Zwischen Dezember 2000 und August 2005 strahlte der US-Sender Showtime die kanadisch-US-amerikanische Fernsehserie Queer as Folk aus, deren Vorlage eine britische Fernsehserie gleichen Namens war. In Deutschland lief die amerikanische Neuverfilmung zwischen 2006 und 2008 auf ProSieben.
In ihrem Veröffentlichungszeitraum ließ Queer as Folk kaum ein medial präsentes Thema männlich-homosexuellen Lebens aus, angefangen vom Coming Out über die gleichgeschlechtliche Ehe bis hin zum Tod durch AIDS. Die Serie richtete sich an ein Publikum aus mehrheitlich homosexuellen Männern, die sich dank der Serie Hoffnungen auf eine tolerante Gesellschaft in den christlich-konservativen USA machen konnten. Zudem präsentierte Queer as Folk eine fiktive Welt mit teilweise paradiesischen Zügen, in der Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft frei von Diskriminierung leben können. LGBTIQ? Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex Queer.
Im Zentrum der Serienhandlung stehen fünf schwule Männer, deren Charaktere in der Pilotepisode noch stereotyp wirken und unterschiedliche Vorstellungen über schwulen Lifestyle bedienen: Ted ist der unattraktive Buchhalter „mit einem wirklich grossen Herzen“, Emmett eine „affektierte Queen in einer Welt voller Normalos“, Michael das „halbputzige Bübchen von nebenan“, Brian ein egoistischer Playboy und Justin ein 17-Jähriger, welcher am Anfang seines Coming-Out steht.

Genauso wie die Figuren ist die Zweiteilung der Welt von Queer as Folk fassbar: es gibt einen heteronormativen Makrokosmos und einen homonormativen Mikrokosmos. Die Gesellschaft des Makrokosmos spiegele, so Dana Frei (2012), die nordamerikanische Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder: Darin gibt es Gesetze gegen gleichgeschlechtliche Ehen, Homophobie und Vorurteile. Überdies tangiere ein ungerechtes Sozialsystem die Protagonisten in ihren Freiheiten, Karrieren und privaten Lebensentwürfen. Diesem Makro- steht der Mikrokosmos mit seinen homonormativen Regeln gegenüber: Die queer community zieht eine family of choice aus Freunden und Partner*innen der biologischen Familie vor, sexuelle Freizügigkeit wird zelebriert und Heterosexualität ist die Abweichung von der Norm (ebd.).
Queer as Folk ist eine Utopie –
nicht auf dem Papier, aber im Fernsehen.
Eine Gesellschaft, in der das Deviante die Norm ist und Menschen ihre sexuelle Orientierung ungehemmt ausleben dürfen, mag der Grund für die hohe Identifikation und Immersion seitens des Publikums sein. Es scheint, als hätten die Schöpfer der Serie, Daniel Lipman und Ron Cowen, das intendiert:
„[P]eople who hear about the show, […] who probably didn’t wanna watch the show, who are coming to it with a certain attitude will watch it and love the characters and say ‚I really wish they were my friends, I really wish that I was part of that world“ (Lipman und Cowen 2009).
Die Hoffnung, die sich in diesem Zitat ausdrückt, sowie die Angst der Macher vor Anfeindungen zum Serienstart, weisen über die schnöde Entdeckung einer Marktlücke hinaus. Die Serie ist meines Erachtens nicht nur in ihren Ambitionen utopisch, sondern bildet selbst eine Utopie ab. Sie teilt mit ihren literarischen Vorläufern zu viele Gemeinsamkeiten, um nur ein beliebiges TV-Paradies zu sein. Queer as Folk ist eine Utopie – nicht auf dem Papier, aber im Fernsehen.
Lyman Sargent Tower, eine Koryphäe der Utopian Studies definiert eine Utopie (oder Eutopie) als „eine nichtexistierende Gesellschaft, die detailreich beschrieben und vom Verfasser so in Raum und Zeit platziert wird, dass ein zeitgenössischer Leser sie als merklich besser empfindet, verglichen mit der eigenen Gesellschaft“ (1994, eig. Übers.).
Die Church Street in Toronto war einer der Drehorte der Serie. Im Bild: Das Church Street Community Centre (Neal Jennings, Flickr).
Räumliche Abgrenzung
Queer as Folk bietet ihrem männlich-homosexuellen Publikum einen alternativen Kosmos an, der sich auch topographisch von der heterosexuellen, monotonen und intoleranten Welt absetzt. Diese Enklave befindet sich in Pittsburgh und hier im Schwulenviertel um die Liberty Avenue. Mit dem zeitweiligen oder permanenten Übertritt der Figuren in das gay village lassen diese teils traumatische Ereignisse hinter sich – sei es der Verstoß aus der eigenen Familie, sei es der gewalttätige, homophob motivierte Angriff.
Die utopische Literatur grenzt ihre idealen Gesellschaften mithilfe von Inseln wie bei Thomas Morus, Städten wie bei Tommaso Campanella oder in der Zeit wie bei Louis-Sébastien Mercier aus (vgl. den Beitrag von Thomas Schölderle). Im Vergleich dazu sind die Grenzen zwischen dem Viertel um die Liberty Avenue und dem Rest von Pittsburgh fließend, weshalb die Serie auf andere Strategien der räumlichen Isolation setzt.
Im gay village herrschen Regenbogenfarben und Lichter vor, die besonders ins Auge stechen, wenn die übrige Stadt im Grau unterzugehen droht – sprichwörtlich. Denn eine Folge greift auf diese Symbolik zurück, um den drohenden Sieg eines konservativen Bürgermeisterkandidaten auszumalen. Nach dessen Niederlage stürmen Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft in bunten Farben die schwarz-weiße Kulisse und hissen die Regenbogenfahne. Das umgrenzte Terrain wird somit symbolisch zurückerobert.

Soziale Abgrenzung
Die utopische Literatur lebt vom Aufprall zweier Gesellschaften meist in der Figur des Erzählers. Dieser reibt sich ob den Gesetzen und Gewohnheiten der zufällig entdeckten Gemeinschaft verwundert die Augen. Eine utopische Gesellschaft, so beginnt er zu begreifen, ist nicht nur räumlich, sondern auch sozial isoliert. Sie ist in dem Sinne autonom, wie sie ihren eigenen, idealen Gesetzen folgt.
Queer as Folk inszeniert diese utopische Verwunderung immer wieder, um neue Zuschauer bei der Hand zu nehmen und sie mithilfe einer Serienfigur an die Autonomie des gay village zu gewöhnen. Beispielhaft wird diese utopische Verwunderung anhand von Daphne durchgespielt, einer heterosexuellen Freundin von Justin einerseits, einer Identifikationsfigur fürs Publikum andererseits. Als Justin sie zum ersten Mal ins gay village mitnimmt, ist sie mit einer Anderswelt konfrontiert – einer Welt, die Daphne in Form eines Transsexuellen in Frauenkleidern und eng umschlungenen Männern begegnet. Erstaunt stellt sie fest:
„Well, what if I see a guy and a girl kissing, huh? That’d be something different down here“
Daphne
Die Autonomie des utopischen Raumes und sein Kontrast zum heteronormativen Makrokosmos unterstreicht die Serie durch ein schier exzessives Ausstellen männlicher Körper. Athletische Männer zwischen 20 und 40 Jahren dominieren das Bild der Liberty Avenue, und fast jede Episode beginnt mit einer Kamerafahrt durch die Massen an halbnackten oder knapp bekleideten Körper, die sich im Club Babylon rhythmisch bewegen. Das utopische Viertel ist eine Insel der Köperlichkeit und erotischen Performanz, deren Ränder zum Makrokosmos hin klar erkennbar sind. Demgegenüber sind das Buchhalterbüro, in dem Ted arbeitet, als auch der Big Q‑Market heteronormative Räume, die durch Bewegungsarmut, Kaschierung männlicher Körperlichkeit und Verdrängung homosexueller Phantasien gekennzeichnet sind.

Was die Serie als Utopie so reizvoll und glaubwürdig macht, ist die Symmetrie, mit der sie das utopische Erstaunen erzeugt. Die Irritation Daphnes bei ihrer ersten Ankunft im gay village findet ihre Entsprechung in Michaels Befremden beim Besuch von Shoeless Joe’s – einer Bar, die von händchenhaltenden Heteros frequentiert und von Michael mit der Bemerkung quittiert wird: „this place is like breeders central.“

Utopisches Selbstbewusstsein
Ihres utopischen Charakters ist sich die Serie deutlich bewusst. Durch die Bezugnahme auf ausgewählte Texte schreibt sich Queer as Folk in eine Tradition populärkultureller Utopien ein. Hierzu gehört zunächst die eher indirekte Anspielung auf das Schlaraffenland (vgl. den Beitrag von Christine Weder). Anzeichen dieses kulturübergreifenden Sehnsuchtsortes manifestieren sich in der Serie im Überfluss: Attraktive Körper, wohin das Auge, Drogen, wohin das Verlangen, und Sex, wohin die Libido reicht.
„That depends a good deal on where you want to go“
Cheshire Cat
Einen expliziten Bezug auf einen utopischen und zugleich phantastischen Text liefert bereits die Pilotfolge. Justin verirrt sich wissend unwissend ins Schwulenviertel. Unter dem Strassenschild der Liberty Avenue erkundigt er sich bei einem Passanten: „Excuse me, ah, could you tell me, like, where’s a good place to go?“, worauf dieser antwortet: „Depends what you’re looking for“.
Diese Szene ist eine wortähnliche Wiederholung des Dialogs, den Alice in Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland mit der Cheshire Cat führt: „‚Would you tell me, please, which way I ought to go from here?‘“, worauf diese antwortet: „That depends a good deal on where you want to go“.
Justin steht kurz vor seinem Coming-Out. Sein Wille oszilliert zwischen Vernunft und Abenteuer. Er findet sich in der gleichen Desorientierung wie Alice wieder. Und er steht exakt an der Grenze zwischen der bekannten heteronormativen Welt und einer Sphäre, die er nicht kennt.
Peter Pan und das Neverland sind eine weitere Quelle, der die Serie ihre Referenz erweist. Brian versucht seine enge Freundin Lindsay bei ihrer Abreise aus Pittsburgh und somit aus der queer community ein letztes Mal zum Bleiben zu bewegen. Brian sagt: „I don’t want you to go, Wendy!“, worauf Lindsay antwortet: „I have to go, Peter!“ Dieser anspielungsreiche Vergleich zwischen der Liberty Avenue und der Anderswelt Neverland aus James Matthew Barries Erzählungen stellt einen selbstironischen Verweis auf den von den Protagonisten ausgelebten Hedonismus und Jugendwahn dar.
Je prekärer die politische Situation, desto drastischer fallen die Verweise auf utopische Texte und Welten aus. Angesichts der drohenden Wahl eines konservativen Bügermeisters beginnt Brian etwa um das „magical kingdom full of sprites and fairies“ zu trauern. Justin fügt hinzu, die Liberty Avenue sei nun „The Wizard of Oz in reverse“.
Diese Selbstkommentierung zeigt deutlich, dass die Serie sich bewusst ist, einen bisweilen äußerst realitätsfernen Entwurf einer Welt anzubieten, die in Konkurrenz mit der des realen Zuschauers tritt. Statt sich aber dem Vorwurf mangelnder Ernsthaftigkeit zu ergeben, stellt Queer as Folk die vermeintliche Oberflächlichkeit als Markenzeichen der Serie aus. Diese Strategie mag als selbstbefreiender Akt gedeutet werden. Sie kann aber auch als ernsthafter Versuch gelten, Queer as Folk als eine serielle Erzählung zu memorieren, die sich in eine Tradition utopischer Texte reiht.
Fernsehserie
Lipman, Daniel; Cowen, Ron. 2009. Queer as Folk. Hamburg: Warner Home Video [DVD, Staffel 1–5 und Bonusmaterial; Erstveröffentlichung in den USA auf Showtime vom 3.12.2000 bis 7.08.2005].
Literatur
Barrie, James Matthew. 1904. Peter Pan, or The Boy Who Wouldn’t Grow Up. London: Hodder & Stoughton.
Carroll, Lewis. 2012 [1865]. Alice’s Adventures in Wonderland. Stuttgart: Reclam.
Frei, Dana. 2012. Challenging Heterosexism from the Other Point of View. Representations of Homosexuality in Queer as Folk and The L Word. Bern et al: Lang.
Sargent, Lyman Tower: The Three Faces of Utopianism Revisited. In: Utopian Studies 5 (1994), H. 1, S. 1–37.
Bildnachweis
Das Titelbild wurde uns freundlicherweise von Lumas zur Verfügung gestellt.
Bildtitel: Push
Jahr: 2013/14
Künstlerin: Isabelle Menin
Erhältlich bei: www.lumas.com
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Franz Kröber
Franz Kröber ist Deutschdidaktiker und forscht zu erzählten Räumen in gegenwärtigen Fernsehserien. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Lieber Herr Kröber,
aber wie verhält es sich hier mit dem Verhältnis von Utopie und Ghetto? An sich ist ein abgeschlossener, in den sozialen Mechanismen auf sich selbst zurückgeworfener Stadtteil ja erst mal (auch) letzteres, sei er noch so bunt und paradiesisch. Was mich an diesem Konzept stört, ist, dass die Utopie, im Sinne eines noch nicht existenten Ideals, gar nicht so viel Topos sein müsste: eine Gesellschaft, in der ohne szenige Ab- oder diskriminierende Ausgrenzung Homo- und Heteronormativität in einem Raum beieinender wären… oder besser noch: Normativität überhaupt gar nicht mehr nötig wäre. Da ist dann die Frage, ob ‚QaF‘ nicht bei allem Humor in eine andere, diesem Ideal gegenläufige Richtung weist, weil das Wunderland doch eher als unvereinbar mit der grauen Rest-Gesellschaft dargestellt wird.
Lieber Herr Däumer,
Ihr Vorschlag hat viel für sich und die Serie selber liefert für Ihren Standpunkt auch Anhaltspunkte.
Zunächst kann das gay village, oder wie es in einigen Beiträgen auch tatsächlich genannt wird, das gay ghetto, deshalb als positive Gegenwelt gesehen werden, weil die Welt um die Liberty Avenue von homophoben psychischen und physischen Angriffen geprägt ist: Hier sind Familien/mitglieder der Figuren Emmett, Brian, Justin, Lindsay und anderen zu nennen, welche die Protagonisten verstoßen, der innerhalb der Serie immer wieder aufgegriffene und neu inszenierte Angriff auf Justin durch einen Schulkameraden, die Diskriminierung Teds durch dessen Arbeitgeber oder homophone Bewegungen, wie die Kampagne eines Bürgermeisterkandidaten oder eine Gesetzesinitiative, welche Diskriminierung zementieren soll. Diese homophoben Handlungen spielen zudem häufig auf ähnliche Ereignisse aus der empirischen Welt aus den USA in den 2000ern an, weshalb hier, für eine gewisse Zuschauerschaft, schon eine positive Alternativwelt konstituiert wird. Darüber hinaus tauchen diese Elemente innerhalb der Serie in dieser Form nicht in der Liberty Avenue auf, weshalb schon ein Argument für eine räumliche Grenze vorliegt, abgesehen von visuellen Unterschieden zwischen beiden im Artikel beschriebenen Sphären.
Für Ihren Standpunkt dürfte Staffel vier interessant sein: Hier schließt sich Justin einer Organisation namens Pink Posse an, welche nach dem Vorbild einer Bürgerwehr die Gegend um die Liberty Avenue absichern möchte, dabei aber Passanten, welche homophobe Äußerungen tätigen, unverhältnismäßig bedroht. Dabei verfallen Justin und eine weitere Figur in Verhaltensmuster, welche sie eigentlich verhindern wollen. Durch dieses Negativbeispiel, aber auch andere Szenen wie die Entrüstung eines schwulen Paares über die Heterosexualität ihres Sohnes wird die ‚Beschränktheit‘ der utopischen Qualität der queren Gemeinschaft immer wieder reflektiert. Ein utopischer Zustand im Sinne einer Gesellschaft, welche nach allen Seiten tolerant ist und in der keine markierten Räume für einzelne Gruppen als Schutz bestehen müssen, existiert in QaF freilich nicht. Das lässt sich aber möglicherweise auch dadurch erklären, dass die Serie ein Stück weit auch versucht, eine Protesthaltung zu demonstrieren bzw. hier zunächst eine Aneignung der Fernsehserie durch vorrangig männlich-homosexuelle Themen stattfinden sollte.