Vademecum
- Warum schrumpft die Gegenwart?
- Was ist Prävention, was ist Präemption?
- In welchem Kapitalismus leben wir?
Ein Spaziergang mit Armen Avanessian.
Armen Avanessian ist Philosoph und fordert die Beschleunigung des sozialen und technischen Wandels. Im deutschsprachigen Raum ist er der bekannteste Vertreter des sogenannten Akzelerationismus – einer Denkströmung, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln überholen will. Passend zu seinem Anliegen denkt und spricht Armen schnell, sehr schnell.

Wir beginnen das Gespräch mit einer Frage, die uns der Soziologe Michael Guggenheim an Armen auf den Weg gegeben hat: „Was passiert, wenn Du langsam denkst?“
Armen: Wenn ich langsam denke? Da muss ich mich langsam ins Denken hineinreden. Jetzt, wenn wir so reden, kombiniere ich, was ich schon einmal gedacht, gelesen oder geschrieben habe. Ich weiß nicht, ob das „denken“ ist, weil Denken ja immer so emphatisch die Produktion von etwas Neuem impliziert.
AV: Denken im Sinne von Ausdenken?
Armen: Bei „Ausdenken“ schwingt auch immer mit, dass das Gedachte etwas Erfundenes ist. Jedenfalls denke ich vorwiegend beim Schreiben. Und das ist keine schnelle, sondern eine langsame und mühsame Praxis, besonders das Schreiben von Büchern. Ich brauche immer die Perspektive von mindestens einem Jahr, um in ein Thema hineinzukommen. Daneben führe ich ein sehr hektisches Leben.
AV: Du denkst also im Medium der Schrift?
Armen: Ich fremdle mit einem Begriff des Denkens, der von jeder Materialität losgelöst ist. In welchen Materien und Techniken denken wir? Vielleicht lässt sich das Denken beschleunigen oder es lässt sich produktiver denken, wenn wir online oder gemeinsam schreiben. Allerdings gibt es auch Wochen und Monate, in denen einem nichts einfällt. Und dann gibt es Zeiten, in denen es einfach sprudelt. Denken ist für mich eher eine Frage der Produktivität als der Schnelligkeit.
AV: Du meintest kürzlich, wir hätten keinen positiven Zukunftsbegriff mehr. Können wir nicht mehr auf eine Zukunft hoffen, in der sich gut aufklärerisch all unsere Probleme lösen werden?

Mahan (Hg.). 2018. Ethnofuturismen. Leipzig.
Armen: In Europa, wo sich die Aufklärung historisch entwickelt hat, fehlt heute die entsprechende Zuversicht. Das Versprechen der Aufklärung, die Menschen könnten kraft ihres Wissens und des technischen Fortschritts ein besseres Leben erreichen, gilt als naiv. Ich glaube, dass wir, nicht zuletzt in den Geistes- und Sozialwissenschaften, mit diesem Pessimismus über das Ziel hinausgeschossen sind. Wir haben jede Form des Fortschritts allzu skeptisch beäugt und zu schnell dekonstruiert.
Eben habe ich mich mit Ethnofuturismen beschäftigt. Mich interessierte das Auftauchen von starken Zukunftskonzepten in Kulturen, von denen wir Europäer*innen seit der Aufklärung behaupten, sie hätten gar kein Geschichts‑, geschweige denn ein Zukunftsverständnis. Phänomene wie der Afro- oder Sinofuturismus widersprechen dieser eurozentrischen Verurteilung diametral.
Ich glaube, dass wir, nicht zuletzt in den Geistes- und Sozialwissenschaften, mit diesem Pessimismus über das Ziel hinausgeschossen sind.
AV: Wenn wir nicht von der Zukunft, sondern von den vielen kleinen Zukünften sprechen, so tauchen auch diese innerhalb eines negativen Horizonts auf. Es sind meistens Zukünfte, die es zu verhindern gilt, etwa den nächsten Börsencrash, die nächste Pandemie oder die Totalüberwachung durch Techunternehmen. Wissenschaft und Politik tun dann ihr Möglichstes, die Gegenwart so zu reformieren, damit diese Zukünfte sich nicht ereignen können.
Armen: Es gibt verschiedene Wege, um über die Zukunft nachzudenken. Der erste ist die Prädiktion oder Prognose, die Vorhersage also. Ein anderer die Prävention: Aus einem negativen Zukunftsverständnis heraus versucht man etwas zu vermeiden. Ein dritter ist die Präemption – und die interessiert mich besonders. Hier überwältigt die Zukunft die Gegenwart. In diesem Fall haben wir es mit zu viel Zukünften zu tun, um sie noch sinnvoll in unsere Gegenwart integrieren zu können. Dank der Digitalisierung haben wir es vermehrt mit dieser präemptiven Situation zu tun. Computer bieten uns mehr Zukünfte an, als wir wählen können. Sie bestimmen aus der Zukunft heraus Dinge, über die wir selbst gar nicht mehr verfügen können.
Computer bestimmen aus der Zukunft heraus Dinge, über die wir selbst gar nicht mehr verfügen können.
AV: Sind wir an einen Punkt gelangt, an dem die meisten Menschen eine Gestaltungsohnmacht empfinden, einen Verlust an Chancen in das Geschehen eingreifen zu können?
Armen: Das ist der psychologische Effekt einer Vielzahl an Möglichkeiten: Einen swipe oder click entfernt wartet schon die nächste Ablenkung.
AV: Sitzen wir in der Kapitalismusfalle? Können wir statt gestalten nur noch konsumieren? Fredric Jameson meinte einst, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus …
Armen: Vorausgesetzt, es gibt noch das, was wir Kapitalismus nennen. Heute haben wir es eher mit einem Postkapitalismus oder Finanzfeudalismus zu tun. Ich bin noch mit einem Kapitalismus aufgewachsen, in dem es Arbeiter gab, die aus Rohstoffen Produkte produzierten, die mehr oder weniger teuer verkauft wurden. Heute haben wir eine in vielem davon losgelöste Ökonomie, eine spekulative Finanzindustrie, mit einer der Präemption analogen spekulativen Zeitlichkeit: Annahmen über die Zukunft entscheiden über die Gegenwart, und sie tun es in einer für Menschen nicht mehr nachvollziehbaren Geschwindigkeit. Ein Ende davon können wir uns kaum vorstellen, weil wir es noch nicht begriffen haben.
Nicht mehr der Mensch gibt die Zeit vor.
Wir leben also nicht nur einer komplexen, sondern in einer zeitkomplexen Welt. Nicht mehr der Mensch gibt die Zeit vor. Stattdessen leben wir in technologischen Konglomeraten, die nicht mehr wie wir aus unserer physischen Gegenwart heraus denken. Jetzt, in diesem Augenblick spazieren wir durch den Wald und blicken in etwas, was wir Zukunft nennen. Maschinen und Algorithmen tun das nicht. Sie interessieren sich nicht für unsere Gegenwart, sondern nur für all die künftigen Optionen, die sie fortwährend neu berechnen. Im Vergleich dazu fühlt sich unser gegenwartsbezogenes Denken asynchron an. Und das empfinden wir als Gegenwartsverlust.
Zwischen dem, was wir uns vorstellen, und dem, was eintreten wird, gibt es keinen Abstand mehr. Eine präemptive Steuerung der Gegenwart aus der Zukunft heraus schließt diesen Freiheitsspielraum. Von Präemptionskriegen beispielsweise wird oft gesagt, sie seien präventiv. In Wahrheit sind sie präemptiv: Sie stellen das Problem her, von dem sie behaupten, sie würden es vermeiden.
AV: Der Begriff des präemptiven Kriegs tauchte ja insbesondere im Vorfeld des dritten Irakkriegs unter George W. Bush auf.
Armen: Präemptiv kann auch Polizeiarbeit sein. Racial profiling beispielsweise führt zu Aktionen, die sich dann in der Statistik bewahrheiten. Wenn man immer nur in einer black community nach Drogen sucht, dann findet man auch nur hier welche. Der Film Minority Report (Spielberg 2002), der auf eine Kurzgeschichte von Philip K. Dick zurückgeht, ist das Beispiel aus der Populärkultur. Hier sehen sogenannte „Precogs“ Verbrechen voraus, von denen die mutmaßlichen Täter*innen noch keine Ahnung haben, dass sie sie begehen werden. Dennoch gelten sie jetzt schon als schuldig und werden verurteilt. Die Zukunft überwältigt hier die Gegenwart. Dieser wird die Möglichkeit genommen, sich zu ereignen. Zwischen einer möglichen Zukunftsannahme durch den Algorithmus und der tatsächlichen Zukunft, in der sich jemand entscheiden kann, gibt es keinen Spielraum mehr. Diese Verknappung der Gegenwart ist spezifisch für die medientechnischen und medienpolitischen Voraussetzungen dieser Gesellschaft.
AV: Ein weiterer zeitlicher Spielraum, der algorithmisch verknappt wird, betrifft unser Konsumverhalten. Wir kaufen etwas, daraus lernen die Algorithmen und entwerfen ein weiteres Konsumverhalten. Hier haben wir eine fortwährende Kybernetik des Entwerfens, Verwerfens und Realisierens.
Armen: Für mich besteht Kybernetik in rekursiven Schleifen, in denen Teile so in einen Prozess integriert sind, dass sie das Ganze verändern. Dieses rekursive Modell unterscheidet sich von einem reflexiven Modell, in dem zwei Pole sich gegenüberstehen und der eine Pol den anderen spiegelt oder über ihn nachdenkt. Mit letzterem Modell tun wir uns als Menschen leichter. Wir können aus der Zukunft die Gegenwart reflektieren oder, umgekehrt, von der Gegenwart aus über die Zukunft nachdenken.
Dagegen fällt es uns schwer, uns als Teil einer rekursiven Schleife zu verstehen, in der unsere Gegenwarten lediglich Material für umfassende algorithmische Prozesse der Zukunftsgestaltung sind. Als Individuen und als Gesellschaft haben wir noch nicht gelernt, mit diesen Technologien und Modellen umzugehen – auch nicht damit, dass Simulationen und Prognosen sich als falsch erweisen, gerade weil wir ihre Warnungen ernst genommen haben. Die Rekursivität erschwert zudem, nachträglich herausfinden zu wollen, welcher Teil das Ganze wie beeinflusst hat: Ist Trump jetzt wegen Cambridge Analytica oder Putin oder irgendwelchen montenegrinischen Hackern gewählt worden?
AV: Das hört sich stark nach technologischem Determinismus an. Die Technik eilt voraus, wir hinterher…
Armen: An diesem Punkt stehen wir aber. Wir stehen noch ganz am Anfang eines Lernprozesses, progressiv mit diesen Technologien umzugehen. In der Medizin klappt das schon ganz gut. Während wir früher zum Arzt gingen, der den schwarzen Fleck auf der Haut begutachtete und die Diagnose „Hautkrebs“ stellte, beugen wir mittels proaktiver Medizin der ärztlichen Diagnose vor. Unser Wissen um die eigene DNA oder um den eigenen Hauttyp lässt uns auf unsere Haut achtgeben, noch bevor ein schwarzer Fleck auftritt. Wir haben zu handeln gelernt, bevor etwas eintritt.
Statt mit der Technik über die Technik hinauszugelangen, suchen wir Erlösung in Entschleunigung und Achtsamkeit.
In der Politik, aber auch im Konsum hinken wir weit hinterher. Statt mit der Technik über die Technik hinauszugelangen, suchen wir Erlösung in Entschleunigung und Achtsamkeit. Ich bin ein Gegner dieser Kulte, da sie immer mit Technologiefeindlichkeit zu tun haben. Als Individuen und als Gesellschaft haben wir also noch gar nicht begonnen, die Möglichkeiten der neuen Technologien zu nutzen. Das müssen wir lernen.
AV: Was schlägst Du vor? Partizipative Technikgestaltung? Oder das Hacken von Plattformen wie facebook, Uber oder Airbnb?
Armen: Akzelerationistisch würde ich fordern, das progressive Potential dieser Plattformen zu beschleunigen – zum Wohl aller. Plattformen wie Amazon oder Uber können wir ja kaum mehr im Sinne des klassischen Kapitalismus verhandeln: Amazon produziert keine Bücher, Uber besitzt keine Autos. Jedenfalls wird das egalitäre und soziale Potential der diesen Plattformen zugrunde liegenden Algorithmen gar nicht genutzt. Deshalb stimme ich zu, diesen Plattformkapitalismus in einen Plattformkooperativismus zu transformieren.
AV: Paul Virilio unterscheidet zwischen Exo- und Endokolonialismus. Im ersten Fall geht es um billige Arbeitskräfte am andern Ende der Welt. Im zweiten um eine Ausbeutung unserer selbst. Uber und Airbnb scheinen da auf eine moderne Form des Endokolonialismus zu setzen. Sie produzieren nichts Neues, sondern schöpfen nur ab, was Individuen mit ihren Autos und ihren Wohnungen schon selbst bewirtschaften.
Armen: Das Elend kommt im Zentrum an. Natürlich stammen die Rohstoffe für unser Handy weiterhin aus der Peripherie, meist aus Afrika, natürlich werden sie weiterhin in der Semiperipherie verarbeitet. Verdient wird damit weiterhin im Zentrum – sei es Zürich, Silicon Valley oder New York. Aber das Ganze wird brüchig und die sozialen Revolten kommen, nach einer kurzen Pause nach dem Zweiten Weltkrieg, zunehmend wieder im Zentrum an.
Das Elend kommt im Zentrum an.
AV: Wenn es nun darum ginge, eine progressive Zukunft zu denken, in der wir Algorithmen entwerfen, die eine Sorgfalt gegenüber der Welt und gegenüber nachkommenden Generationen walten lassen – wie sähe die Zukunft aus?
Armen: Zwar ist es immer noch so, dass wir die Algorithmen programmieren – mit unseren Interessen, mit unseren blinden Flecken, mit unseren Fehlern und unserer Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft. Nun haben wir es angesichts von IT mit immens beschleunigten Denkprozessen zu tun. Das Silizium hat begonnen, über sich selbst nachzudenken. Die Frage nach zukünftigen Generationen wird das Silizium kaum kümmern. Warum sollten diese schnellen Denkstrukturen auf eine veraltete Denkmaschine wie den Menschen noch Rücksicht nehmen? Es ist ja nicht so, dass wir Rücksicht auf diejenigen genommen hätten oder nehmen, die langsamer gedacht haben als wir. Ich glaube von daher rührt auch vieles in der irrationalen Angst vor Künstlicher Intelligenz.
AV: Das hört sich sehr nach einer Verselbständigung der Technik an …
Armen: Ich will keinem brutalen Posthumanismus das Wort reden – im Sinne von: Wir haben den Löffel abgegeben, jetzt werden uns die Maschinen regieren. Mir liegt daran, dass wir nicht mehr Zeit‑, sondern Zukunftsgenoss*innen werden. Wir müssen als Gattung über die Jahrhunderte in die Zukunft denken lernen. Noch denken wir an den nächsten Tag oder an das Leben unserer Kinder. Aber darüber hinaus tun wir uns schwer, also wenn wir überhaupt ein Interesse haben. Und exponentielle Entwicklungen wie den Klimawandel können wir überhaupt nicht verarbeiten. Politische Institutionen tun sich schwer, zukünftige Generationen in ihre Entscheidungsfindungen zu integrieren.
Eine Politik für Menschen, die erst in 300 Jahren wählen werden, scheint noch völlig abwegig.
Natürlich könnte man sagen, Familien mit drei Kindern bekommen drei Stimmen mehr. Aber das sind nur erste Ansätze. Doch sie reichen auch nicht weiter als 70 Jahre. Eine Politik für Menschen, die erst in 300 Jahren wählen werden, scheint noch völlig abwegig. Das sind nicht einfach nur die Fehltritte verblendeter Politiker oder die Versäumnisse einer Generation unter dem Einfluss gieriger Kapitalisten. Sondern das ist ein Geschwindigkeitsproblem und zwar ein gattungsspezifisches.
AV: Angenommen, es würde sich die historisch einmalige Gelegenheit auftun, die Zukunft neu zu gestalten und die Algorithmen neu zu programmieren – was könnte das Ziel davon sein?
Armen: Vielleicht eine radikale Umverteilung und massive Besteuerung der zunehmend monopolistisch und undemokratisch agierenden GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft)? Nicht dass dann jeder in so einem Häuschen wie hier auf dem Zürichberg leben könnte, aber das allgemeine Lebensniveau würde sich dann schon radikal verbessern.
Bildnachweis
© Fabia Zindel, Matrix.
uncode-placeholder
Herausgeber*innen
Anmerkung: Die Herausgeber*innen der Avenue lancierten zu Weihnachten 2020 die Initiative Salz + Kunst als Antwort auf die Einschränkung des künstlerischen Lebens während der Corona-Pandemie. Im Sinne von art on demand vermittelt die Plattform Kunststücke nahezu aller Kunstsparten in den privaten Raum: ein Jodel im Vorgarten, ein philosophisches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whatsapp, ein Violinkonzert auf dem Balkon …
Ein toller Satz…
Ich würde ihn in einem Gibson-Roman als Selbstbeschreibung des „Neuromancers“ erwarten. Aber eben auch dort, im Rahmen einer Cyberpunk-Fiktion, nicht in dem der Philosophie.
In diesem Rahmen jedoch stelle ich mir die Frage, ob hier nicht über die Zeitachse akzelerationistisch-vorschnell etwas verlebendigt wird, was eben noch nicht lebendig ist (und es vielleicht auch niemals sein wird).
Denn wie wäre das Angebot von zu vielen Zukünften durch „den Computer“ denkbar, wenn nicht über die Implikation einer technischen Entwicklung oder vielmehr Befreiung vom Menschen? Generell scheint mir „der Computer“ diesbezüglich ohnehin eine seltsame Verlebendigung und ein befremdliches Standin für einen Schicksalsgott mit ADHS-Störung. Denn schließlich reden wir ja noch immer über einen Kasten, der ohne den menschlichen Faktor herzlich wenig vermag. Und auch die Mechanismen „des Netzes“ sind doch letztendlich auf menschliche Ursachen zurückzuführen (zumindest hoffe ich das).
Ich habe da eventuell wirklich etwas nicht verstanden… Denn als Cyberpunk-Fantasie würden mir diese Gedanken wirklich weitaus besser munden. Als Philosophie lassen sie mich persönlich eher die Handbremse ziehen, um nicht über das Ziel hinauszuschnellen.