Als Klaus The­we­leits Dok­tor­ar­beit Män­ner­phan­ta­sien (1977; 1978) erschien, waren wir Ave­nues gera­de frisch auf die­ser Welt.

Fast 40 Jah­re spä­ter, an einem war­men Novem­ber­tag im Jah­re 2015: Klaus The­we­leit und sei­ne Frau Moni­ka Kuba­le-The­we­leit emp­fan­gen uns in ihrem Zuhau­se in Frei­burg. Ihr Häus­chen wirkt wie wie ein Bild für das Leben zwei­er Gelehr­ter, die ihrer unbe­que­men Geis­tes­ar­beit unbe­irrt nach­ge­gan­gen sind: Immer ist am Haus etwas dar­an gebaut wor­den – da ist ein neu­es Fens­ter hinzu‑, dort eine Wand weggekommen.

Klaus The­we­leit spricht mit uns über den tech­no­lo­gi­schen Men­schen, sei­ne Geschich­te, sei­ne Zukunft und unse­rem Begeh­ren nach der Cyborg.

 

Ave­nue: Men­schen gehen inni­ge Bezie­hun­gen zu ihren tech­ni­schen Gerä­ten ein. Herr The­we­leit, wie weit ist Ihre eige­ne Cybor­gi­sie­rung gediehen?

Klaus The­we­leit: Nicht so weit, oder wenn, dann auf ande­rer Ebe­ne. Das Han­dy benut­ze ich nur im Urlaub oder wenn mein Zug sich ver­spä­tet. Auch kein Arm­band mit Schritt­zäh­ler oder Herz­mes­sung. Die jun­ge Gene­ra­ti­on ist da mit smart pho­ne etc. längst in einer ande­ren Dimension.

Ave­nue: Wirkt die­ses Gerät nicht para­dox? Einer­seits erzieht es uns zu Nar­ziss­ten. Ande­rer­seits ist es eine Art Sozi­al­tech­no­lo­gie, mit der wir uns ver­net­zen – sozia­ler kön­nen wir gar nicht werden.

The­we­leit: Ich glau­be, mit der psy­cho­ana­ly­ti­schen Begriff­lich­keit, spe­zi­ell mit dem ‚Narzissmus‘-Begriff, kommt man nicht weit. ‚Nar­ziss­mus‘ ist ein Begriff wie ‚Selbst­be­frie­di­gung‘ – er bezeich­net eine Mil­li­on Phä­no­me­ne. Doch der Begriff ‚Sozia­le Medi­en‘ hat tat­säch­lich etwas Paradoxes.

Klaus Theweleit in seinem Garten (November 2015)
Klaus The­we­leit in sei­nem Gar­ten (Novem­ber 2015)

Wir waren 2013 an der Uni­ver­si­ty of Vir­gi­nia, Char­lot­tes­ville. Char­lot­tes­ville hat 40’000 Ein­woh­ner und fast 30’000 Stu­die­ren­de. Wenn ich auf dem Cam­pus auf den Bus gewar­tet habe, habe ich gezählt, wer ein smart pho­ne in der Hand hat. Von Hun­dert war es etwa die Hälf­te, meist mit ein­ge­stöp­sel­ten ear pho­nes. Die ande­re Hälf­te hat­te natür­lich auch eins, aber eben in der Tasche. Im Bus kaum Gesprä­che. Alle sit­zen dort mit ihrem Gerät und lächeln die SMS an, die sie bekom­men. Offen­bar schrei­ben die Men­schen eher freund­li­che SMS. Die­ses Lächeln ist sehr intim und doch öffent­lich. Und viel­leicht ern­tet die­ses Lächeln kei­ne Per­son, die es wirk­lich sehen soll­te. Dass man gleich­zei­tig unter immenser Kon­trol­le steht, scheint nie­man­dem bewusst. Es kann ja jeder­zeit über­prüft wer­den, wo ich mich auf­hal­te, was ich tue.

Ave­nue: Nun kann man ja die Zweit­per­son, die man in den Sozia­len Medi­en ist, Sachen tun las­sen, die man sel­ber nicht macht. Unser Alter Ego auf Face­book ist sehr politisch …

The­we­leit: Auf Face­book bin ich nicht. Ich unter­zeich­ne aller­dings alle mög­li­chen Peti­tio­nen im Netz.

Ave­nue: Sie schrei­ben gera­de den drit­ten Band ihres Poca­hon­tas-Kom­ple­xes

The­we­leit: Ja, Bd.1, Bd. 2 und Bd. 4 gibt es schon …

Ave­nue: Der drit­te Band trägt den Titel „War­um Cor­tez wirk­lich sieg­te“ und den Unter­ti­tel „Tech­no­lo­gie­ge­schich­te der Eurasia­ti­schen Kul­tur“. Ist Tech­no­lo­gie­ge­schich­te letzt­lich eine Geschich­te der zuneh­men­den Cybor­gi­sie­rung, das heisst eine Geschich­te unse­rer zuneh­men­den Ver­schmel­zung mit Technologie?

The­we­leit: Etwa 12’000 vor unse­rer Zeit­rech­nung wer­den Men­schen auf dem soge­nann­ten frucht­ba­ren Halb­mond erst­mals sess­haft. Dort und in Zen­tral­asi­en beginnt gleich­zei­tig die Domes­ti­ka­ti­on von Haus­tie­ren. Zunächst wird der Hund domes­ti­ziert, dann das Schaf, die Zie­ge, das Geflü­gel, das Rind – bis um 5’000 v. Chr. das Pferd hin­zu­kommt. Alle die Tie­re, die über­haupt domes­ti­ziert wer­den kön­nen, wer­den bis dahin aus­pro­biert: Anti­lo­pe geht nicht, Löwe geht nicht … . Das ist ein rich­ti­ges, 5’000 Jah­re dau­ern­des Züch­tungs- und For­schungs­pro­gramm. Jared Dia­mond hat es in Guns, Germs and Steel (1997) beschrie­ben.

Ich benut­ze vor allem zwei Begrif­fe, um die­ses Pro­gramm als tech­no­lo­gi­schen Pro­zess zu beschrei­ben. Der ers­te ist Aus­wäh­len: Man nimmt ein Seg­ment aus dem, was da ist. Wenn man her­aus­ge­fun­den hat, dass es funk­tio­niert, setzt man es fort: Das heisst, man erstellt eine Sequenz. Die Fol­ge Seg­ment-Sequenz ist ein tech­no­lo­gi­scher Pro­zess. Die Züch­tung von Getrei­de folgt dem­sel­ben tech­no­lo­gi­schen Seg­ment-Sequenz-Pro­zess. Von die­sem frü­hen Zeit­punkt an erschaf­fen die Men­schen bereits ihre Lebens­um­ge­bung von selbst. Die Natur ist nur noch für die Bedin­gun­gen zustän­dig, für Kata­stro­phen oder den not­wen­di­gen Regen. Das heu­ti­ge Gere­de von Ganz­heit­lich­keit und Natur ist des­halb ein boden­lo­ser Blödsinn.

Frühform des griechischen Alphabets. Archäologisches Nationalmuseum, Athen
Früh­form des grie­chi­schen Alpha­bets. Archäo­lo­gi­sches Natio­nal­mu­se­um, Athen

Seg­men­tie­ren und Sequen­zie­ren wie­der­holt sich mit der Ent­de­ckung der Metall­schmel­ze – wie­der in der glei­chen Kul­tur: Zen­tral­asi­en bis Indi­en, frucht­ba­rer Halb­mond. Ich den­ke, dass die Metall­schmel­ze in die­sen Gebie­ten mög­lich wur­de, weil die Men­schen die­sen Seg­ment-Sequenz-Pro­zess bereits aus der Domes­ti­ka­ti­on von Tie­ren in ihren Kör­pern und Gehir­nen hat­ten. Schon bald danach kommt das pho­ne­ti­sche Alpha­bet. Das grie­chi­sche Alpha­bet ist die Zuspit­zung die­ser Ent­wick­lung: 26 Seg­men­te, mit denen man die Welt erzäh­len kann. Mar­shall McLuhan sagt: Das ist die ers­te Tonbandtechnologie.

Nach dem Alpha­bet kommt die Geo­me­trie mit der Ent­wick­lung des euro­päi­schen Har­mo­nie-Sys­tems. Die Musik kommt aus der Geo­me­trie wie die Navi­ga­ti­on. Mit der Navi­ga­ti­on ent­ste­hen unse­re Land­kar­ten; Län­gen- und Brei­ten­gra­de schaf­fen nichts ande­res als die Seg­men­tie­rung der Welt. Die Per­spek­ti­vie­rung in der Renais­sance ist dann der nächs­te Schritt – sie setzt das betrach­ten­de Ich in den Mit­tel­punkt der Welt und wird damit zur tech­no­lo­gi­schen Grund­la­ge der sich nun zügig ent­wi­ckeln­den Kolo­ni­sie­rung der Welt durch Europäer.

Ave­nue: Was aber geschieht durch die­sen tech­no­lo­gi­schen Seg­ment-Sequenz-Pro­zess mit dem Men­schen? Sequen­zia­li­siert oder seg­men­tiert er sich sogar selbst im Zuge die­ser Ent­wick­lung von Technologien?

The­we­leit: Bereits der Renais­sance-Mensch Cor­tez ver­kör­pert in sei­nem Ich all die­se diver­sen Tech­no­lo­gien. Was ich beim heu­ti­gen Men­schen unse­rer Kul­tur als „Seg­ment-Ich“ bezeich­ne, ist in ihm schon ange­legt. Cor­tez setzt z.B. Reli­gi­on voll­kom­men stra­te­gisch ein, um die Azte­ken zu beein­dru­cken oder zu bescheis­sen. Er bringt Hengs­te zum Wie­hern, die er hin­ter einer Zelt­wand ver­birgt und erzählt den Azte­ken, im angst­er­re­gen­den Beneh­men der Pfer­de wür­de sich der Zorn des Chris­ten­got­tes über die fal­sche Reli­gi­on der Indi­os zei­gen. ‚Gläu­big‘ ist er viel­leicht eine Stun­de am Tag: wenn er betet und Gott um den Sieg in der bevor­ste­hen­den Schlacht bit­tet. Danach ist er Feld­herr und besteigt sein Pferd, um Indi­os zu schlach­ten. Er ist aus­ser­dem See­mann, Mathe­ma­ti­ker, kennt die Ster­ne; und er ist stu­dier­ter Jurist. Die Con­quis­ta­do­ren sind schon als „Strauch­die­be“ bezeich­net wor­den. Das ist kom­plet­ter Quatsch.

Con­quis­ta­do­ren sind hoch ent­wi­ckel­te, tech­no­lo­gi­sche Wesen, Spitzenwesen.

Con­quis­ta­do­ren sind hoch­ent­wi­ckel­te, tech­no­lo­gi­sche Wesen, Spit­zen­we­sen ihrer Zeit. Sie üben ein­fach zu ver­schie­de­nen Tages­zei­ten unter­schied­li­che Funk­tio­nen aus. Also das, was für den heu­ti­gen Mit­tel­stands­men­schen ganz selbst­ver­ständ­lich erscheint: er – neh­men wir einen Fami­li­en­va­ter – scherzt beim Früh­stück mit Frau und Kin­dern, bringt sie zur Schu­le und ver­ein­bart auf dem Weg ins Büro ein Date mit sei­ner Gelieb­ten; im Büro ange­kom­men macht er einen Akti­en­deal unter der Betei­li­gung von Waf­fen­ver­käu­fen, eine Stun­de dar­auf spen­det er für hun­gern­de Kin­der in Afri­ka. Das nann­te man frü­her „Spal­tung“ – zur Zeit Freuds bezeich­net Spal­tung noch eine Patho­lo­gie – etwas in Rich­tung Schi­zo­phre­nie. Heu­te lebt das Seg­ment-Ich sol­che Spal­tun­gen ohne Patho­lo­gie. Die Leu­te, die heu­te am bes­ten funk­tio­nie­ren, sind die­je­ni­gen, die die­se ver­schie­de­nen Sta­di­en am Tag am bes­ten von­ein­an­der tren­nen kön­nen: Das domi­nan­te Seg­ment-Ich. Der ober­fläch­li­che Begriff für die­ses Manage­ment des Ichs heu­te ist wohl ‚Mul­ti­tas­king‘.

Ave­nue: Also ist man für sich selbst Seg­ment-Ich, wäh­rend man für alle ande­ren ein und die­sel­be Per­son ist. In sozia­len Medi­en haben wir ja Ava­tare. Sind die­se Sur­ro­ga­te die Bedin­gung dafür, dass ande­re uns als gan­ze, glei­che Per­son wahrnehmen?

The­we­leit: Nun, wir behal­ten ja auch alle unse­ren Namen bei. Was dahin­ter für eine Per­son steckt, wis­sen wir nicht. Sie schreibt unter die­sem Namen und hat manch­mal auch zusam­men­hän­gen­de Mei­nun­gen. Wir sind ein­fach gewohnt – das ist unse­re erwor­be­ne Kul­tur­tech­nik –, aus unse­rer Wahr­neh­mung die ande­re Per­son zu kon­stru­ie­ren; sei es aus Tex­ten im Netz sowie aus opti­scher oder akus­ti­scher Wahrnehmung.

Unge­klär­ter Punkt ist, wel­che sexu­el­len Kom­po­nen­ten die Bedie­nung von unse­rem Han­dy hat.

An Lie­bes­ver­hält­nis­sen z. B ist nicht ein­fach fest­zu­stel­len, wel­che Antei­le einer Per­son sich ein­an­der tat­säch­lich lie­ben. Vie­le Paa­re sind beruf­lich getrennt. Wenn sie das akzep­tie­ren, ver­mis­sen sie den Part­ner an meh­re­ren Tagen in der Woche nicht. Womög­lich haben sie noch ein ande­res sexu­el­les Ver­hält­nis, sie gehen zu Pro­sti­tu­ier­ten oder auch nicht. Viel­leicht sind sie an drei Tagen in der Woche ja auch ein­fach in der Wei­se nicht sexu­ell. Es gibt ja ver­schie­de­ne For­men von Sexua­li­tät. Unge­klär­ter Punkt ist, wel­che sexu­el­len Kom­po­nen­ten die Bedie­nung von unse­rem Han­dy hat. Es ist anzu­neh­men, dass sich hier neue For­men von Sexua­li­tät ent­wi­ckeln. So wie ich das für die Frei­korps-Sol­da­ten beschrie­ben habe: dass ihre Lie­be zum Pferd oder auch die Lie­be zu ihren Waf­fen jene zu ihren Frau­en übersteigt.

Ave­nue: Tech­nik wird also libi­di­nös besetzt?

The­we­leit: Das lässt sich im Moment u.a. bei den Ange­hö­ri­gen des IS beob­ach­ten. Sie haben zwar Frau­en, aber in nach­ge­ord­ne­ten Funk­tio­nen. Die Frau­en sind ver­schlei­ert, sepa­riert, in ihrem Bereich auf­be­wahrt und wer­den sexu­ell oder für Haus­ar­bei­ten benutzt. Mög­li­cher­wei­se ist das auch eine Form von Cyborg-Sexua­li­tät, die­ses: Ich lie­be mein Gewehr oder den gefilm­ten Tötungs­vor­gang mehr als mei­ne Frau.

Ave­nue: Wir haben vor­hin über Tech­no­lo­gien als Resul­tat eines Seg­ment-Sequenz-Pro­zes­ses gespro­chen. Was die Sequen­zia­li­sie­rung bzw. Seria­li­sie­rung angeht, hat sich uns eine Fra­ge auf­ge­drängt: Wir haben Bil­der von männ­li­chen und weib­li­chen Cyborgs auf dem Netz gesucht – und uns über die sexu­el­len Kon­no­ta­tio­nen die­ser Wesen gewun­dert. Wir haben uns gefragt, ob die­se Cyborgs nicht eine ‚Sexua­li­tät im Zeit­al­ter ihrer tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit‘ ver­an­schau­li­chen. Frau­en­kör­per wir­ken dabei stets uni­for­miert und in ihrer Sexua­li­tät seria­li­siert. Män­ner­kör­per hin­ge­gen erschei­nen als die seri­el­le Pro­duk­ti­on des Kriegers.

Screen­shot der Google-Bildersuche nach ‘female cyborg’ (abge­fragt am 20. Dezember 2015)
Screen­shot der Goog­le-Bil­der­su­che nach ‘fema­le cyborg’ (abge­fragt am 20. Dezem­ber 2015)

The­we­leit: Keh­ren wir zunächst zum ‚Ich‘ zurück. Das Ich, das bio­gra­phisch erzähl­bar ist als Ganz­heits­fi­gur, ent­steht in der Fol­ge von Rous­se­au und der eng­li­schen Roman­schrei­ber dann wei­ter bei Goe­the, Jean Paul bis hin zu Tho­mas Mann und den vie­len ande­ren Roman­au­to­ren als genau jenes Ich, das Freud ins Zen­trum sei­ner psy­cho­ana­ly­ti­schen Kon­struk­tio­nen stellt. Es beginnt sich wie­der auf­zu­lö­sen bei den ‚Moder­nen‘, bei Musil, Joy­ce oder Kaf­ka; heu­te erscheint es als his­to­ri­sche Erfin­dung des euro­päi­schen Romans.

Ave­nue: Zugleich wird die (weib­li­che) Ich-Figur auch in der Roman­tik als Pup­pe oder Mario­net­te vor­ge­führt.

The­we­leit: Jean Paul schreibt über die Glie­der­pup­pe; auch Edgar Allen Poe oder E.T.A Hoff­mann. Schon sehr bald nach­dem die weib­li­che Ich-Figur in der klas­si­schen Lite­ra­tur auf­ge­baut ist, wird sie wie­der demon­tiert und zu einer tech­no­lo­gisch pro­du­zier­ten Glie­der­pup­pe gemacht. Bei­de sind kul­tu­rell her­ge­stell­te Figu­ren. Wenn man das in den Mit­tel­punkt stellt, lan­det man beim ‚roman­ti­schen‘ Horror.

Ave­nue: Also wird die weib­li­che Cyborg schon ziem­lich lan­ge als repro­du­zier­ba­re und zur Lie­be ein­la­den­de Tech­nik dar­ge­stellt. Wenn wir die Viel­zahl an Bil­dern von weib­li­chen Cyborgs betrach­ten, sehen wir die­se glän­zen­den Ober­flä­chen, Rüs­tun­gen, auf denen sich der Blick des Man­nes spie­gelt. Ist es die Stahl­per­fek­ti­on als Pro­jek­ti­ons­flä­che, die dazu ein­lädt, libi­di­nös besetzt zu werden?

Wenn ich etwas ver­bie­ten könn­te, dann das Wort ‚vir­tu­ell‘. ‚Vir­tu­el­le Rea­li­tä­ten‘ gibt es nicht. Das sind tech­no­lo­gi­sche Rea­li­tä­ten, die genau­so real sind wie jedes Bio­lo­gi­sche oder Natur­haf­te auch.

The­we­leit: Lädt sie dazu ein? Mich per­sön­lich stösst sie eher ab, eben­so wie die Ästhe­tik von video games. Wenn ich tech­no­lo­gisch pro­du­zier­te Men­schen gern gese­hen habe, dann im Kino. In all die­sen Lein­wand-Figu­ren mit dem Charme erweck­ter Toter. Cary Grant bei­spiels­wei­se ist heu­te ja dort, was man frü­her den Hades nann­te. Doch auf der Lein­wand läuft er leben­dig her­um, leben­di­ger als leben­di­ge Men­schen, die man kennt. Im Kino wur­de das Leben wirk­li­cher als das wirk­li­che Leben. Wenn ich etwas ver­bie­ten könn­te, dann das Wort ‚vir­tu­ell‘. ‚Vir­tu­el­le Rea­li­tä­ten‘ gibt es nicht. Das sind tech­no­lo­gi­sche Rea­li­tä­ten, die genau­so real sind wie jedes Bio­lo­gi­sche oder Natur­haf­te auch. Jugend­li­che heu­te wach­sen teils eher in einer tech­no­lo­gi­schen Rea­li­tät auf als kör­per­haft ver­bun­den mit ande­ren Menschen.

Cary Grant in North by Northwest(Hitchcock 1959)
Cary Grant in North by Nor­thwest (Hitch­cock 1959)

Ave­nue: Sie sagen, Sie wür­den von bestimm­ten Bil­dern, etwa denen in Video­spie­len, abge­stos­sen. Was kann aber das Begeh­ren sein, das – für vie­le ande­re – dahin­ter steckt? Sind sol­che Bil­der Reflex einer Angst ange­sichts unse­rer zuneh­men­den Technisierung?

The­we­leit: Das ist schwer zu beant­wor­ten. Viel­leicht hilft es aber, einen Blick auf die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Video­spiel-Ästhe­tik zu wer­fen. Sie ent­stand aus der Nut­zung eines gesell­schaft­li­chen Vaku­ums. Bei der Ein­füh­rung unse­rer elek­tro­ni­schen Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien gab es ja zunächst nur Abwehr. All die Natur­ver­bun­de­nen und Grün­wer­den­den der 70er und 80er Jah­re waren zwang­haft anti­tech­no­lo­gisch und voll vor allem gegen ‚Com­pu­ter‘ ein­ge­stellt – sowohl die Abge­ord­ne­ten wie auch unse­re Leh­rer. Bis heu­te dür­fen Schü­ler meist nichts aus der Wiki­pe­dia über­neh­men. Wie bescheu­ert! War­um soll das Kind in die Biblio­thek? Auf dem Netz steht doch alles – und nicht ein­mal so schlecht.

Eine Tech­no­lo­gie ver­schwin­det nicht, indem man sie igno­riert oder ver­teu­felt. Man über­lässt sie damit nur Gangs­tern, die fröh­lich die­ses Feld besetzen.

Auf die neu­en Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien wur­de dumm reagiert; kon­kret: der Umgang mit ihnen wur­de einem gesell­schaft­li­chen Vaku­um anheim­ge­ge­ben. In sol­che Vakua stos­sen regel­mäs­sig Geschäfts­leu­te aus eher kri­mi­nel­len Sphä­ren vor. Die teils ekel­er­re­gen­de Ästhe­tik von Video­spie­len und über­haupt deren gan­ze Popu­la­ri­tät wären nicht ent­stan­den, hät­ten die Schu­len sofort gesagt: „Toll! Her damit! Neue Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie!“ Denn das bedeu­tet – wie alle Men­schen ohne Tech­nik­pho­bie wis­sen: neu­en Umgang mit Welt­phä­no­me­nen aller Sor­ten. Eine Tech­no­lo­gie ver­schwin­det nicht, indem man sie igno­riert oder ver­teu­felt. Man über­lässt sie damit nur Gangs­tern, die fröh­lich die­ses Feld besetzen.

Ave­nue: Der defen­si­ve Umgang mit Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gie erzeugt also Angst und Anarchie?

The­we­leit: In Das Lachen der Täter (2014) habe ich eine Anmer­kung zu poli­ti­schen Vakua gemacht: Herr­schafts­freie Räu­me, Anar­chien in einem posi­ti­ven Sin­ne, kön­nen nicht funk­tio­nie­ren. Kaum ent­steht ein herr­schafts­frei­er Raum irgend­wo, wird er von Aus­sen durch bereit­ste­hen­de Täter­grup­pen aller Sor­ten besetzt. Inner­halb einer Grup­pe oder eines Gebiets bedarf es also einer mini­ma­len Macht­struk­tur, die das ver­hin­dert. Fehlt die­se, kom­men sofort Kri­mi­nel­le. Ein schla­gen­des Bei­spiel ist der Isla­mi­sche Staat. Der IS nennt sich nicht umsonst „Staat“. Er hat sich im Nord­irak und in Syri­en in den durch Irak­krieg und Bür­ger­krieg ent­staat­lich­ten Gebie­ten fest­ge­setzt. Das ist vom Macht­den­ken her gera­de­zu logisch.

Mit der Gen­tech­no­lo­gie pas­siert im Moment wohl Ähn­li­ches. Die tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lung ist auch hier unauf­halt­bar; es gibt zudem kla­re Vor­tei­le von gen­tech­nisch ver­än­der­tem Reis oder Mais in punc­to Sicher­stel­lung der Ernäh­rung sich wei­ter ver­meh­ren­der Welt­po­pu­la­tio­nen. Anstatt dass wir hier sagen wür­den: „Wir set­zen uns an die Spit­ze die­ser Tech­no­lo­gie und sor­gen für ihren kon­trol­lier­ten ver­nünf­ti­gen Ein­satz“, über­las­sen wir sie Gangs­tern wie Monsanto.

Ave­nue: Wenn man ver­sucht, all das zu ver­bin­den: Man hat einer­seits eine Art Cyborg-Reis oder Cyborg-Mais. Was seit 12’000 Jah­ren gezüch­tet wur­de, wird jetzt enhan­ced oder opti­miert. Das kann unter staat­li­cher Kon­trol­le oder unbe­auf­sich­tigt irgend­wo gesche­hen. Ande­rer­seits beob­ach­ten Sie die rasan­te Ent­wick­lung von IT – in einem teils rechts­frei­en Raum. Wächst das Seg­ment-Ich aus­ser­halb von mäs­si­gen­den und beglei­ten­den Kräf­ten heran?

The­we­leit: Nicht nur, und nicht ganz. Es gibt ja seit Mit­te der 80er Jah­re, der spä­ten Kohl-Zeit, gesetz­ge­ben­de, gesell­schafts­ge­stal­ten­de Pro­zes­se, die plötz­lich vie­le Din­ge erlau­ben, die frü­her ver­bo­ten waren. Die Homo­se­xua­li­tät grund­sätz­lich wird nicht mehr bestraft. Die weib­li­che Homo­se­xua­li­tät wur­de über Sport­le­rin­nen wie Mar­ti­na Nav­ra­ti­l­o­va gesell­schafts­fä­hig. Selbst der pri­va­te Kon­sum von Kin­der­por­no­gra­fie wird ent­kri­mi­na­li­siert. Die Men­schen tref­fen sich in Enkla­ven, die spe­zi­ell für das Seg­ment-Ich geschaf­fen wur­den – und so hat sich grund­sätz­lich der Begriff von Frei­zeit ver­än­dert. All die ‚Frei­zeit’ betref­fen­den Berei­che sind hoch­tech­no­lo­gi­siert wor­den – sei es für Motor­rad­fah­rer, Foto­gra­fen oder Hob­by­or­ni­tho­lo­gen. Sie sind mit einer hoch­spe­zi­fi­schen Spra­che ver­bun­den und mit hoch­spe­zi­fi­schen tech­no­lo­gi­schen Gerä­ten bestückt.

Ave­nue: Mit Blick auf Infor­ma­ti­ons­tech­no­lo­gien schei­nen die­se gesetz­ge­ben­den Pro­zes­se das Ich noch nicht gänz­lich an die Tech­no­lo­gie und ihre spe­zi­fi­schen Enkla­ven her­an­ge­führt zu haben. In vie­len Cyborg-Dar­stel­lun­gen zumin­dest scheint der mensch­li­che Kör­per noch immer in einer anar­chi­schen oder wenigs­tens dilem­ma­ti­schen Bezie­hung zur Tech­nik zu stehen.

Screenshot aus dem Computerspiel Deus Ex: Human Revolution (Eidos 2011)
Screen­shot aus dem Com­pu­ter­spiel Deus Ex: Human Revo­lu­ti­on (Eidos 2011)

 

The­we­leit: Gera­de das ist gut zu sehen an diver­sen Video­spie­len. Sie demons­trie­ren in ihrer alter­tü­meln­den Ästhe­tik auch einen Abwehr­re­flex gegen etwas tech­no­lo­gisch Avan­cier­tes, das aus­ser­halb ihrer längst im Gan­ge ist. Die Kyber­ne­ti­sie­rung des Nor­mal­men­schen ist ja viel wei­ter fort­ge­schrit­ten, als die­ser wahr­nimmt oder sich träu­men lässt. Selbst wenn er sich als Ganz­heits­fi­gur ver­steht und defi­niert, ist er nicht denk­bar aus­ser­halb von Tech­no­lo­gien und all­um­fas­sen­den Ver­net­zun­gen; ins­be­son­de­re, was die ‚Geset­ze‘ des ‚Geld­flus­ses‘ und sei­ner Ver­än­de­run­gen betrifft oder den medi­zi­ni­schen Durch­for­schungs­grad sei­ner Kör­per­lich­keit. Des­halb viel­leicht – aus die­ser Wider­sprüch­lich­keit her­aus – sucht er die­se Bil­der und auch das Mons­trö­se dar­an – etwas Mons­trö­ses haben sie ja meist, sei’s extra­ter­res­trisch oder aus der Unter­welt. Mons­trö­se Mons­ter töl­peln her­um, wo die eige­ne Emp­fin­dung schon ganz woan­ders ist: in der Ahnung, dass wir tech­no­lo­gisch schon ganz ande­re Schwel­len über­schrei­ten; weit über das smart pho­ne, das unse­re All­tags­funk­tio­nen ver­misst, hinaus.

Der Punkt, an dem die ‚Wis­sen­schaft­ler der Welt‘ heu­te her­um­dok­tern ist doch der, wann und ab wo eine siche­re Unter­schei­dung zwi­schen ‚fleisch­li­chem‘ und ‚tech­no­lo­gi­schem‘ Kör­per nicht mehr mög­lich sein wird – weil elek­tro­ni­sche Par­ti­kel in den mensch­li­chen Kör­per ein­ge­wan­dert sein wer­den. Gibt es nicht längst Men­schen, die ‚die­sen Chip‘ schon ein­ge­pflanzt haben? Und zwar nicht nur im Kino? Nicht wie – noch etwas blöd – in Matrix in Form einer Ein­stöp­se­lung von Gitar­ren­ste­ckern. Einen ein­ge­pflanz­ten Chip, der Kör­per­funk­tio­nen über­nimmt, ken­nen wir schon: er steu­ert bei­spiels­wei­se Herzrhythmen.

Ave­nue: Doch wel­chen tech­no­lo­gi­schen Phan­ta­sien oder Visio­nen fol­gen wir, wenn wir wei­ter­hin den Pfad die­ser Kyber­ne­ti­sie­rung gehen?

The­we­leit: Ian Mor­ris etwa for­mu­liert in sei­nem Buch Why the West Rules – For Now (2010) eine sol­che Visi­on, die mehr ist als nur eine Phan­ta­sie. Der letz­te Teil sei­nes Buchs rekon­stru­iert nicht mehr alte Geschichte(n); er bezieht sich auf die Jetzt­zeit, ins­be­son­de­re auf die Erd­er­wär­mung. Mor­ris legt plau­si­bel dar, dass die Welt in sieb­zig Jah­ren ‚am Arsch’ ist, wenn sich dem­nächst nicht eini­ges tut – und zwar in Form von Mass­nah­men, die nur von den heu­ti­gen Gross­mäch­ten gemein­sam ein­ge­lei­tet wer­den kön­nen. Doch genau das Gegen­teil zeich­net sich ab: Klein- und Gross-Irre füh­ren Krie­ge um neben­säch­li­che Land­stri­che, ‚ver­let­zen‘ Luft­räu­me, star­ten ‚Straf­ak­tio­nen‘ und klap­pern mit Atom­bom­ben. Mor­ris‘ Schluss: ‚Die Men­schen‘ sind zu doof, ihren eige­nen Unter­gang zu ver­hin­dern. Sie brau­chen ‚den Chip‘. Ver­nünf­tig han­deln wür­den sie erst mit einer unge­heu­ren Gefühls- und Intel­li­genz­po­ten­zie­rung durch kör­per­lich ein­ge­pflanz­te elek­tro­ni­sche Chips. Eine Poten­zie­rung, die sie befä­hi­gen wür­de, ihre natio­nal, eth­nisch oder reli­gi­ös ‚begrün­de­ten‘ däm­li­chen bewaff­ne­ten Klein­hän­del ein­zu­stel­len und damit zu begin­nen, die Lebens­be­din­gun­gen auf dem Pla­ne­ten zu erhalten.

Erd­ka­ta­stro­phen, ver­mut­lich auch mensch­ge­mach­te, gab es schon meh­re­re. Im Unter­schied zu die­sen hat die heu­ti­ge ‚Mensch­heit‘ eine weit­rei­chend berech­ne­te Kennt­nis des bevor­ste­hen­den Unheils; und zwei­tens die Mög­lich­keit, dem Unheil tech­no­lo­gisch zu begeg­nen. Mor­ris Glau­be, dass man die Kata­stro­phe (noch) ver­hin­dern kann, liegt allein in der Annah­me, dass die elek­tro­nisch-tech­no­lo­gisch erwei­ter­ten Denk- und Hand­lungs­ka­pa­zi­tä­ten der nächs­ten Men­schen­ge­ne­ra­tio­nen in der Lage sein wer­den, die nöti­gen Mass­nah­men durchzusetzen.

Ave­nue: Eine Mensch­heits­ge­ne­ra­ti­on, in der die Unter­schei­dung von ‚bio­lo­gi­schem‘ und elek­tro­nisch-tech­no­lo­gi­schem Kör­per hin­fäl­lig gewor­den sein wird? Es geht also um die his­to­ri­sche Not­wen­dig­keit, ein Cyborg zu sein …

The­we­leit: Genau – gegen den Wahn der krie­ge­risch blei­ben­den Nur-Mensch-Insti­tu­tio­nen, die zu doof sind, das zu kapieren.

Ave­nue: Nun gibt es eine Rei­he ver­rück­ter Trans­hu­ma­nis­ten, die sagen: unse­re Kör­per sind ver­al­tet, zivi­li­sa­to­risch abge­nutzt. Die Tech­nik muss mit einer gene­ti­schen Opti­mie­rung einhergehen …

The­we­leit: Mei­net­we­gen; aber was heisst denn ‚gene­tisch‘? Was wol­len die denn gene­tisch opti­mie­ren? Typen, die wie in „Matrix“ auf den Fel­dern wach­sen? Wenn man nicht in sol­che Rich­tung phan­ta­siert, muss man von den Kör­pern aus­ge­hen, die da sind. Will man die 7 Mil­li­ar­den aus­rot­ten und etwas Ande­res anstatt ihrer stel­len? Die­ser Gedan­ke ist nicht lus­tig. Bes­ser, man denkt mit den Bestän­den, die da sind. Auch Mor­ris geht davon aus, dass unse­re Gehir­ne sich wei­ter­hin nach den Ein­drü­cken aus­rich­ten, die unser Kör­per auf­nimmt. Selbst wenn unser fleisch­li­cher Kör­per tech­no­lo­gisch bes­ser aus­ge­rüs­tet ist, bekommt man die­sen Vor­gang nicht weg. Er wird nur verändert.

Mir fällt ein Phy­si­ker ein, den ich ken­ne, der sagt, dass die Über­holt­heit des mensch­li­chen Kör­pers spä­tes­tens mit dem Auto evi­dent gewor­den sei. Das Auto über­for­dert den mensch­li­chen Kör­per total. Nur weil wir es stän­dig bedie­nen, malen wir uns das nicht mehr aus. Doch wer mit 160 km/​h über die Auto­bahn bret­tert, wil­ligt letzt­lich ein in Selbstmord.

Nun wird dem­nächst von der Tech­nik des Ver­bren­nungs­mo­tors in die Elek­tri­zi­tät und wei­ter in die Elek­tro­nik mit Schwach­strom über­ge­gan­gen wer­den, die mit der Bio­lo­gie des Kör­pers in Ver­bin­dung tre­ten kann. Der alte Robo­ter ist ohne Gefüh­le, ohne Empha­tie und damit zumeist eine Hor­ror­fi­gur in Fil­men und Uto­pien. Dage­gen muss der elek­tro­nisch aus­ge­rüs­te­te Mensch nicht bedroh­lich gedacht wer­den, son­dern als ein Wesen, das das, was bis­her Huma­ni­tät genannt wur­de, stei­gern kann. Man muss Tech­no­lo­gie und Kör­per nicht kon­trär denken.

Ave­nue: Schwach­strom-Tech­no­lo­gie wäre damit eine Art huma­ni­täts­stei­gern­de Psychotechnik?

The­we­leit: Man hat nur noch nicht gelernt, sie rich­tig anzu­wen­den und ich hof­fe, man ist früh genug dran, um hier auch nicht wie­der Gangs­tern das Feld zu über­las­sen. Wir benö­ti­gen drin­gend huma­ni­tä­re Upgrades, die uns erlau­ben zu sagen: Schluss mit die­sen desas­trö­sen Krie­gen! Schluss mit die­ser Män­ner­hel­den-Ham­pe­lei. An vie­len Punk­ten sind Men­schen heu­te so weit – wenn­gleich bequem, fern­seh- und medi­en­ab­hän­gig und seg­men­tiert genug um zu ver­drän­gen, dass z. B. die Bun­des­re­pu­blik an eini­gen Stel­len einen Dau­er­krieg führt. Dabei sind die hier Leben­den in neun von zehn Tages­se­g­men­ten eher fried­lich. Wenn Sie eine Umfra­ge machen, leh­nen um die 80% der Bevöl­ke­rung Krieg ab.

Schluss mit die­ser Männerhelden-Hampelei.

Im Nahen Osten haben wir eine ande­re, patri­ar­cha­lisch oder sagen wir: weit­ge­hend män­ner-domi­nier­te Gesell­schaft. Es sind ja nicht nur die Väter, son­dern auch die Brü­der und Söh­ne, die domi­nie­ren. Und die lie­gen in etli­chen Welt­re­gio­nen nach wie vor auf der Kriegsschiene.

Ave­nue: Also könn­te man sagen: Schwach­strom­tech­nik soll­te der Femi­ni­sie­rung, Zivi­li­sie­rung und Kul­ti­vie­rung einer Gesell­schaft in die Hän­de spielen?

The­we­leit: Ja!

Ave­nue: Vor­her sag­ten Sie, die Cyborg-Ästhe­tik sei Reflex einer Angst ange­sichts unse­rer zuneh­men­den Tech­ni­sie­rung. Wie sieht es mit Abbil­dun­gen männ­li­cher Cyborgs aus? Zum Bei­spiel die­ser hier?

Ein ausserirdischer Cyborg. Szene aus Predator (McTiernan 1987)
Ein aus­ser­ir­di­scher Cyborg. Sze­ne aus Pre­da­tor (McTier­nan 1987)

The­we­leit: Män­ner­cy­borg-Dar­stel­lun­gen berüh­ren oft den gan­zen Bereich des undif­fe­ren­zier­ten Innen – den Kör­per­zu­stand bedroh­li­cher Gefüh­le, die es zu beherr­schen gilt; den All­tags-Zustand, bevor die ein­zel­nen Per­so­nen, angst­be­setzt, sich in die kon­trol­lier­ten Seg­ment-Egos ver­wan­delt haben. Vor­her, beson­ders in der Puber­tät, emp­fin­den sie sich oft über­er­regt, wie von innen nach aus­sen gestülpt, amorph. Aus die­sem unbe­stimm­ten Zustand möch­te man her­aus­wach­sen. Cyborg-Ästhe­tik kann eine Kör­per­form dafür lie­fern, die schützt. Gera­de in Hin­blick auf die sich ent­fal­ten­de, noch unsi­che­re Sexualität.

Ohne sol­chen Schutz bleibt der Angst­hin­ter­grund unge­bän­digt. Ängs­te – ‚was füh­le ich eigent­lich?‘, ‚was ist das Männ­li­che‘, ‚bin ich etwa schwul?‘ – all sol­che Unsi­cher­hei­ten las­sen sich im Cyborg-Kör­per, der ja dich­ter am eige­nen Kör­per ist als ande­re Spiel­kör­per, rela­tiv unauf­fäl­lig ver­ber­gen. Man kann ein bestimm­tes out­fit bei­be­hal­ten und doch ein Kör­per in Ver­wand­lung sein.

Neh­men wir Canet­tis Begriff der Ver­wand­lung (der bei Canet­ti aller­dings nichts mit Tech­no­lo­gien zu tun hat). Doch in Mas­se und Macht (1960) ist eine sei­ner Grund­wahr­neh­mun­gen, dass Men­schen nichts ande­res tun wol­len, als sich ver­wan­deln. Das kann man wohl nach wie vor unter­schrei­ben. Und die Mög­lich­kei­ten der Ver­wand­lung durch sich ver­mensch­li­chen­de Tech­no­lo­gien dazuzudenken.

Ave­nue: Inzwi­schen gibt es Klei­der mit inte­grier­ten Solar­pa­nels, über die man sein smart pho­ne auf­la­den kann, wäh­rend lau­ter LED-Lämp­chen wie Dia­man­ten aufblitzen …

The­we­leit: und das angst­los, oder? Das sind Anfän­ge. Davon wird es mehr geben.

Prof. Dr. Klaus The­we­leit, 1942 gebo­ren, ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler, Kul­tur­theo­re­ti­ker und Schrift­stel­ler. Er lebt und arbei­tet in Frei­burg im Breis­gau. Über sein umfang­rei­ches Schaf­fen und die Rezep­ti­on sei­ner Wer­ke geben die Wiki­pe­dia, Goog­le und zahl­rei­che Arti­kel in Feuil­le­tons Aus­kunft. Zuletzt von ihm erschie­nen ist: Klaus The­we­leit (2015): Das Lachen der Täter: Brei­vik u.a. – Psy­cho­gramm der Tötungs­lust. St. Pöl­ten: Resi­denz Verlag.

Das Inter­view führ­ten Corin­na Virch­ow und Mario Kaiser.

 

 

uncode-pla­ce­hol­­der

Herausgeber*innen

Anmer­kung: Die Herausgeber*innen der Ave­nue lan­cier­ten zu Weih­nach­ten 2020 die Initia­ti­ve Salz + Kunst als Ant­wort auf die Ein­schrän­kung des künst­le­ri­schen Lebens wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie. Im Sin­ne von art on demand ver­mit­telt die Platt­form Kunst­stü­cke nahe­zu aller Kunst­spar­ten in den pri­va­ten Raum: ein Jodel im Vor­gar­ten, ein phi­lo­so­phi­sches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whats­app, ein Vio­lin­kon­zert auf dem Balkon …

Erschie­nen in:

Pri­va­cy Pre­fe­rence Center