Als Klaus Theweleits Doktorarbeit Männerphantasien (1977; 1978) erschien, waren wir Avenues gerade frisch auf dieser Welt.
Fast 40 Jahre später, an einem warmen Novembertag im Jahre 2015: Klaus Theweleit und seine Frau Monika Kubale-Theweleit empfangen uns in ihrem Zuhause in Freiburg. Ihr Häuschen wirkt wie wie ein Bild für das Leben zweier Gelehrter, die ihrer unbequemen Geistesarbeit unbeirrt nachgegangen sind: Immer ist am Haus etwas daran gebaut worden – da ist ein neues Fenster hinzu‑, dort eine Wand weggekommen.
Klaus Theweleit spricht mit uns über den technologischen Menschen, seine Geschichte, seine Zukunft und unserem Begehren nach der Cyborg.
Avenue: Menschen gehen innige Beziehungen zu ihren technischen Geräten ein. Herr Theweleit, wie weit ist Ihre eigene Cyborgisierung gediehen?
Klaus Theweleit: Nicht so weit, oder wenn, dann auf anderer Ebene. Das Handy benutze ich nur im Urlaub oder wenn mein Zug sich verspätet. Auch kein Armband mit Schrittzähler oder Herzmessung. Die junge Generation ist da mit smart phone etc. längst in einer anderen Dimension.
Avenue: Wirkt dieses Gerät nicht paradox? Einerseits erzieht es uns zu Narzissten. Andererseits ist es eine Art Sozialtechnologie, mit der wir uns vernetzen – sozialer können wir gar nicht werden.
Theweleit: Ich glaube, mit der psychoanalytischen Begrifflichkeit, speziell mit dem ‚Narzissmus‘-Begriff, kommt man nicht weit. ‚Narzissmus‘ ist ein Begriff wie ‚Selbstbefriedigung‘ – er bezeichnet eine Million Phänomene. Doch der Begriff ‚Soziale Medien‘ hat tatsächlich etwas Paradoxes.

Wir waren 2013 an der University of Virginia, Charlottesville. Charlottesville hat 40’000 Einwohner und fast 30’000 Studierende. Wenn ich auf dem Campus auf den Bus gewartet habe, habe ich gezählt, wer ein smart phone in der Hand hat. Von Hundert war es etwa die Hälfte, meist mit eingestöpselten ear phones. Die andere Hälfte hatte natürlich auch eins, aber eben in der Tasche. Im Bus kaum Gespräche. Alle sitzen dort mit ihrem Gerät und lächeln die SMS an, die sie bekommen. Offenbar schreiben die Menschen eher freundliche SMS. Dieses Lächeln ist sehr intim und doch öffentlich. Und vielleicht erntet dieses Lächeln keine Person, die es wirklich sehen sollte. Dass man gleichzeitig unter immenser Kontrolle steht, scheint niemandem bewusst. Es kann ja jederzeit überprüft werden, wo ich mich aufhalte, was ich tue.
Avenue: Nun kann man ja die Zweitperson, die man in den Sozialen Medien ist, Sachen tun lassen, die man selber nicht macht. Unser Alter Ego auf Facebook ist sehr politisch …
Theweleit: Auf Facebook bin ich nicht. Ich unterzeichne allerdings alle möglichen Petitionen im Netz.
Avenue: Sie schreiben gerade den dritten Band ihres Pocahontas-Komplexes …
Theweleit: Ja, Bd.1, Bd. 2 und Bd. 4 gibt es schon …
Avenue: Der dritte Band trägt den Titel „Warum Cortez wirklich siegte“ und den Untertitel „Technologiegeschichte der Eurasiatischen Kultur“. Ist Technologiegeschichte letztlich eine Geschichte der zunehmenden Cyborgisierung, das heisst eine Geschichte unserer zunehmenden Verschmelzung mit Technologie?
Theweleit: Etwa 12’000 vor unserer Zeitrechnung werden Menschen auf dem sogenannten fruchtbaren Halbmond erstmals sesshaft. Dort und in Zentralasien beginnt gleichzeitig die Domestikation von Haustieren. Zunächst wird der Hund domestiziert, dann das Schaf, die Ziege, das Geflügel, das Rind – bis um 5’000 v. Chr. das Pferd hinzukommt. Alle die Tiere, die überhaupt domestiziert werden können, werden bis dahin ausprobiert: Antilope geht nicht, Löwe geht nicht … . Das ist ein richtiges, 5’000 Jahre dauerndes Züchtungs- und Forschungsprogramm. Jared Diamond hat es in Guns, Germs and Steel (1997) beschrieben.
Ich benutze vor allem zwei Begriffe, um dieses Programm als technologischen Prozess zu beschreiben. Der erste ist Auswählen: Man nimmt ein Segment aus dem, was da ist. Wenn man herausgefunden hat, dass es funktioniert, setzt man es fort: Das heisst, man erstellt eine Sequenz. Die Folge Segment-Sequenz ist ein technologischer Prozess. Die Züchtung von Getreide folgt demselben technologischen Segment-Sequenz-Prozess. Von diesem frühen Zeitpunkt an erschaffen die Menschen bereits ihre Lebensumgebung von selbst. Die Natur ist nur noch für die Bedingungen zuständig, für Katastrophen oder den notwendigen Regen. Das heutige Gerede von Ganzheitlichkeit und Natur ist deshalb ein bodenloser Blödsinn.

Segmentieren und Sequenzieren wiederholt sich mit der Entdeckung der Metallschmelze – wieder in der gleichen Kultur: Zentralasien bis Indien, fruchtbarer Halbmond. Ich denke, dass die Metallschmelze in diesen Gebieten möglich wurde, weil die Menschen diesen Segment-Sequenz-Prozess bereits aus der Domestikation von Tieren in ihren Körpern und Gehirnen hatten. Schon bald danach kommt das phonetische Alphabet. Das griechische Alphabet ist die Zuspitzung dieser Entwicklung: 26 Segmente, mit denen man die Welt erzählen kann. Marshall McLuhan sagt: Das ist die erste Tonbandtechnologie.
Nach dem Alphabet kommt die Geometrie mit der Entwicklung des europäischen Harmonie-Systems. Die Musik kommt aus der Geometrie wie die Navigation. Mit der Navigation entstehen unsere Landkarten; Längen- und Breitengrade schaffen nichts anderes als die Segmentierung der Welt. Die Perspektivierung in der Renaissance ist dann der nächste Schritt – sie setzt das betrachtende Ich in den Mittelpunkt der Welt und wird damit zur technologischen Grundlage der sich nun zügig entwickelnden Kolonisierung der Welt durch Europäer.
Avenue: Was aber geschieht durch diesen technologischen Segment-Sequenz-Prozess mit dem Menschen? Sequenzialisiert oder segmentiert er sich sogar selbst im Zuge dieser Entwicklung von Technologien?
Theweleit: Bereits der Renaissance-Mensch Cortez verkörpert in seinem Ich all diese diversen Technologien. Was ich beim heutigen Menschen unserer Kultur als „Segment-Ich“ bezeichne, ist in ihm schon angelegt. Cortez setzt z.B. Religion vollkommen strategisch ein, um die Azteken zu beeindrucken oder zu bescheissen. Er bringt Hengste zum Wiehern, die er hinter einer Zeltwand verbirgt und erzählt den Azteken, im angsterregenden Benehmen der Pferde würde sich der Zorn des Christengottes über die falsche Religion der Indios zeigen. ‚Gläubig‘ ist er vielleicht eine Stunde am Tag: wenn er betet und Gott um den Sieg in der bevorstehenden Schlacht bittet. Danach ist er Feldherr und besteigt sein Pferd, um Indios zu schlachten. Er ist ausserdem Seemann, Mathematiker, kennt die Sterne; und er ist studierter Jurist. Die Conquistadoren sind schon als „Strauchdiebe“ bezeichnet worden. Das ist kompletter Quatsch.
Conquistadoren sind hoch entwickelte, technologische Wesen, Spitzenwesen.
Conquistadoren sind hochentwickelte, technologische Wesen, Spitzenwesen ihrer Zeit. Sie üben einfach zu verschiedenen Tageszeiten unterschiedliche Funktionen aus. Also das, was für den heutigen Mittelstandsmenschen ganz selbstverständlich erscheint: er – nehmen wir einen Familienvater – scherzt beim Frühstück mit Frau und Kindern, bringt sie zur Schule und vereinbart auf dem Weg ins Büro ein Date mit seiner Geliebten; im Büro angekommen macht er einen Aktiendeal unter der Beteiligung von Waffenverkäufen, eine Stunde darauf spendet er für hungernde Kinder in Afrika. Das nannte man früher „Spaltung“ – zur Zeit Freuds bezeichnet Spaltung noch eine Pathologie – etwas in Richtung Schizophrenie. Heute lebt das Segment-Ich solche Spaltungen ohne Pathologie. Die Leute, die heute am besten funktionieren, sind diejenigen, die diese verschiedenen Stadien am Tag am besten voneinander trennen können: Das dominante Segment-Ich. Der oberflächliche Begriff für dieses Management des Ichs heute ist wohl ‚Multitasking‘.
Avenue: Also ist man für sich selbst Segment-Ich, während man für alle anderen ein und dieselbe Person ist. In sozialen Medien haben wir ja Avatare. Sind diese Surrogate die Bedingung dafür, dass andere uns als ganze, gleiche Person wahrnehmen?
Theweleit: Nun, wir behalten ja auch alle unseren Namen bei. Was dahinter für eine Person steckt, wissen wir nicht. Sie schreibt unter diesem Namen und hat manchmal auch zusammenhängende Meinungen. Wir sind einfach gewohnt – das ist unsere erworbene Kulturtechnik –, aus unserer Wahrnehmung die andere Person zu konstruieren; sei es aus Texten im Netz sowie aus optischer oder akustischer Wahrnehmung.
Ungeklärter Punkt ist, welche sexuellen Komponenten die Bedienung von unserem Handy hat.
An Liebesverhältnissen z. B ist nicht einfach festzustellen, welche Anteile einer Person sich einander tatsächlich lieben. Viele Paare sind beruflich getrennt. Wenn sie das akzeptieren, vermissen sie den Partner an mehreren Tagen in der Woche nicht. Womöglich haben sie noch ein anderes sexuelles Verhältnis, sie gehen zu Prostituierten oder auch nicht. Vielleicht sind sie an drei Tagen in der Woche ja auch einfach in der Weise nicht sexuell. Es gibt ja verschiedene Formen von Sexualität. Ungeklärter Punkt ist, welche sexuellen Komponenten die Bedienung von unserem Handy hat. Es ist anzunehmen, dass sich hier neue Formen von Sexualität entwickeln. So wie ich das für die Freikorps-Soldaten beschrieben habe: dass ihre Liebe zum Pferd oder auch die Liebe zu ihren Waffen jene zu ihren Frauen übersteigt.
Avenue: Technik wird also libidinös besetzt?
Theweleit: Das lässt sich im Moment u.a. bei den Angehörigen des IS beobachten. Sie haben zwar Frauen, aber in nachgeordneten Funktionen. Die Frauen sind verschleiert, separiert, in ihrem Bereich aufbewahrt und werden sexuell oder für Hausarbeiten benutzt. Möglicherweise ist das auch eine Form von Cyborg-Sexualität, dieses: Ich liebe mein Gewehr oder den gefilmten Tötungsvorgang mehr als meine Frau.
Avenue: Wir haben vorhin über Technologien als Resultat eines Segment-Sequenz-Prozesses gesprochen. Was die Sequenzialisierung bzw. Serialisierung angeht, hat sich uns eine Frage aufgedrängt: Wir haben Bilder von männlichen und weiblichen Cyborgs auf dem Netz gesucht – und uns über die sexuellen Konnotationen dieser Wesen gewundert. Wir haben uns gefragt, ob diese Cyborgs nicht eine ‚Sexualität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit‘ veranschaulichen. Frauenkörper wirken dabei stets uniformiert und in ihrer Sexualität serialisiert. Männerkörper hingegen erscheinen als die serielle Produktion des Kriegers.

Theweleit: Kehren wir zunächst zum ‚Ich‘ zurück. Das Ich, das biographisch erzählbar ist als Ganzheitsfigur, entsteht in der Folge von Rousseau und der englischen Romanschreiber dann weiter bei Goethe, Jean Paul bis hin zu Thomas Mann und den vielen anderen Romanautoren als genau jenes Ich, das Freud ins Zentrum seiner psychoanalytischen Konstruktionen stellt. Es beginnt sich wieder aufzulösen bei den ‚Modernen‘, bei Musil, Joyce oder Kafka; heute erscheint es als historische Erfindung des europäischen Romans.
Avenue: Zugleich wird die (weibliche) Ich-Figur auch in der Romantik als Puppe oder Marionette vorgeführt.
Theweleit: Jean Paul schreibt über die Gliederpuppe; auch Edgar Allen Poe oder E.T.A Hoffmann. Schon sehr bald nachdem die weibliche Ich-Figur in der klassischen Literatur aufgebaut ist, wird sie wieder demontiert und zu einer technologisch produzierten Gliederpuppe gemacht. Beide sind kulturell hergestellte Figuren. Wenn man das in den Mittelpunkt stellt, landet man beim ‚romantischen‘ Horror.
Avenue: Also wird die weibliche Cyborg schon ziemlich lange als reproduzierbare und zur Liebe einladende Technik dargestellt. Wenn wir die Vielzahl an Bildern von weiblichen Cyborgs betrachten, sehen wir diese glänzenden Oberflächen, Rüstungen, auf denen sich der Blick des Mannes spiegelt. Ist es die Stahlperfektion als Projektionsfläche, die dazu einlädt, libidinös besetzt zu werden?
Wenn ich etwas verbieten könnte, dann das Wort ‚virtuell‘. ‚Virtuelle Realitäten‘ gibt es nicht. Das sind technologische Realitäten, die genauso real sind wie jedes Biologische oder Naturhafte auch.
Theweleit: Lädt sie dazu ein? Mich persönlich stösst sie eher ab, ebenso wie die Ästhetik von video games. Wenn ich technologisch produzierte Menschen gern gesehen habe, dann im Kino. In all diesen Leinwand-Figuren mit dem Charme erweckter Toter. Cary Grant beispielsweise ist heute ja dort, was man früher den Hades nannte. Doch auf der Leinwand läuft er lebendig herum, lebendiger als lebendige Menschen, die man kennt. Im Kino wurde das Leben wirklicher als das wirkliche Leben. Wenn ich etwas verbieten könnte, dann das Wort ‚virtuell‘. ‚Virtuelle Realitäten‘ gibt es nicht. Das sind technologische Realitäten, die genauso real sind wie jedes Biologische oder Naturhafte auch. Jugendliche heute wachsen teils eher in einer technologischen Realität auf als körperhaft verbunden mit anderen Menschen.

Avenue: Sie sagen, Sie würden von bestimmten Bildern, etwa denen in Videospielen, abgestossen. Was kann aber das Begehren sein, das – für viele andere – dahinter steckt? Sind solche Bilder Reflex einer Angst angesichts unserer zunehmenden Technisierung?
Theweleit: Das ist schwer zu beantworten. Vielleicht hilft es aber, einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Videospiel-Ästhetik zu werfen. Sie entstand aus der Nutzung eines gesellschaftlichen Vakuums. Bei der Einführung unserer elektronischen Informationstechnologien gab es ja zunächst nur Abwehr. All die Naturverbundenen und Grünwerdenden der 70er und 80er Jahre waren zwanghaft antitechnologisch und voll vor allem gegen ‚Computer‘ eingestellt – sowohl die Abgeordneten wie auch unsere Lehrer. Bis heute dürfen Schüler meist nichts aus der Wikipedia übernehmen. Wie bescheuert! Warum soll das Kind in die Bibliothek? Auf dem Netz steht doch alles – und nicht einmal so schlecht.
Eine Technologie verschwindet nicht, indem man sie ignoriert oder verteufelt. Man überlässt sie damit nur Gangstern, die fröhlich dieses Feld besetzen.
Auf die neuen Informationstechnologien wurde dumm reagiert; konkret: der Umgang mit ihnen wurde einem gesellschaftlichen Vakuum anheimgegeben. In solche Vakua stossen regelmässig Geschäftsleute aus eher kriminellen Sphären vor. Die teils ekelerregende Ästhetik von Videospielen und überhaupt deren ganze Popularität wären nicht entstanden, hätten die Schulen sofort gesagt: „Toll! Her damit! Neue Informationstechnologie!“ Denn das bedeutet – wie alle Menschen ohne Technikphobie wissen: neuen Umgang mit Weltphänomenen aller Sorten. Eine Technologie verschwindet nicht, indem man sie ignoriert oder verteufelt. Man überlässt sie damit nur Gangstern, die fröhlich dieses Feld besetzen.
Avenue: Der defensive Umgang mit Informationstechnologie erzeugt also Angst und Anarchie?
Theweleit: In Das Lachen der Täter (2014) habe ich eine Anmerkung zu politischen Vakua gemacht: Herrschaftsfreie Räume, Anarchien in einem positiven Sinne, können nicht funktionieren. Kaum entsteht ein herrschaftsfreier Raum irgendwo, wird er von Aussen durch bereitstehende Tätergruppen aller Sorten besetzt. Innerhalb einer Gruppe oder eines Gebiets bedarf es also einer minimalen Machtstruktur, die das verhindert. Fehlt diese, kommen sofort Kriminelle. Ein schlagendes Beispiel ist der Islamische Staat. Der IS nennt sich nicht umsonst „Staat“. Er hat sich im Nordirak und in Syrien in den durch Irakkrieg und Bürgerkrieg entstaatlichten Gebieten festgesetzt. Das ist vom Machtdenken her geradezu logisch.
Mit der Gentechnologie passiert im Moment wohl Ähnliches. Die technologische Entwicklung ist auch hier unaufhaltbar; es gibt zudem klare Vorteile von gentechnisch verändertem Reis oder Mais in puncto Sicherstellung der Ernährung sich weiter vermehrender Weltpopulationen. Anstatt dass wir hier sagen würden: „Wir setzen uns an die Spitze dieser Technologie und sorgen für ihren kontrollierten vernünftigen Einsatz“, überlassen wir sie Gangstern wie Monsanto.
Avenue: Wenn man versucht, all das zu verbinden: Man hat einerseits eine Art Cyborg-Reis oder Cyborg-Mais. Was seit 12’000 Jahren gezüchtet wurde, wird jetzt enhanced oder optimiert. Das kann unter staatlicher Kontrolle oder unbeaufsichtigt irgendwo geschehen. Andererseits beobachten Sie die rasante Entwicklung von IT – in einem teils rechtsfreien Raum. Wächst das Segment-Ich ausserhalb von mässigenden und begleitenden Kräften heran?
Theweleit: Nicht nur, und nicht ganz. Es gibt ja seit Mitte der 80er Jahre, der späten Kohl-Zeit, gesetzgebende, gesellschaftsgestaltende Prozesse, die plötzlich viele Dinge erlauben, die früher verboten waren. Die Homosexualität grundsätzlich wird nicht mehr bestraft. Die weibliche Homosexualität wurde über Sportlerinnen wie Martina Navratilova gesellschaftsfähig. Selbst der private Konsum von Kinderpornografie wird entkriminalisiert. Die Menschen treffen sich in Enklaven, die speziell für das Segment-Ich geschaffen wurden – und so hat sich grundsätzlich der Begriff von Freizeit verändert. All die ‚Freizeit’ betreffenden Bereiche sind hochtechnologisiert worden – sei es für Motorradfahrer, Fotografen oder Hobbyornithologen. Sie sind mit einer hochspezifischen Sprache verbunden und mit hochspezifischen technologischen Geräten bestückt.
Avenue: Mit Blick auf Informationstechnologien scheinen diese gesetzgebenden Prozesse das Ich noch nicht gänzlich an die Technologie und ihre spezifischen Enklaven herangeführt zu haben. In vielen Cyborg-Darstellungen zumindest scheint der menschliche Körper noch immer in einer anarchischen oder wenigstens dilemmatischen Beziehung zur Technik zu stehen.

Theweleit: Gerade das ist gut zu sehen an diversen Videospielen. Sie demonstrieren in ihrer altertümelnden Ästhetik auch einen Abwehrreflex gegen etwas technologisch Avanciertes, das ausserhalb ihrer längst im Gange ist. Die Kybernetisierung des Normalmenschen ist ja viel weiter fortgeschritten, als dieser wahrnimmt oder sich träumen lässt. Selbst wenn er sich als Ganzheitsfigur versteht und definiert, ist er nicht denkbar ausserhalb von Technologien und allumfassenden Vernetzungen; insbesondere, was die ‚Gesetze‘ des ‚Geldflusses‘ und seiner Veränderungen betrifft oder den medizinischen Durchforschungsgrad seiner Körperlichkeit. Deshalb vielleicht – aus dieser Widersprüchlichkeit heraus – sucht er diese Bilder und auch das Monströse daran – etwas Monströses haben sie ja meist, sei’s extraterrestrisch oder aus der Unterwelt. Monströse Monster tölpeln herum, wo die eigene Empfindung schon ganz woanders ist: in der Ahnung, dass wir technologisch schon ganz andere Schwellen überschreiten; weit über das smart phone, das unsere Alltagsfunktionen vermisst, hinaus.
Der Punkt, an dem die ‚Wissenschaftler der Welt‘ heute herumdoktern ist doch der, wann und ab wo eine sichere Unterscheidung zwischen ‚fleischlichem‘ und ‚technologischem‘ Körper nicht mehr möglich sein wird – weil elektronische Partikel in den menschlichen Körper eingewandert sein werden. Gibt es nicht längst Menschen, die ‚diesen Chip‘ schon eingepflanzt haben? Und zwar nicht nur im Kino? Nicht wie – noch etwas blöd – in Matrix in Form einer Einstöpselung von Gitarrensteckern. Einen eingepflanzten Chip, der Körperfunktionen übernimmt, kennen wir schon: er steuert beispielsweise Herzrhythmen.
Avenue: Doch welchen technologischen Phantasien oder Visionen folgen wir, wenn wir weiterhin den Pfad dieser Kybernetisierung gehen?
Theweleit: Ian Morris etwa formuliert in seinem Buch Why the West Rules – For Now (2010) eine solche Vision, die mehr ist als nur eine Phantasie. Der letzte Teil seines Buchs rekonstruiert nicht mehr alte Geschichte(n); er bezieht sich auf die Jetztzeit, insbesondere auf die Erderwärmung. Morris legt plausibel dar, dass die Welt in siebzig Jahren ‚am Arsch’ ist, wenn sich demnächst nicht einiges tut – und zwar in Form von Massnahmen, die nur von den heutigen Grossmächten gemeinsam eingeleitet werden können. Doch genau das Gegenteil zeichnet sich ab: Klein- und Gross-Irre führen Kriege um nebensächliche Landstriche, ‚verletzen‘ Lufträume, starten ‚Strafaktionen‘ und klappern mit Atombomben. Morris‘ Schluss: ‚Die Menschen‘ sind zu doof, ihren eigenen Untergang zu verhindern. Sie brauchen ‚den Chip‘. Vernünftig handeln würden sie erst mit einer ungeheuren Gefühls- und Intelligenzpotenzierung durch körperlich eingepflanzte elektronische Chips. Eine Potenzierung, die sie befähigen würde, ihre national, ethnisch oder religiös ‚begründeten‘ dämlichen bewaffneten Kleinhändel einzustellen und damit zu beginnen, die Lebensbedingungen auf dem Planeten zu erhalten.
Erdkatastrophen, vermutlich auch menschgemachte, gab es schon mehrere. Im Unterschied zu diesen hat die heutige ‚Menschheit‘ eine weitreichend berechnete Kenntnis des bevorstehenden Unheils; und zweitens die Möglichkeit, dem Unheil technologisch zu begegnen. Morris Glaube, dass man die Katastrophe (noch) verhindern kann, liegt allein in der Annahme, dass die elektronisch-technologisch erweiterten Denk- und Handlungskapazitäten der nächsten Menschengenerationen in der Lage sein werden, die nötigen Massnahmen durchzusetzen.
Avenue: Eine Menschheitsgeneration, in der die Unterscheidung von ‚biologischem‘ und elektronisch-technologischem Körper hinfällig geworden sein wird? Es geht also um die historische Notwendigkeit, ein Cyborg zu sein …
Theweleit: Genau – gegen den Wahn der kriegerisch bleibenden Nur-Mensch-Institutionen, die zu doof sind, das zu kapieren.
Avenue: Nun gibt es eine Reihe verrückter Transhumanisten, die sagen: unsere Körper sind veraltet, zivilisatorisch abgenutzt. Die Technik muss mit einer genetischen Optimierung einhergehen …
Theweleit: Meinetwegen; aber was heisst denn ‚genetisch‘? Was wollen die denn genetisch optimieren? Typen, die wie in „Matrix“ auf den Feldern wachsen? Wenn man nicht in solche Richtung phantasiert, muss man von den Körpern ausgehen, die da sind. Will man die 7 Milliarden ausrotten und etwas Anderes anstatt ihrer stellen? Dieser Gedanke ist nicht lustig. Besser, man denkt mit den Beständen, die da sind. Auch Morris geht davon aus, dass unsere Gehirne sich weiterhin nach den Eindrücken ausrichten, die unser Körper aufnimmt. Selbst wenn unser fleischlicher Körper technologisch besser ausgerüstet ist, bekommt man diesen Vorgang nicht weg. Er wird nur verändert.
Mir fällt ein Physiker ein, den ich kenne, der sagt, dass die Überholtheit des menschlichen Körpers spätestens mit dem Auto evident geworden sei. Das Auto überfordert den menschlichen Körper total. Nur weil wir es ständig bedienen, malen wir uns das nicht mehr aus. Doch wer mit 160 km/h über die Autobahn brettert, willigt letztlich ein in Selbstmord.
Nun wird demnächst von der Technik des Verbrennungsmotors in die Elektrizität und weiter in die Elektronik mit Schwachstrom übergegangen werden, die mit der Biologie des Körpers in Verbindung treten kann. Der alte Roboter ist ohne Gefühle, ohne Emphatie und damit zumeist eine Horrorfigur in Filmen und Utopien. Dagegen muss der elektronisch ausgerüstete Mensch nicht bedrohlich gedacht werden, sondern als ein Wesen, das das, was bisher Humanität genannt wurde, steigern kann. Man muss Technologie und Körper nicht konträr denken.
Avenue: Schwachstrom-Technologie wäre damit eine Art humanitätssteigernde Psychotechnik?
Theweleit: Man hat nur noch nicht gelernt, sie richtig anzuwenden und ich hoffe, man ist früh genug dran, um hier auch nicht wieder Gangstern das Feld zu überlassen. Wir benötigen dringend humanitäre Upgrades, die uns erlauben zu sagen: Schluss mit diesen desaströsen Kriegen! Schluss mit dieser Männerhelden-Hampelei. An vielen Punkten sind Menschen heute so weit – wenngleich bequem, fernseh- und medienabhängig und segmentiert genug um zu verdrängen, dass z. B. die Bundesrepublik an einigen Stellen einen Dauerkrieg führt. Dabei sind die hier Lebenden in neun von zehn Tagessegmenten eher friedlich. Wenn Sie eine Umfrage machen, lehnen um die 80% der Bevölkerung Krieg ab.
Schluss mit dieser Männerhelden-Hampelei.
Im Nahen Osten haben wir eine andere, patriarchalisch oder sagen wir: weitgehend männer-dominierte Gesellschaft. Es sind ja nicht nur die Väter, sondern auch die Brüder und Söhne, die dominieren. Und die liegen in etlichen Weltregionen nach wie vor auf der Kriegsschiene.
Avenue: Also könnte man sagen: Schwachstromtechnik sollte der Feminisierung, Zivilisierung und Kultivierung einer Gesellschaft in die Hände spielen?
Theweleit: Ja!
Avenue: Vorher sagten Sie, die Cyborg-Ästhetik sei Reflex einer Angst angesichts unserer zunehmenden Technisierung. Wie sieht es mit Abbildungen männlicher Cyborgs aus? Zum Beispiel dieser hier?

Theweleit: Männercyborg-Darstellungen berühren oft den ganzen Bereich des undifferenzierten Innen – den Körperzustand bedrohlicher Gefühle, die es zu beherrschen gilt; den Alltags-Zustand, bevor die einzelnen Personen, angstbesetzt, sich in die kontrollierten Segment-Egos verwandelt haben. Vorher, besonders in der Pubertät, empfinden sie sich oft übererregt, wie von innen nach aussen gestülpt, amorph. Aus diesem unbestimmten Zustand möchte man herauswachsen. Cyborg-Ästhetik kann eine Körperform dafür liefern, die schützt. Gerade in Hinblick auf die sich entfaltende, noch unsichere Sexualität.
Ohne solchen Schutz bleibt der Angsthintergrund ungebändigt. Ängste – ‚was fühle ich eigentlich?‘, ‚was ist das Männliche‘, ‚bin ich etwa schwul?‘ – all solche Unsicherheiten lassen sich im Cyborg-Körper, der ja dichter am eigenen Körper ist als andere Spielkörper, relativ unauffällig verbergen. Man kann ein bestimmtes outfit beibehalten und doch ein Körper in Verwandlung sein.
Nehmen wir Canettis Begriff der Verwandlung (der bei Canetti allerdings nichts mit Technologien zu tun hat). Doch in Masse und Macht (1960) ist eine seiner Grundwahrnehmungen, dass Menschen nichts anderes tun wollen, als sich verwandeln. Das kann man wohl nach wie vor unterschreiben. Und die Möglichkeiten der Verwandlung durch sich vermenschlichende Technologien dazuzudenken.
Avenue: Inzwischen gibt es Kleider mit integrierten Solarpanels, über die man sein smart phone aufladen kann, während lauter LED-Lämpchen wie Diamanten aufblitzen …
Theweleit: und das angstlos, oder? Das sind Anfänge. Davon wird es mehr geben.
Prof. Dr. Klaus Theweleit, 1942 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Kulturtheoretiker und Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau. Über sein umfangreiches Schaffen und die Rezeption seiner Werke geben die Wikipedia, Google und zahlreiche Artikel in Feuilletons Auskunft. Zuletzt von ihm erschienen ist: Klaus Theweleit (2015): Das Lachen der Täter: Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust. St. Pölten: Residenz Verlag.
Das Interview führten Corinna Virchow und Mario Kaiser.
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Herausgeber*innen
Anmerkung: Die Herausgeber*innen der Avenue lancierten zu Weihnachten 2020 die Initiative Salz + Kunst als Antwort auf die Einschränkung des künstlerischen Lebens während der Corona-Pandemie. Im Sinne von art on demand vermittelt die Plattform Kunststücke nahezu aller Kunstsparten in den privaten Raum: ein Jodel im Vorgarten, ein philosophisches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whatsapp, ein Violinkonzert auf dem Balkon …
Eine interessante Frage aus Gender-Forschungs-Perspektive wäre hier, inwiefern diese Darstellungen aktuell vorherrschende Machtverhältnisse darstellen, reproduzieren und daraus resultieren. Eine Frage dabei ist: Wer kreiert diese Cyborg-Körper in Filmen, Videospielen etc.? Sind dies mehrheitlich Männer? Frauen? Sich anders definierende Personen? Wie wirkt sich das Selbstverständnis, der am Entstehungsprozess der Cyborg-Figur beteiligten Personen z.B. hinsichtlich stereotyper Geschlechtsnormen auf die Gestaltung aus? Ich würde gerne die Hypothese in den Raum werfen, dass wir bei der Darstellung geschlechtlicher Cyborgs ähnliches erleben, wie bisher „generell“ in der Game- (und Film-) Industrie – dass stereotype Ideale und Normen übernommen und vielleicht sogar noch zugespitzt werden.
Auch das ist „unwahrscheinlich“ und dennoch gibt es bereits heute – ohne Chipimplantate oder Schwachstrom-Anwendungen – Menschen, die diesen Weg wählen. Interessant ist doch, dass dies bereits auftritt, obwohl es gewissermassen „unwahrscheinlich“ scheint.
Eine interessante Frage scheint mir, inwiefern Philosophien wie z.B „der“ Buddhismus (wobei es sich ja um keine einheitliche Form, sondern um verschiedene Ausprägungen handelt) geeignet sind, um die Funktion eines solchen „Enhancements“ zu übernehmen. Im Bereich der Psychologie, wie auch im Coaching etc. tauchen seit einiger Zeit verstärkt Begriffe und Prinzipen auf, die „dem“ Buddhismus entlehnt sind wie z.B. Achtsamkeit, das Leben im Hier und Jetzt etc.
Aber auch in Bezug auf die „Männerhelden-Hampelei“ lassen sich zunehmend Tendenzen feststellen, die sich dem klar entgegenstellen und auch den Geschlechter-Dualismus hinterfragen.
„Feminisierung“ impliziert hier, es gäbe ganz klar nur zwei existierende Geschlechts-Pole – den „männlichen“ und den „weiblichen“. Zudem beinhaltet der Ausdruck „Feminisierung“ eine normative Konnotation. Es wird impliziert, es gäbe bestimmte Normen, Werte, Verhaltensweisen, die klar „feminin“ also „weiblich“ (und somit Personen weiblichen Geschlechts zugeordnet) seien.
Vielleicht wäre es ein interessanter, erweiternder Ansatz, in weniger dualistischen „Geschlechts-Konzepten“ zu denken / zu argumentieren.
Ha! Jetzt hab ich’s endlich. Tagelang oder besser gesagt viele Nächte hab ich mich mit dieser Aussage herumgeschlagen. Was, virtuell verbieten? Virtuell gibt es nicht? Und ich las noch mehr als sonst, über Cyborgs undsoweiter. Über den sogenannten „ersten virtuellen Krieg“ Desert Storm, der reale Tote forderte. Wann ist ein Game ein Game, wann wird daraus ein Krieg? Bleibt das Game virtuell oder ist es eine technologische Realität. Also so ein Satz wie der von Theweleit darf man einfach nicht so ins Leere rausschreien! Aber jetzt bin ich beruhigt, ich habe die Lösung. Papst Johannes Paul II. hatte Beziehungen zu Frauen!! Er hat dabei den Zölibat nicht gebrochen! Es waren keine technologischen Realitäten, nein, es war alles virtuell!
http://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/papst-johannes-paul-ii–hatte-jahrelange-eine-beziehung-zu-einer-frau-6698972.html
So, jetzt kann ich wieder schlafen.