Mor­gen­grau­en. Auf­dim­men­des Licht. Ein elek­tro­ni­scher, irgend­wie sphä­risch anmu­ten­der Klang im Ohr: Weck­si­gnal. Tas­ten­der Griff zum schmieg­sam küh­len Gegen­stand. Sanf­ter Dau­men­druck. Bestä­ti­gung. Ers­te Ein­drü­cke: Wet­ter­be­richt. Ver­kehrs­la­ge. Gruß von der Liebs­ten. Ter­min­er­in­ne­run­gen, Kon­to­be­we­gun­gen, Geschäftliches.

Wie bricht ein Tag an im Novem­ber des Jah­res 2015? Wenn es noch so etwas gibt wie eine Mor­gen­rö­te, dann ist die­se im frü­hen 21. Jahr­hun­dert eine digi­ta­le: erglim­mend auf den Dis­plays von Smart­phones, im hel­len Schein der Lap­tops, wie bei­läu­fig berührt vom elek­tro­ni­schen Nach­rich­ten­strom, begin­nen unse­re Tage, als Ein­stim­mung auf ein gutes Dut­zend und mehr Stun­den im aura­ti­schen Licht digi­ta­ler Appa­ra­tu­ren und Appli­ka­tio­nen. Kaum ein Schritt, kaum eine Ges­te, kei­ne mini­ma­le All­tags­hand­lung, die nicht ver­bun­den wäre mit der Inter­ak­ti­on mit elek­tro­ni­schem Gerät. Auf Knopf­druck ent­fal­tet sich Mor­gen für Mor­gen unse­re Lebens­welt vor uns, und soft touch ist der Modus unse­rer Kon­takt­nah­me mit den elek­tro­ni­schen Agen­tu­ren, mit denen wir uns die­se Welt teilen.

Digitales Aufwachen Filmstills aus Iron Man
Digi­ta­les Auf­wa­chen. Film­stills aus Iron Man (Fav­reau 2008).

In der All­ge­gen­wart liqui­der elek­tro­ni­scher Appli­ka­tio­nen wer­den kei­ne Schal­ter mehr umge­legt, kei­ne Hebel mehr betä­tigt, kei­ne schwer­fäl­li­gen Maschi­ne­rien mehr bewegt. Ein leich­ter Dau­men­druck genügt, die elek­tro­ni­sche Umwelt, in der wir leben, in Tätig­keit zu set­zen. Sanft haucht uns ein digi­ta­ler Schlei­er an, legt sich über unse­re Leben und schmiegt sich an unse­re Körper.

Peti­tes poucettes

Mit Stau­nen rieb sich der über acht­zig­jäh­ri­ge fran­zö­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Phi­lo­soph Michel Ser­res, ein Welt­wei­ser unse­rer Tage, vor weni­gen Jah­ren die Augen: in einem klei­nen Essay setz­te er den „klei­nen Däum­lin­gen“ der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on, die ohne Mühe und wie selbst­ver­ständ­lich mit elek­tro­ni­scher Appa­ra­tur han­tie­ren, ein eben­so ver­wun­der­tes wie bewun­dern­des Denk­mal. „Ohne daß wir des­sen gewahr wur­den,“ schreibt Ser­res, „ist in einer kur­zen Zeit­span­ne, in jener, die uns von den sieb­zi­ger Jah­ren trennt, ein neu­er Mensch gebo­ren wor­den. Er oder sie hat nicht mehr den glei­chen Kör­per und nicht mehr die­sel­be Lebens­er­war­tung, kom­mu­ni­ziert nicht mehr auf die glei­che Wei­se, nimmt nicht mehr die­sel­be Welt wahr, lebt nicht mehr in der­sel­ben Natur, nicht mehr im sel­ben Raum“ (Ser­res 2013, S. 15).

Michel Serres im Gespräch mit den Däumlingen (2014)
Michel Ser­res im Gespräch mit den Däum­lin­gen (2014)

Schon immer hat Tech­nik das mensch­li­che Leben beein­flusst und ver­än­dert, ermög­licht und oft auch been­det. Was Ser­res in Stau­nen ver­setzt aber ist, wie sich inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te unser Ver­hält­nis zu Tech­nik radi­kal ver­än­dert hat. Tech­ni­sche Dis­po­si­ti­ve ste­hen uns nicht mehr als das radi­kal Ande­re einer natür­li­chen Lebens­welt gegen­über. Die digi­ta­len Appli­ka­tio­nen unse­rer Gegen­wart sind mitt­ler­wei­le der­art mit unse­ren All­täg­lich­kei­ten ver­wo­ben, dass es kaum mehr sinn­voll scheint, Mensch und Tech­nik begriff­lich – oder gar all­tags­prak­tisch – zu tren­nen. Ein­fachs­te Ver­rich­tun­gen, Licht anschal­ten und Musik, Kaf­fee kochen und die Kühl­schrank­tem­pe­ra­tur regu­lie­ren, fin­den statt in Koope­ra­ti­on mit digi­ta­len Mit­be­woh­nern. Dank ihrer stil­len Hil­fe gehen kom­pli­zier­tes­te Geschäf­te, Brie­fe schrei­ben und ver­sen­den, Men­schen zusam­men­brin­gen und orga­ni­sie­ren, Indus­trie­fa­bri­ken len­ken und Armeen diri­gie­ren mit Leich­tig­keit von der Hand.

in einer kur­zen Zeit­span­ne, in jener, die uns von den sieb­zi­ger Jah­ren trennt, [ist] ein neu­er Mensch gebo­ren wor­den“ Ser­res 2013

Was aber kenn­zeich­net die Tech­no­sphä­re unse­rer Tage? Was ist, um mit einer deut­schen Tief­sinns­vo­ka­bel zu spre­chen, ihr Wesen? In sei­nem Grund­la­gen­werk Grund­li­ni­en einer Phi­lo­so­phie der Tech­nik beschrieb der Phi­lo­soph Ernst Kapp das Prin­zip der Tech­nik schon 1877 als „Organ­pro­jek­ti­on“: Fähig­kei­ten, die in mensch­li­chen Orga­nen ange­legt sind wie bei­spiels­wei­se das Hören oder das Sehen, wer­den in exter­ne, tech­ni­sche Orga­ne aus­ge­la­gert und damit optimiert.

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„Der Mensch hat in die ursprüng­li­chen Werk­zeu­ge die For­men sei­ner Orga­ne ver­legt oder pro­ji­cirt“ (Kapp 1877, S. 44f.). Laut Kapp unter­ma­len stein­zeit­li­che Werk­zeu­ge sei­ne The­se: Klei­ne Sägen und Boh­rer sind Zei­ge­fin­gern und Schnei­de­zäh­nen nach­emp­fun­den. (Illus­tra­tio­nen eben­falls aus Kapp 1877, S. 44)

Seit­her hält sich die Vor­stel­lung, dass tech­ni­sche Din­ge in der Welt sind, um die orga­ni­schen Defi­zi­te des Män­gel­we­sens namens Mensch zu kom­pen­sie­ren. Unter den Bedin­gun­gen der all­um­fas­sen­den Digi­ta­li­sie­rung aber lohnt es sich, die­se The­se noch ein­mal zu über­den­ken. Ist der Mensch im elek­tro­ni­schen Zeit­al­ter, zwi­schen Apps und Algo­rith­men, tat­säch­lich nur ein impo­ten­ter Pro­the­sen­gott, wie ihn Sig­mund Freud 1930 beschrie­ben hat? Hilft ihm die Tech­nik bloß, die Mühen des All­tags bes­ser zu bewäl­ti­gen? Oder stif­ten die elek­tro­ni­schen Dis­po­si­ti­ve, die uns umge­ben und durch­strö­men, nicht eine voll­kom­men neue Gegen­wart, eine noch unbe­kann­te Lebens­welt, neue Ichs und Wirs?

Tech­nik als Entbergung

Die Bedeu­tung der Tech­nik für das mensch­li­che Leben in der Moder­ne haben im 20. Jahr­hun­dert vie­le Den­ker erkannt. Mal fei­er­ten sie eupho­risch das Her­an­bre­chen einer neu­en Zeit, in wel­cher der Mensch sich dank tech­ni­scher Mit­tel end­gül­tig zum Herrn über die Schöp­fung auf­schwingt, mal beklag­ten sie düs­ter rau­nend den end­gül­ti­gen Ver­lust der Bezie­hung mensch­li­chen Lebens zu sei­nen soma­ti­schen Grundlagen.

Kaum jemand aber hat ver­sucht, den Wan­del der Lebens­welt zur Tech­no­sphä­re so ernst­zu­neh­men wie Mar­tin Heid­eg­ger. Des­sen ver­stie­ge­nes phi­lo­so­phi­sches Voka­bu­lar zu dechif­frie­ren ist nicht immer ein­fach, und die Publi­ka­ti­on der „Schwar­zen Hef­te“, sei­ner phi­lo­so­phi­schen Pri­vat­auf­zeich­nun­gen, hat im ver­gan­ge­nen Jahr end­gül­tig mit der Vor­stel­lung auf­ge­räumt, Heid­eg­gers Hin­ga­be an den Natio­nal­so­zia­lis­mus sei nur ein kur­zer Flirt mit dem Bösen gewe­sen. Auch Heid­eg­gers Tech­nik­phi­lo­so­phie ope­riert mit jenen erden­schwe­ren Begriff­lich­kei­ten von Boden und Schol­le, Acker­mann und Aus­saat, wel­che die Lek­tü­re sei­ner Tex­te oft­mals zur schwarz­brau­nen Pein gera­ten lassen.

Doch ent­wi­ckel­te das Schwarz­wald­ora­kel, offen­sicht­lich beein­druckt von den tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten der Jahr­hun­dert­mit­te, eine unge­wöhn­li­che Per­spek­ti­ve auf das Wesen des Tech­ni­schen, die ein­zu­neh­men sich noch heu­te lohnt. In sei­nen Vor­trä­gen und Auf­sät­zen zur Fra­ge nach der Tech­nik beschreibt er moder­ne Tech­nik als bestän­di­ges Wag­nis. Als „Gestell“, so Heid­eg­ger, bringt sie Mensch und Natur in einen Zusam­men­hang der Her­aus­for­de­rung. „Wal­tet jedoch das Geschick in der Wei­se des Gestells, dann ist es die höchs­te Gefahr“ (Heid­eg­ger 2000, S. 27). Das Gestell setzt nicht nur unge­heu­re Natur­kräf­te, son­dern auch Kräf­te frei, die den Men­schen in sei­nem Selbst­ver­ständ­nis ver­än­dern. Sind Men­schen in das Gestell gespannt, erle­ben sie die bestän­di­ge Erwei­te­rung ihrer Hand­lungs- und Erfah­rungs­räu­me. Zugleich aber bringt die Tech­nik sie dazu, sich mehr und mehr als Bestand bezie­hungs­wei­se als human resour­ces wahrzunehmen:

Sobald das Unver­bor­ge­ne nicht ein­mal mehr als Gegen­stand, son­dern aus­schließ­lich als Bestand den Men­schen angeht und der Mensch inner­halb des Gegen­stand­lo­sen nur noch der Bestel­ler des Bestan­des ist, geht der Mensch am äußers­ten Rand des Abstur­zes, dort­hin näm­lich, wo er sel­ber nur noch als Bestand genom­men wer­den soll“ (Heid­eg­ger 2000, S. 27f.).

Das Wesen der Tech­nik ist Gefahr, doch birgt die Gefähr­dung über­kom­me­ner Daseins­wei­sen die Chan­ce, Wahr­hei­ten zu ent­hül­len, die bis­her ver­bor­gen geblie­ben sind. In den Grenz­erfah­run­gen, die Tech­nik ermög­licht, wer­den Dimen­sio­nen eröff­net, die dem Men­schen Zugang zum Ver­bor­ge­nen gewäh­ren. Damit ist, so Heid­eg­ger, die Erfah­rung der Tech­nik ähn­lich der Erfah­rung der Kunst, einer Erfah­rung also, die Wahr­hei­ten eige­nen Rechts ent­hüllt und zugäng­lich macht.

Als Heid­eg­ger sei­nen Gedan­ken des Gestells ent­wi­ckel­te, stan­den ihm offen­bar die groß­tech­ni­schen Anla­gen des Indus­trie­zeit­al­ters vor Augen, die sich tief in die Land­schaf­ten sei­nes Den­kens gegra­ben hat­ten: vom „Was­ser­kraft­werk im Rhein­strom“ (Heid­eg­ger 2000, S. 8) ist da die Rede, die Atom­phy­sik spielt eine Rol­le, aber auch die Mecha­ni­sie­rung der Land­wirt­schaft. Älte­re tech­ni­sche Din­ge preist Heid­eg­ger als Medi­en des Ver­sam­melns, wel­che die Kräf­te des Him­mels und der Erde, die Göt­ter und die Men­schen zusam­men­brin­gen. In der moder­nen Tech­nik aber sieht er vor allem die Gefahr des Welt- und Selbstverlusts.

 Hochrhein-Kraftwerk Birsfelden
Hoch­rhein-Kraft­werk Birs­fel­den. Auf­nah­me von 1955

Man muss die­se Tech­nik­skep­sis mit­samt ihren alt­vä­ter­li­chen Bei­spie­len nicht anneh­men, um Heid­eg­gers wesent­li­che Ein­sicht auf sich wir­ken zu las­sen, dass sich das Wesen der Tech­nik gera­de nicht in ihren viel­fäl­ti­gen mecha­ni­schen Figu­ra­tio­nen – eben dem tech­ni­schen Gerät selbst – erschöpft, son­dern dass sie eine Wei­se der Her­vor­brin­gung von Wahr­hei­ten ist, die unse­re Lebens­welt fun­da­men­tal verändern.

Im iGe­stell

Aus dem Gestell von Heid­eg­gers Tagen, mit sei­nen Ver­stre­bun­gen und Tur­bi­nen, sei­nem Mahl­strom der bra­chia­len Natur­zer­stö­rung aber ist heu­te ein wesent­lich liqui­de­res Gebil­de gewor­den. Klei­ne, mobi­le tech­ni­sche Anwen­dun­gen, unter­ein­an­der ver­netzt und schein­bar intui­tiv bedien­bar, bestim­men unse­ren tech­ni­schen All­tag. Unsicht­bar tre­ten sie uns zur Sei­te, ent­fal­ten ihr Wir­kungs­po­ten­ti­al und zie­hen sich wie­der zurück. Sicher: noch immer sind es die Groß-Gestel­le der Indus­trie­mo­der­ne, die Kraft­wer­ke und Fabri­ken, das Flug­zeug und die Eisen­bahn, wel­che unse­re pre­kä­re Exis­tenz gegen­über den Natur­ge­wal­ten, den Mäch­ten des Him­mels und der Erde garan­tie­ren. Doch bewe­gen wir uns mitt­ler­wei­le in einer Welt, die von einer Viel­zahl klei­ne­rer und kleins­ter tech­ni­scher Dis­po­si­ti­ve bevöl­kert ist.

In Anleh­nung an das Mar­ken­de­sign eines bedeu­ten­den ame­ri­ka­ni­schen Com­pu­ter­kon­zerns könn­te man unse­re tech­ni­sche Gegen­wart als iGe­stell beschrei­ben: eine Ver­samm­lung klei­ne­rer, digi­ta­ler Gestel­le, stets ver­bun­den mit dem digi­ta­len Welt­geist namens Inter­net, uns zu Diens­ten, fast geräusch­los an unse­rer Sei­te, doch selbst­tä­tig auch, emsig arbei­tend im Hin­ter­grund, Teil des gro­ßen Sum­mens und Brum­mens im Welt­ge­trie­be. Das iGe­stell ist nicht mehr ein­fach ein Werk­zeug, des­sen wir uns nach Belie­ben bedie­nen kön­nen. Viel­mehr, so will es schei­nen, bedient das Werk­zeug uns, wer­den wir von ihm bedient, wäh­rend wir es bedie­nen. Jeder Schritt im Voll­zug unse­rer all­täg­li­chen Selbst­wer­dung impli­ziert heu­te das Invol­viert­sein in Tech­nik – eine Tech­nik, die eben­so sanft, äthe­risch und kör­per­los ein­her­tritt wie unser eige­nes digi­ta­les Ich, das sie mit induziert.

Nur einen soft touch ent­fernt liegt die Welt – doch ist die­se Welt eben­so digi­tal und flui­de wie unser eige­nes Selbst im iGe­stell.

Im iGe­stell spie­len die Begren­zun­gen des Rau­mes und der Zeit, aber auch unse­rer sinn­li­chen Wahr­neh­mungs­mög­lich­kei­ten eine ver­än­der­te, gerin­ger wer­den­de Rol­le. Distan­zen wer­den irrele­vant, und die digi­ta­len Appli­ka­tio­nen ver­flüch­ti­gen die Not­wen­dig­keit kör­per­li­cher Prä­senz, um an bestimm­ten Erfah­run­gen teil­ha­ben zu kön­nen. Erfah­rungs- und Ich­gren­zen ver­än­dern sich und wer­den unscharf. Nur einen soft touch ent­fernt liegt die Welt – doch ist die­se Welt eben­so digi­tal und flui­de wie unser eige­nes Selbst im iGe­stell.

Zwi­schen der soma­ti­schen Lebens­welt der Kör­per und der Din­ge und den eph­eme­ren Wel­ten des iGe­stells sind wir bestän­dig genö­tigt, hin- und her­zu­über­set­zen, Posi­tio­nen abzu­glei­chen und Inhal­te zu trans­po­nie­ren. Schwer abzu­se­hen ist, wie sich die­se Lebens­voll­zü­ge in naher Zukunft gestal­ten und wei­ter ver­än­dern wer­den. Ansät­ze zu einer Kul­ti­vie­rung nicht nur des kör­per­li­chen Selbst in Fit­ness­stu­dio und Spa, Urlaub und Frei­zeit, son­dern auch zu einer Hege des digi­ta­len oder quan­ti­fi­zier­ten Selbst zeich­nen sich ab.

Die Tech­ni­ken des iGe­stells sind Boten einer Welt, in wel­cher Mensch und Maschi­ne bis zur Unun­ter­scheid­bar­keit inein­an­der ver­wo­ben sind.

Schon jetzt ist ein Teil unse­rer lebens­welt­li­chen Zeit der Pfle­ge unse­rer digi­ta­len per­so­na gewid­met, und schon jetzt wir­ken die Bewe­gun­gen unse­res digi­ta­len Selbst auf unse­re soma­ti­sche Exis­tenz zurück. Die Her­aus­for­de­rung des Tech­ni­schen liegt nicht in den Gerät­schaf­ten der Tech­nik selbst, son­dern dar­in, in wel­cher Wei­se das Tech­ni­sche unse­re Lebens­wel­ten ver­än­dert. Die Tech­nik selbst ist nicht mehr als ein Hau­fen ver­lö­te­ter Schalt­krei­se, indus­tri­ell her­ge­stell­tes Kon­sum­gut, das nächs­ten Som­mer schon Elek­tro­schrott sein wird. Doch sind die Tech­ni­ken des iGe­stells Boten einer Welt, in wel­cher Mensch und Maschi­ne bis zur Unun­ter­scheid­bar­keit inein­an­der ver­wo­ben sind – und dar­über die Grenz­be­stim­mun­gen unse­rer Exis­tenz bestän­dig infra­ge stellen.

Bei Heid­eg­ger hat­ten die tech­ni­schen Kör­per noch etwas Schwe­res, Trä­ges, das sie letzt­lich an die Erde zurück­band. In der Gegen­wart des iGe­stells aber schei­nen sich unse­re Selbste immer wei­ter im Digi­ta­len zu ver­flüch­ti­gen. Schlägt das Digi­ta­le auf die soma­ti­sche Rea­li­tät zurück, ist der Ein­schlag mit­un­ter hef­tig, wie die Schmer­zens- und Eksta­se­sze­na­ri­en in dem Kino­welt­erfolg „The Matrix“ (The Wachow­skis 1999) ein­drück­lich vor Augen gestellt haben.

Neo als Cyborg 2.0
Neo als Cyborg 2.0 Kein Misch­we­sen aus Mensch und Maschi­ne, son­dern ein Hybri­de aus Fleisch und Bits. Sze­ne aus The Matrix (The Wachow­skis 1999).

 

Was Mar­tin Heid­eg­ger selbst zu die­sen Ent­wick­lun­gen gesagt hät­te? Der Gedan­ke vom Wahr-wer­den der tech­ni­schen Welt im Gestell hat ihn jeden­falls nicht mehr los­ge­las­sen. Auf sei­ner spät im Leben unter­nom­me­nen Grie­chen­land­rei­se soll er sich denn auch, glaubt man der hagio­gra­phi­schen Über­lie­fe­rung, mehr für die Die­sel­ag­gre­ga­te sei­nes Pas­sa­gier­schiffs inter­es­siert haben als für den zer­brö­seln­den Tem­pel-Krem­pel auf den ägäi­schen Inseln, den es eigent­lich zu besich­ti­gen galt. Heid­eg­gers Bild bleibt auch hier ambi­va­lent: mal insze­nier­te er sich in sei­nen Vor­le­sun­gen im schnei­di­gen Ski­dress und lob­te die Vor­zü­ge tech­ni­schen Sport­ge­räts, dann wie­der stapf­te er im Filz­hut über die Feld­we­ge im Umkreis sei­ner Todt­nau­ber­ger Hüt­te, fern­ab jeder tech­ni­schen Bedrän­gung. Kraft­wer­ke, der Rund­funk, Schif­fe und Flug­zeu­ge aber waren Gegen­stand sei­ner Faszination.

Virtueller Ausflug zu Heideggers Hütte nähe Todtnauberg (Quelle: Google Maps inkl. Koordinaten)
Vir­tu­el­ler Aus­flug zu Heid­eg­gers Hüt­te nähe Todt­nau­berg (Quel­le: Goog­le Maps inkl. Koor­di­na­ten)
Angeblich fuhr Jacques Lacan einen Mercedes 300 SL Coupé
Angeb­lich fuhr Jac­ques Lacan
einen Mer­ce­des 300 SL Coupé

All­zu star­ke Beschleu­ni­gung schien dem Phi­lo­so­phen aber doch lebens­welt­li­ches Unbe­ha­gen berei­tet zu haben: kein Gerin­ge­rer als der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Jac­ques Lacan, ein glü­hen­der Ver­eh­rer des schwie­ri­gen Deut­schen, chauf­fier­te Herrn und Frau Heid­eg­ger ein­mal durch Frank­reich – und drück­te dabei der­art auf die Tube, dass Mar­tin und Elfrie­de Blut und Was­ser schwitz­ten. Rat­schlä­ge, wie in der tech­ni­schen Gegen­wart zu leben sei, las­sen sich bei Heid­eg­ger nicht fin­den, und auch die heu­ti­ge Phi­lo­so­phie ver­harrt oft in den Mus­tern von Ver­dam­mung oder Ver­klä­rung. Tech­nik­fol­gen­ab­schät­zung ist jedoch längst kei­ne aka­de­mi­sche Auf­ga­be mehr, son­dern eine lebenspraktische.

Was wir bräuch­ten, wäre viel­leicht eher eine Lite­ra­tur des Digi­ta­len als eine Phi­lo­so­phie. Oder eher: eine von Scheu­klap­pen befrei­te Refle­xi­on der Lite­ra­tur des Digi­ta­len. Wenig war bis jetzt zu hören von der Frau, die sich in sozia­len Medi­en bestän­dig ver­dop­pelt – und abends nach dem biss­chen Rest­wär­me sucht, der ande­ren Haut, die sie ihrer eige­nen Kör­per­lich­keit ver­si­chert. Die Geschich­te, der Roman von jenem Jun­gen, der, Stöp­sel im Ohr und Daten­bril­le vor Augen, sich über das Gebiet sei­ner eige­nen Hei­mat­stadt bewegt wie ein Sol­dat auf zu beset­zen­dem Ter­ri­to­ri­um, er ist noch nicht geschrieben.

Die Kör­per im iGestell

Wo aber blei­ben die Kör­per im iGe­stell, das uns als chro­no- und topo­lo­gisch befrei­te Daten­ver­samm­lung ent­ber­gen will? Zwei und mehr Alter­na­ti­ven zeich­nen sich ab. In dem einen Sze­na­rio erschie­ne es vor­stell­bar, dass die phy­si­sche und psy­chi­sche Träg­heit mensch­li­cher Kör­per mehr und mehr zum nicht ver­re­chen­ba­ren Rest­wert schrumpft – oder aber die­ser Rest­wert immer stär­ke­re Auf­merk­sam­keit erfährt: reli­gi­ös ver­ehrt als Kathe­dra­le des eige­nen Ich, ernährt und gepäp­pelt mit Bio- und Well­ness­pro­duk­ten, trai­niert und fit gemacht für die je nächs­te Immersi­ons­er­fah­rung in den Wel­ten des Digi­ta­len. Bedenkt man die unvor­gän­gi­ge Prä­senz des Soma­ti­schen recht, so scheint ein sol­ches Sze­na­rio, in wel­chem vor­di­gi­ta­le Kör­per­lich­keit eine erneu­te, ja gestei­ger­te Auf­merk­sam­keit erfährt, wahr­schein­li­cher als die Vor­stel­lung von einer fak­ti­schen Ent­wick­lung zu digi­ta­len Cyborgs. Denn so phi­lo­so­phisch fas­zi­nie­rend die Kon­zep­te einer tat­säch­li­chen, soma­ti­schen Ver­schmel­zung von Mensch und Tech­nik auch erschei­nen mögen, so plump, so bru­tal wir­ken ihre rea­len Erscheinungen.

Ein Chip unter der Haut ver­schleißt und ver­narbt schließ­lich, und muss nach eini­ger Zeit wie­der ent­fernt wer­den. Gegen­über der zar­ten Schmieg­sam­keit des iGe­stells muten die bra­chia­len Ver­su­che cyborg­haf­ter body modi­fi­ca­ti­on, wie sie immer mal wie­der unter­nom­men wer­den, gera­de­zu archa­isch an. Es scheint daher an der Zeit, die Cyborg­theo­rien der acht­zi­ger Jah­re im Wege der Neulek­tü­re zu über­ar­bei­ten – und sie als das zu begrei­fen, was sie sind: ein nar­ra­ti­ves Ange­bot näm­lich, vom Men­schen, sei­nem Kör­per und der Tech­nik zu erzäh­len. Die­se Geschich­ten fan­gen gera­de erst an.

Lite­ra­tur

Heid­eg­ger, Mar­tin (2000): „Die Fra­ge nach der Tech­nik“, in Mar­tin Heid­eg­ger Gesamt­aus­ga­be Band 7: Vor­trä­ge und Auf­sät­ze, Frank­furt a.M.: Klos­ter­mann, S. 7–36.

Kapp, Ernst (1877): Grund­li­ni­en einer Phi­lo­so­phie der Tech­nik. Zur Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Cul­tur aus neu­en Gesichts­punk­ten, Braun­schweig: Westermann.

Ser­res, Michel (2013): Erfin­det euch neu! Eine Lie­bes­er­klä­rung an die ver­netz­te Gene­ra­ti­on, Ber­lin: Suhr­kamp 2013.

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Klaus Birn­stiel

Klaus Birn­stiel ist pro­mo­vier­ter Ger­ma­nist und Assis­tent für Neue­re Deut­sche Lite­ra­tur­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Basel. Klaus schreibt regel­mäs­sig für die Süd­deut­sche Zei­tung, die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung und den Mer­kur – Deut­sche Zeit­schrift für euro­päi­sches Den­ken. Trotz sei­ner kör­per­li­chen Ein­schrän­kung ist Klaus einer der mobils­ten Gelehr­ten Euro­pas und ent­spre­chend häu­fig an Kon­fe­ren­zen, an Podi­en oder im Aus­gang anzutreffen.

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