, das bis zu einem gehörigen Grade alles Nachkommende in seiner Wertigkeit schmälert. Manche haben aus der Geschichte gelernt und müssen sie deshalb eben gerade nicht ständig wiederholen. (Mist, jetzt war ich doch nicht kleinlaut…)
Lieber Herr Däumer,
das kann man vermutlich nur verstehen, wenn man sich ein wenig mit der Vorgeschichte der 68er beschäftigt. Mitte der 60er Jahre entstand der Begriff der „formierten Gesellschaft“, der vom damaligen Bundeskanzler Erhard und seinem konservativen Berater Rüdiger Altmann in die öffentliche Debatte getragen wurde. Deren Ziel war es, „daß diese Gesellschaft nicht mehr aus Klassen und Gruppen besteht, die einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen“, d.h. gesellschaftliche Zielkonflikte sollten nicht mehr öffentlich ausgetragen werde. Dahinter stand ein autoritäres Gesellschaftskonzept, das die Freiheit im Inneren zugunsten einer außenpolitischen Geschlossenheit einschränken sollte. Mit anderen Worten: die Demokratie stand plötzlich auf dem Prüfstand. Dass Erhard dabei in erster Linie an die Wirtschaft dachte, steht auf einem anderen Blatt Papier. – Hiergegen nun begehrten die 68er auf, die darin den Versuch der politischen Unterdrückung Andersdenkender sahen und damit zugleich einen Rückfall in die starre Obrigkeitsgläubigkeit des Dritten Reiches. Insofern ist das der Auslöser für eine Generalabrechnung mit der „Generation der Väter“, denn innere Geschlossenheit statt öffentlicher Diskussion zu fordern, brachte in den Augen der jungen Generation die freiheitliche Demokratie in Gefahr. Damit einher ging die Befürchtung, die alten national-konservativen Ideen könnten wieder auf den Plan treten und den gesellschaftliche Pluralismus untergraben. Und da die 68er kein parlamentarisches Sprachrohr hatten, entstand eben eine außerparlamentarische Opposition …
Lieber Herr Heise,
mir sind die Umstände und auch die Vorgeschichte der 68er durchaus bekannt. In meiner schulischen Ausbildung hatte ich kaum eine(n) Lehrer_in, die/der sich nicht den 68ern zurechnete. Entsprechend informierend und (im Nachhinein betrachtet) ideologisch funktionalisirend sind Geschichts- und Gesellschaftskunde ausgefallen. Deshalb muss ich bezüglich ihres Kommentars anmerken, dass gerade der Gestus der geschichtlichen Belehrung, mit dem Sie mir als Jüngerem begegnen (und den ich, zugegeben, auch ein wenig provozieren wollte), das im Kern trifft, was ich in meinem und auch Frau Ketterer in ihrem Kommentar kritisieren.
Die Verteidigung gegen autoritäre Konzepte und Rettungsaktionen der (demokratischen) Freiheit kann man nicht bzw. sollte man nicht als Ursprungsmythos verkaufen. Der machtbewusste Griff nach autoritären oder zumindest kontrollierbareren Gesellschaftsformen ist eine konstante Gefahr, genauso wie dessen Abwehr eine fortlaufende Gegenbewegung ist, die weder Ursrung noch Ende kennt. Jede Generation muss diesen Macht- und Widerstandskräften in anderen Formen begegnen, Formen, die sich (nicht zuletzt aufgrund ihrer Abhängigkeit von rasanten medientechnischen Entwicklungen) nur sehr bedingt und teilweise gar nicht aus der Vergangenheit ableiten lassen. Deshalb kann ich das ©68er aus meiner (freilich ebenso generationsgebundenen) Sicht der Dinge weiterhin nur ablehnen.
Lieber Her Däumer,
damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich wollte Sie keineswegs bevormunden, denn ich bin kein 68er (es ist aber interessant, dass Sie – zumindest unterschwellig – dies damit verbinden). Diese Bewegung bedeutet mir persönlich nichts. Da ich aber u.a. Politik an einer Schule unterrichte, kann ich Folgendes feststellen: Den heutigen Schülern sind Utopien fast vollständig abhanden gekommen. Vielleicht ist das auch der aktuellen politischen Lage geschuldet? Obwohl sie immense Informationsmöglichkeiten haben, sind viele schlecht oder gar nicht informiert. Politk ist zu einer Randlage des Lebens geworden. Wenn ich ein 68er wäre, würde ich sagen: ihnen fehlt das revolutionäre Bewusstsein! Aber wie sollte man das in einer vollkommen saturierten Gesellschaft überhaupt erwerben? Mir würde es schlichtweg gefallen, wenn ein Schüler einmal aufstünde und sagte: „Ich muss Ihnen ganz entschieden widersprechen!“ Danach würde er eine „Wutrede“ loslassen, die eine eigene Meinung ebenso erkennen ließe wie profunde Fachkenntnisse. Sie wissen ja: Der Widerspruch treibt die Welt voran! Aber ist das jemals schon passiert? Sie kennen sicherlich die Antwort schon aus dieser rhetorischen Frage …
Ich möchte mich der kleinlauten Frage aus noch später sozialisierter Perspektive anschließen. Mir scheint, der Rückbezug auf die 68er ist gerade deshalb so verlockend, weil eben viele ihrer wichtigen Forderungen zu nachhaltigen Veränderungen in unserer Gesellschaft geführt haben. Dennoch finde ich es ausgesprochen schwierig, jeden jungen (studentischen) Protest immer nur in Rekurs auf die 68er zu bewerten. Das führt gerade Vertreter_innen meiner Generation in die Position, uns für unseren (angeblichen) mangelnden Protestgeist und unser mangelndes Engagement verteidigen zu müssen. Heutiger junger Protest steht aber unter völlig anderen Bedingungen als der der 68er. Die Themen jener Bewegung ließen sich ganz klar umreisen, die Feinde waren klar. Heutige Probleme sind dermaßen vielschichtig, verworren und miteinander verbunden, dass es nicht verwundern darf, dass sich nicht EINE durchschlagende junge Bewegung formiert – wie könnte sie? Zu vielfältig und gleichermaßen wichtig sind die anzugehenden Probleme (Klimawandel, Fluchtbewegungen, aufflammender Populismus, zunehmende soziale Ungleichheit, Terrorismus, anhaltender Rassimus,… um nur einiges zu nennen, was durchaus auch in intellektuellen Diskussionen unter Student_innen zum Thema wird!). Ich glaube, die vielen unterschiedlichen Proteste und Lösungsansätze, die meine Generation bedient, ließen sich besser und fairer bewerten, wenn man sie nur in ihrem aktuellen Kontext betrachtet und sie nicht dem rekursiven Vergleich mit den 68ern aussetzt.
Liebe Leute, danke. So viel Anregendes. Ich freue mich.
Danke, Wilfried Heise. Ja, was für ein Unterschied – beim Tod von Sartre und Bloch. Und doch, frei nach Brecht: Wohl dem Land, das keine Helden nötig hat und eigene Fundamentalismen reflektiert. Das gilt auch für Che und andere Freiheitskämpfer/innen… Gewiss, der 68er-Aufbruch konzentrierte sich schon auf urbane Zentren. Er fand aber auch in so genannten Randregionen statt. Zum Beispiel im Kanton Graubünden. Da traf ich letzte Woche eine Ehemalige aus dem Bergell, nicht aus Chur.
Danke, Stefan Bommeli. Ja, es gibt mehr oder weniger (ir-)rationale Utopien. Aber wie rational ist die Rationalität? Und zum erwähnten Glück: Ein Vater wollte, wie ich am letzten Samstag im Kloster Engelberg vernahm, seiner Tochter die Heirat verbieten, weil ihr Geliebter zu wenig reich war. Die Tochter insistierte. Sie könne nur mit diesem Mann glücklich werden, sagte sie. Da antwortete der Vater: „Glücklich schon, aber was hast Du davon!“
Danke, Jupp Trauth. Ja, ich verstehe, was Sie mit resignativer Utopie meinen. Mir imponiert die bescheidene Utopie. Wobei gerade das Einfache oft schwierig zu realisieren ist.
Danke. Moritz Maurer und Nikolaus Thoman. Ja, viel lässt sich zu Recht kritisieren. Das naïve Verhältnis zur Macht, die Sex-und-Hopp-Liberalität, etc. Aber darauf lässt sich die 68er-Bewegung nicht reduzieren, die es selbstverständlich, wie Sie schreiben, (selbst-)kritisch zu reflektieren gilt.
Danke, Matthias Däumer. Ja, 68 ist nie singulär zu verstehen. Auch wenn alle Lehrer/innen mittlerweile ehemalige 68er/innen sind.
Danke, Sanja Ketterer. Ja, das Lamento über den mangelnden Protestgeist heutiger Jugendlicher ist blind für neue widerständige Formen, die oft fein, humorvoll und mit mehr Sinn für Ambivalenzen daher kommen. Was mich freut.
Gute Zeit!