Vade­me­cum

  • In Deutsch­land fin­den pro Jahr etwa 3 000 Schwan­ger­schafts­ab­brü­che nach der 12. Schwan­ger­schafts­wo­che statt.
  • Der Spät­ab­bruch ist weder gesell­schaft­lich noch kul­tu­rell thematisiert.
  • Eine der weni­gen Aus­nah­men: der Film 24 Wochenvon Anne Zohra Ber­ra­ched aus dem Jahr 2016.

Sexua­li­tät ist Zeit­ma­nage­ment. Irgend­wo zwi­schen Natur und Kul­tur regeln sen­si­ble Zeit­ord­nun­gen, wie zu ver­hü­ten, emp­fan­gen und zu gebä­ren ist. Dazu gehö­ren der recht­zei­ti­ge Ein­satz von Pil­le und Kon­dom, der Koitus an frucht­ba­ren Kalen­der­ta­gen sowie die fein­ge­tak­te­te Über­wa­chung einer Schwangerschaft.

Zeit­druck herrscht auch bei der Kehr­sei­te die­ser Lebens­be­rei­che: dem frei­wil­li­gen Schwan­ger­schafts­ab­bruch. Fris­ten­re­ge­lun­gen bestim­men, bis zu wel­cher Dead­line abge­trie­ben wer­den darf. In Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz ist der Abbruch inner­halb der ers­ten 12 Wochen straf­frei. Danach benö­tigt ein Abbruch ein ärzt­li­ches Urteil, das die Gesund­heit der Schwan­ge­ren oder des Unge­bo­re­nen als stark gefähr­det ein­stuft. Der Abort gilt ab der 22. bis 24. Woche als so pre­kär, weil der Fötus mit tech­ni­scher Hil­fe außer­halb des Mut­ter­lei­bes über­le­ben könn­te. Bleibt er unge­wollt, muss er ab die­sem Zeit­punkt zunächst mit einer Kali­um­chlo­rid­in­jek­ti­on ins Herz getö­tet werden.

Was geschieht mit dem toten Fötus? Wel­che Emo­tio­nen, wel­che Per­so­nen beglei­ten die Abtreibung?

Die Abtrei­bung war schon immer ein „Geheim­nis, das die Spat­zen von den Dächern pfei­fen“, so der Sozio­lo­ge Luc Bol­tan­ski (2007: 40). Häu­fig prak­ti­ziert, häu­fig tot­ge­schwie­gen. Wer mehr dazu wis­sen will, ohne von Moral und Ideo­lo­gie erschla­gen zu wer­den, hat es schwer. Wel­che Gerä­te wer­den benutzt? Was spen­det Trost? Was geschieht mit dem toten Fötus? Wel­che Emo­tio­nen, wel­che Per­so­nen beglei­ten die Abtreibung?

Auch die visu­el­le Kul­tur ist arm an Ant­wor­ten. Selbst das Kino. Die Kul­tur­wis­sen­schaft­le­rin Julia Köh­ne (2018: 244) stellt hier Leer­stel­len fest, die „der Häu­fig­keit und Geläu­fig­keit der Pra­xis“ zuwi­der­lau­fen. Es man­gelt an fil­mi­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die nicht bes­ser­wis­se­risch, son­dern fra­gend und tas­tend auf die Dilem­ma­ta hin­deu­ten und Stig­ma­ti­sie­run­gen vor­beu­gen. Immer­hin erwei­sen sich die weni­gen ein­schlä­gi­gen Spiel­fil­me als deu­tungs­of­fe­ner und ver­spiel­ter als zunächst vermutet.

Dazu zählt auch 24 Wochen von Anne Zohra Ber­ra­ched – ein Film, der 2016 an den Inter­na­tio­na­len Film­fest­spie­len in Ber­lin erst­mals prä­sen­tiert wur­de und mit dem Tabu des Spät­ab­bruchs bricht. „Ich weiß, dass das jetzt beschis­sen ist“, meint einer der Ärz­te im Film, wäh­rend durch die Kino­rei­hen ein Schluch­zen geht. Er bringt so auf den Punkt, was dem Film zu zei­gen gelingt: Dass das Leben manch­mal (zu) viel ist, dass man das irgend­wie aus­hal­ten muss und dann nicht sicher wis­sen kann, was rich­tig oder falsch ist. „Wahr­schein­lich ein biss­chen bei­des“, resü­miert die Prot­ago­nis­tin Astrid.

Hin­weis: Die fol­gen­den Abschnit­te ent­hal­ten Anga­ben zur Hand­lung des Films 24 Wochen.

Astrid

Astrid (Julia Jentsch) ist eine erfolg­rei­che Komi­ke­rin, eine Per­son des öffent­li­chen Lebens. In Sket­chen macht sie sich über ihren Baby­bauch lus­tig und zwi­schen den Zei­len stellt sie ihre gen­der­spe­zi­fi­schen Zeit­knapp­hei­ten ins Ram­pen­licht. Wie kann etwa eine Mut­ter die für das Show­busi­ness not­wen­di­ge Fucka­bi­li­ty auf­recht­erhal­ten? Astrid jeden­falls freut sich auf das zwei­te Kind und ihre wei­te­ren Auftritte.

"Witze machen geht auch mit Milcheinschuss." Filmstill (03:02) aus 24 Wochen (Berrached 2016).
„Wit­ze erzäh­len geht auch mit Milch­ein­schuss.“ Film­still (03:02) aus 24 Wochen (Ber­ra­ched 2016).

Ihre Froh­na­tur nimmt auch kei­nen Scha­den, als das Unge­bo­re­ne mit Tri­so­mie 21 dia­gnos­ti­ziert wird. Erst als eine wei­te­re Unter­su­chung ergibt, dass das Kind mit einem schwe­ren Herz­feh­ler auf die Welt kom­men wird, gerät die Welt der toug­hen Eltern in eine Kri­se. Der Zeit­druck, über Leben und Tod zu ent­schei­den, wächst von Tag zu Tag, in wel­chen sich das Unge­bo­re­ne zuneh­mend zu einem body that mat­ters (But­ler 1993) entwickelt.

Die Fami­lie

Irgend­wie wer­den wir so zu Ent­schei­dern über das Leben eines ande­ren Men­schen,“ ver­zwei­felt Vater Mar­kus (Bjar­ne Mädel) und ver­kennt dabei, was bereits ent­schie­den ist – durch Fami­lie oder Arbeit. „Man muss ja heu­te sol­che Kin­der nicht mehr auf Bie­gen und Bre­chen bekom­men“, meint Astrids Mut­ter, die ihre Toch­ter vor jedem Zuviel bewah­ren möch­te. „Wie wollt ihr das schaf­fen? Könnt Ihr Euch das zutrau­en, ich mei­ne, wenn ihr immer unter­wegs seid?“ – „Ja, wir lie­ben Stress!“ ant­wor­tet Mar­kus da noch selbst­iro­nisch. Ton und Bild grei­fen die Schlin­ge, die sich um den Hals von Astrid legt, ästhe­tisch auf. Wäh­rend man an einer Bau­stel­le mit­ein­an­der über die Zukunft zu reden ver­sucht, häm­mern und boh­ren Maschi­nen. Immer wie­der pras­seln­der Regen.

"Ich möchte nicht mitten in der Nacht auf einer Baustelle mit Dir über unsere Zukunft sprechen." Filmstill (59:36) aus <em>24 Wochen</em> (Berrached 2016).
„Ich möch­te nicht mit­ten in der Nacht auf einer Bau­stel­le mit Dir über unse­re Zukunft spre­chen.“ Film­still (59:36) aus 24 Wochen (Ber­ra­ched 2016).

In Nah­auf­nah­me fährt die Kame­ra über Vor­hän­ge und Tages­de­cken, Licht­strah­len blit­zen durch das Gewe­be oder wir erbli­cken durch ihre Lücken die Außen­welt, wenn sich die Figu­ren unter den Stof­fen ver­krie­chen. Vie­le Hand­lun­gen spie­len im engen Raum des Autos. Wenn wie ein Echo auf die­se Sze­nen Clo­se-Ups von Föten­händ­chen im Frucht­was­ser fol­gen, erin­nert uns der Film, dass wir alle gewis­ser­ma­ßen embryo­nal blei­ben: schutz­be­dürf­tig, ange­wie­sen, aus­ge­lie­fert und auf der Suche nach einem ber­gen­den Mutterleib.

Schutz vor der Aussenwelt. Filmstill (56:33) aus <em>24 Wochen</em> (Berrached 2016).
Schutz vor der Aus­sen­welt. Film­still (56:33) aus 24 Wochen (Ber­ra­ched 2016).

Die Moral

Einen sol­chen post­na­ta­len Ute­rus betritt das Paar beim Besuch einer Kran­ken­h­aus­sta­ti­on für Früh­ge­bur­ten, für die alles in dämm­rig-roten Licht und im Flüs­ter­mo­dus gehal­ten ist. Doch auch hier ist Astrid den gesell­schaft­li­chen Druck nicht los. Zwei Müt­ter erken­nen den Pro­mi und loben ihre Ent­schei­dung, das Kind trotz medi­zi­ni­scher Indi­ka­ti­on zu emp­fan­gen. Erneut muss sich die Komi­ke­rin dem mora­lisch gesell­schaft­li­chen Zugriff erweh­ren: „Und was, wenn ich das gar nicht bekom­men will? Gar nicht kann?“

Der Film prä­sen­tiert eine Stu­die über einen Pro­zess, dem die kul­tu­rel­len Vor­bil­der und Tech­ni­ken feh­len, mit der Belas­tung durch die ablau­fen­de Frist umzugehen.

Der Film macht die Zwick­la­ge spür­bar, in der es nur ungu­te Ent­schei­dun­gen gibt. Zugleich ver­weist er auf den bru­ta­len Man­gel gesell­schaft­li­cher Räu­me, die einen unter­stüt­zen, die­ses unlös­ba­re Dilem­ma aus­zu­hal­ten. Fern­ab von einer Kri­tik an Vater und Mut­ter prä­sen­tiert der Film eine Stu­die über einen Pro­zess, dem die kul­tu­rel­len Vor­bil­der und Tech­ni­ken feh­len, mit der Belas­tung durch die ablau­fen­de Frist über­haupt umzugehen.

Der Beruf

Astrid ver­sucht, ihre Come­dy-Ein­la­gen wei­ter auf­zu­füh­ren. Live auf der Büh­ne ist kei­ne Zeit für Zwei­fel, kei­ne Zeit für Unsi­cher­heit, kei­ne Zeit für Trau­rig­keit. Im Schein­wer­fer­licht vor das Publi­kum gewor­fen blei­ben Astrid die Wor­te im Hals ste­cken, sie flieht. „Für sol­che Befind­lich­kei­ten ist es jetzt zu spät!“, ruft eine Redak­teu­rin, „die muss jetzt raus! Die hat ´nen Ver­trag unter­schrie­ben!“ Als wäre das Fern­seh­stu­dio eine Gebär­ma­schi­ne, die in knap­per Zeit feh­ler­frei pro­du­zie­ren muss. Wie in die­se Welt ein Kind mit Down-Syn­drom und Herz­de­fekt setzen?

"Für solche Befindlichkeiten ist es jetzt zu spät!" Filmstill (58:43) aus <em>24 Wochen</em> (Berrached 2016).
„Für sol­che Befind­lich­kei­ten ist es jetzt zu spät!“ Film­still (58:43) aus 24 Wochen (Ber­ra­ched 2016).

Sta­tis­tisch trei­ben 90 Pro­zent der Schwan­ge­ren bei einer Dia­gno­se des Kin­des mit Down-Syn­drom ab. Gespro­chen wird dar­über so gut wie gar nicht. Dabei wäre ein Aus­tausch, wie mit der abge­lau­fe­nen Zeit umzu­ge­hen und wie Abschied zu neh­men ist, wich­tig. Ansons­ten bleibt unge­sagt, wie vor­be­halt­lo­se Heb­am­men hel­fen, wenn sie für die not­wen­di­ge Trau­er­ar­beit Fuß­ab­drü­cke nach der stil­len Geburt neh­men. Und wie trös­tend der nicht-beschwich­ti­gen­de Bei­stand nächs­ter Per­so­nen ist. „Wie lan­ge bleibst du?“ fragt Astrid Mar­kus vor ihrem Ein­griff. „Bis zum Schluss.“

Lite­ra­tur

Ber­ra­ched, Anne Zohra. 2016. 24 Wochen, Zero One Film et. al.

Bol­tan­ski, Luc. 2007. Sozio­lo­gie der Abtrei­bung. Zur Lage des föta­len Lebens. Frank­furt am Main.

But­ler, Judith. 1993. Bodies that mat­ter. New York.

Köh­ne, Julia Bar­ba­ra. 2018. „Absen­tes ver­ge­gen­wär­ti­gen. Schwan­ger­schafts­ab­bruch und Föt­a­li­ma­go­lo­gie in west­li­chen Film­kul­tu­ren seit den 1960er Jah­ren“. Basa­ran, Aylin; Köh­ne, Julia B.; Sabo, Klau­di­ja; Wie­der, Chris­ti­na (Hrsg.). Sexua­li­tät und Wider­stand. Inter­na­tio­na­le Film­kul­tu­ren. Wien.

Bild­nach­weis

© Fabia Zin­del, Matrix.

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