Lie­be Lese­rin­nen, lie­be Leser

War­um Por­no­gra­phie? Der Ver­dacht liegt nahe: Hier ver­sucht ein Start­up-Maga­zin die Auf­la­ge zu erhö­hen. Rich­tig. Wir tun wirk­lich alles dafür, Erkennt­nis­se der Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten in den öffent­li­chen Raum zu zer­ren. Aller­dings haben die inter­pre­tie­ren­den Dis­zi­pli­nen zur Por­no­gra­phie auch eini­ges zu sagen. Und das tut unse­rer Gesell­schaft not: Schliess­lich wird gera­de eine gan­ze Gene­ra­ti­on von Min­der­jäh­ri­gen über Porn­hub, you­porn, xvi­de­os und ande­re Por­no­por­ta­le auf­ge­klärt, ohne dass ihnen hier­für eine Spra­che zur Ver­fü­gung stün­de. Also: Let’s talk about porn.

Zah­len und Trends

Zu Beginn des Jah­res ver­öf­fent­lich­te Porn­hub, eines der gröss­ten Por­no­por­ta­le, sei­ne Sta­tis­ti­ken. Ihnen zufol­ge wur­den im Jahr 2016 gan­ze 92 Mil­li­ar­den Vide­os bei 21 Mil­li­ar­den Web­site­be­su­chen abge­ru­fen. Im Schnitt besuch­ten 64 Mil­lio­nen Men­schen die Web­sei­te pro Tag, 2.6 Mil­lio­nen pro Stun­de. Jeder Besu­cher gönnt sich täg­lich wäh­rend 9 Minu­ten drei bis vier ver­schie­de­ne Clips. Neben­bei hält die Sta­tis­tik eine mehr als 40fache Zunah­me des mobi­len Daten­ver­kehrs in den letz­ten 6 Jah­ren fest: Nack­te Tat­sa­chen kom­men also immer mehr auf Han­dys und Tablets zur Geltung.

Gesi­chert ist, dass die­se gigan­ti­sche Aus­brei­tung von Por­no­gra­phie mit der tech­ni­schen Inno­va­ti­on des home cine­ma Mit­te der 1970er Jah­ren ihren Anfang nahm und sich mit dem Inter­net beschleu­nigt hat. Die Pri­va­ti­sie­rung der Bewegt-Bild-Por­no­gra­phie führ­te als­bald zu einer erstaun­li­chen Spe­zia­li­sie­rung der Inhal­te. Fil­me, die für Sexki­nos ver­gleichs­wei­se auf­wän­dig und auf hete­ro­nor­ma­le Bedürf­nis­se abge­stimmt pro­du­ziert wer­den muss­ten, wichen schon bald güns­ti­ger ange­fer­tig­ten Num­mern­shows auf Video­kas­set­ten,  die sich an den Vor­lie­ben spe­zi­fi­scher Ziel­pu­bli­ka ori­en­tie­ren konnten.

Aus­lau­fen­des Geschäfts­mo­dell (Bild: onno­la, Flickr)

Das Sexki­no daheim sorg­te schliess­lich für die all­mäh­li­che Ver­drän­gung ande­rer por­no­gra­phi­scher Medi­en. Maga­zi­ne etwa, die mit gut aus­ge­lich­te­ten Sze­nen und hoch auf­ge­lös­ten Foto­gra­phien lan­ge noch den duns­tig anmu­ten­den Fil­men media­le Qua­li­tät ent­ge­gen hal­ten konn­ten, sind im Zeit­al­ter von Breit­band­in­ter­net nahe­zu vom Markt ver­schwun­den. Und selbst wenn der Roman Fif­ty Shades of Grey der por­no­gra­phi­schen Lite­ra­tur etwas mas­sen­me­dia­les Leben ein­zu­hau­chen wuss­te, kom­men Wor­te der­zeit kaum mehr gegen Clips an.

A pro­pos Medi­en und Gen­der: Immer noch hart­nä­ckig hält sich die Legen­de, wonach Frau­en Por­no­gra­phie vor­wie­gend in Wor­ten, Män­ner in Bil­dern rezi­pie­ren. Doch laut Porn­hub machen Frau­en inzwi­schen einen Vier­tel der Kund­schaft aus – Ten­denz stei­gend. Bereits 1987 bestä­tig­te eine sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Umfra­ge im Auf­trag des Frau­en­ma­ga­zins Red­book die Lust der Frau­en an beweg­ten Bil­dern: Von den 26’000 befrag­ten Lese­rin­nen bekann­te sich die Hälf­te zum regel­mäs­si­gem Kon­sum von Film­chen auf Video­kas­set­ten (Stros­sen 1995, 144).

Im Herbst 2015 zähl­te die ‚Com­mu­ni­ty für Erwach­se­ne‘ mehr als 40’000 Ama­teu­re, die ihre Bil­der und Vide­os fein abge­stimmt auf User-Wün­sche hin anfertigen.

Die immer höhe­re Spe­zia­li­sie­rung auf spez­fi­sche Vor­lie­ben ver­stärkt sich der­zeit durch die ‚Pro­sump­ti­on‘ in der Ama­teur­por­no­gra­phie. Com­mu­ni­ty-Web­sites wie my dir­ty hob­by ani­mie­ren zum Dreh der eige­nen Por­nos, die inner­halb der Gemein­schaft gezeigt und geteilt wer­den – einer Gemein­schaft, die die Gren­zen zwi­schen Pornoproduzent*innen und ‑konsument*innen auf­hebt. Die Sel­fie­kul­tur von Face­book oder Insta­gram scheint ihre Ent­spre­chung nun in Por­no­vi­de­os zu fin­den, in denen Ama­teu­re ihren Sex so ver­ewi­gen, als wären sie auch des­sen ers­te Betrach­te­rin­nen und Betrach­ter. Frei nach Beuys: Jeder Mensch ein Pornostar.

Por­no­gra­phi­scher Analphabetismus

Diese Zah­len und Bemer­kun­gen geben letzt­lich nur den quan­ti­ta­tiv mess­ba­ren Aus­schnitt wie­der, den das Mas­sen­phä­no­men Por­no zur Öko­no­mie unse­rer Lüs­te bei­trägt. Wie aber Por­no­gra­phie qua­li­ta­tiv unse­re Begier­den, unse­re Spra­che, unse­ren Blick und unse­re Mode affi­ziert, dar­über ist bis­lang nur wenig zu erfah­ren. Dass sie es tut, ist hin­ge­gen so gewiss, dass gar von einer Por­no­fi­zie­rung unse­rer Gesell­schaft (Hil­kens 2010) oder einer Por­no­gra­fi­sie­rung des All­tags (Stef­fen 2014) die Rede ist. Porn sei chic, lau­tet die Diagnose.

Ver­harm­lo­sung sexua­li­sier­ter Gewalt oder bloss porn chic? Umstrit­te­ne Wer­be­kam­pa­gne von Dol­ce & Gab­ba­na aus dem Jah­re 2016.

Trotz die­sen Ver­su­chen, Por­no­gra­phie als Teil unse­rer Popu­lär­kul­tur zu ver­ste­hen, ste­hen die meis­ten von uns die­sem Phä­no­men weit­ge­hend sprach­los gegen­über. Klar ist, dass wir es inzwi­schen mit einer Art Sys­tem (Lewan­dow­ski 2012) zu tun haben, das von Sekun­de zu Sekun­de wächst, das fle­xi­bel auf gesell­schaft­li­che Ver­än­de­run­gen reagiert und zugleich sozia­le Ent­wick­lun­gen indu­ziert. Und mit die­sem Sys­tem hal­ten wir, meta­pho­risch gespro­chen, zwar vege­ta­tiv bes­tens mit, kogni­tiv aber sind wir längst verstummt.

Anders aus­ge­drückt: Por­no­gra­phie ist im Netz­werk­zeit­al­ter zu einem offe­nen Geheim­nis gewor­den. Fast alle haben ihre Erfah­run­gen damit gemacht, doch nie­mand spricht dar­über – nicht, weil sie es nicht wol­len, son­dern eher: weil sie es nicht können.

Von den sex wars

Trotz­dem: Von den Mas­sen­me­di­en wenig bemerkt, vom aka­de­mi­schen Main­stream lan­ge igno­riert, hat die Geschlech­ter­for­schung (engl. gen­der stu­dies) in den letz­ten 40 Jah­ren sich eine Beob­ach­tungs­spra­che erar­bei­tet, mit der sie seit­her die ter­ra inco­gni­ta der Por­no­gra­phie kar­tiert, ana­ly­siert und differenziert.

Aus­gangs­punkt waren die femi­nist sex wars Ende der 1970er Jah­ren: Die Akti­vis­tin und Frau­en­recht­le­rin Andrea Dwor­kin arbei­tet gemein­sam mit der Juris­tin Catha­ri­ne MacK­in­non den Ent­wurf eines Anti-Por­no­gra­phie-Geset­zes in den USA aus, das Por­no­gra­phie als frau­en­feind­lich defi­niert. Auf die­se Bemü­hun­gen reagier­ten Femi­nis­tin­nen wie Ellen Wil­lis (1983), die in sol­chen Ver­bo­ten sexu­el­len Puri­ta­nis­mus, mora­li­sche Bevor­mun­dung und eine Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit erkann­ten. Der Streit um die Por­no­gra­phie wei­te­te sich als­bald auf Euro­pa aus. In Deutsch­land for­der­te Ali­ce Schwar­zer 1987 in der von ihr gegrün­de­ten Zeit­schrift EMMA eben­falls ein Por­no­gra­phie-Ver­bot, da „der zen­tra­le Sinn der Por­no­gra­phie die Pro­pa­gie­rung und Rea­li­sie­rung von Frau­en­er­nied­ri­gung und Frau­en­ver­ach­tung [sei]“.

Über Por­no­gra­phie zu sin­nie­ren, heisst seit­dem: über Geschlech­ter- und Macht­ver­hält­nis­se nachzudenken.

Wil­liams, Lin­da. Hard Core: Power, Plea­su­re, and The ‚Fren­zy of the Visi­ble‘. Ber­ke­ley 1989.

Trotz ihrer Pole­mik haben die sex wars aus einem zunächst pri­va­ten und amor­phen Phä­no­men einen Gegen­stand des öffent­li­chen Inter­es­ses gemacht. Por­no­gra­phie erlang­te im Aus­tausch der Argu­men­te Kon­tu­ren und Dif­fe­ren­zie­run­gen, die bis heu­te nach­wir­ken. Über Por­no­gra­phie zu sin­nie­ren, heisst seit­dem: über Geschlech­ter- und Macht­ver­hält­nis­se nachzudenken.

… zu den porn stu­dies

Eine neue Ära der aka­de­mi­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit Por­no­gra­phie beginnt 1989 mit Lin­da Wil­liams Buch Hard Core. Erst­mals wird Por­no­gra­phie nicht mehr als Zank­ap­fel ver­han­delt, des­sen Exis­tenz zu ver­bie­ten oder zu erlau­ben ist. Viel­mehr gilt Por­no­gra­phie als ein Fak­tum, das nicht mehr weg­zu­den­ken ist und des­halb ana­ly­siert wer­den muss. Es gibt Por­no­gra­phie wird dank Wil­liams zur neu­en Grundprämisse.

15 Jah­re spä­ter gibt Wil­liams einen Sam­mel­band mit dem Titel Porn Stu­dies (2004) her­aus: Sämt­li­che der dar­in publi­zier­ten Auf­sät­ze akzep­tie­ren die Rea­li­tät von Por­no­gra­phie und machen kei­ne mora­li­schen Anstal­ten mehr, die ‚gute Ero­tik‘ vor ‚schlech­ter Por­no­gra­phie‘ zu ret­ten. Zugleich erwei­tern die Stu­di­en das Feld der Ana­ly­se: Zu den ‚klas­si­schen‘ Unter­su­chun­gen von Geschlech­ter- und Macht­ver­hält­nis­sen gesel­len sich For­schun­gen zu sozia­len Schich­ten und Eth­ni­en, zur japa­ni­schen Comic­kul­tur sowie zu Amateurvideos. 

All die­se Ana­ly­sen fügen der Por­no­gra­phie eine wich­ti­ge Erkennt­nis hin­zu: Wer Por­nos schaut, geniesst alles ande­re als nur den iso­lier­ten Sexu­al­akt in Form von beweg­ten Geni­ta­li­en. Sie oder er kon­su­mie­ren letzt­lich Gesell­schaft: in Gestalt von Geschlechter‑, Schichten‑, Macht- oder kul­tu­rel­len Verhältnissen.

Wer Por­nos schaut, geniesst alles ande­re als nur den iso­lier­ten Sexu­al­akt in Form von beweg­ten Geni­ta­li­en. Sie oder er kon­su­mie­ren letzt­lich Gesell­schaft: in Gestalt von Geschlechter‑, Schichten‑, Macht- oder kul­tu­rel­len Verhältnissen.

In den letz­ten Jah­ren zie­hen ande­re geis­tes- und sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­pli­nen nach. Por­no­gra­phie ist zu einem eigen­stän­di­gen Unter­su­chungs­ge­gen­stand gewor­den. Das Todes­jahr des Mar­quis de Sade mag das sei­ne dazu bei­getra­gen haben. Geschich­te, Poli­tik­wis­sen­schaft, Sozio­lo­gie, Phi­lo­so­phie, Kunst­ge­schich­te und Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten beschäf­ti­gen sich mit dem Obs­zö­nen, mit porn chic, Kör­per­ober­flä­chen und ‑öff­nun­gen sowie Gro­schen­ro­ma­nen. Seit 2014 macht das wis­sen­schaft­li­che Jour­nal Porn Stu­dies (Att­wood und Smith 2014) die Por­no-For­schung bes­ser sichtbar.

Let’s talk about porn

Die drit­te Aus­ga­be der Ave­nue ver­sucht, aus den ver­schie­de­nen inter­pre­tie­ren­den Dis­zi­pli­nen Kost­pro­ben vor­zu­le­gen. Sie will über den Elfen­bein­turm hin­aus ein Voka­bu­lar zur Ver­fü­gung stel­len, mit dem sich über Por­no­gra­phie jen­seits von hui und pfui spre­chen lässt. Dif­fe­ren­ziert und distanziert.

Nicht zu igno­rie­ren: Jugend­li­che kom­men der­zeit im Alter von 11.5 Jah­ren in Kon­takt mit Por­no­gra­phie. Bil­der und Vide­os dro­hen, gleich­sam ohne Umweg ins lim­bi­sche Sys­tem zu gelan­gen – und zwar ohne Kon­takt mit Kon­zep­ten wie Bezie­hungs­fä­hig­keit, Kör­per­ak­zep­tanz oder Geschlech­ter­ver­hält­nis­se.  Erst die Ver­sprach­li­chung ermög­licht, Gese­he­nes ein­zu­ord­nen und zu ver­ar­bei­ten, erst Spra­che ver­sach­licht Por­no­gra­phie. Sie bie­tet dem unre­flek­tier­ten „Nach­spie­len“ por­no­gra­fi­scher Inhal­te Ein­halt, hilft, vor­ge­führ­te Rol­len- und Kör­per­mus­ter als Fik­tio­nen zu erken­nen, und wirkt als Gewaltprävention.

Lite­ra­tur

Att­wood, Feo­na, und Cla­ris­sa Smith. 2014. „Porn Stu­dies: an intro­duc­tion“. Porn Stu­dies 1 (1–2).

Hil­kens, Myr­the. 2010. McSex: die Por­no­fi­zie­rung unse­rer Gesell­schaft. Ber­lin: Orlanda.

Lewan­dow­ski, Sven. 2012. Die Por­no­gra­phie der Gesell­schaft: Beob­ach­tun­gen eines popu­lär­kul­tu­rel­len Phä­no­mens. Bie­le­feld: transcript.

Schwar­zer, Ali­ce. 1994. Por­NO: Opfer & Täter, Gegen­wehr & Back­lash, Ver­ant­wor­tung & Gesetz. Köln: Kie­pen­heu­er & Witsch.

Stef­fen, Nico­la. 2014. Porn Chic: Die Por­no­gra­fi­sie­rung des All­tags. Mün­chen: dtv.

Stros­sen, Nadi­ne. 1995. Defen­ding Por­no­gra­phy: Free Speech, Sex, and the Fight for Women’s Rights. New York: Scribner.

Wil­liams, Lin­da. 1999. Hard Core: Power, Plea­su­re, and The ‚Fren­zy of the Visi­ble‘. Ber­ke­ley: Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia Press.

Wil­liams, Lin­da. 2004. Porn Stu­dies. Dur­ham: Duke Uni­ver­si­ty Press.

Wil­lis, Ellen. 1983. „Femi­nism, Mora­lism, and Por­no­gra­phy“. In Powers of Desi­re: The Poli­tics of Sexua­li­ty, her­aus­ge­ge­ben von Ann Barr Sni­tow, Chris­ti­ne Stan­sell, und Sharon Thomp­son, 460–67. New York: Month­ly Review Press.

Bild­nach­weis

Titel­bild von Bla­ke Kathryn.

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Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

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