Anmer­kung der Redaktion

Doping bei Fahr­rad­fah­rern und Renn­pfer­den, mil­lio­nen­schwe­re For­schungs­pro­jek­te im Segeln (Stich­wort: America’s Cup), nano­be­schich­te­te Schwimm­an­zü­ge: Leis­tungs­sport wird nicht zuletzt über Tech­nik, Phy­sik und Che­mie ent­schie­den. Trotz­dem macht ein Kör­per­pan­zer nicht auto­ma­tisch zum Eis­ho­ckey­aner. Viel­mehr haben sich Geist und Kör­per des Sport­lers an die jewei­li­ge Sport­art und ihre tech­ni­schen Appa­ra­te ange­passt. Was heisst es kon­kret, wenn Bewe­gungs­ab­läu­fe im jah­re­lan­gen Kampf mit dem Mate­ri­al in den Kör­per übergehen?

Die Wis­sen­schafts­his­to­ri­ke­rin Bar­ba­ra Orland gibt auf die­se Fra­gen detail­liert Ant­wort: nicht phi­lo­so­phisch abs­trakt und auch nicht mit­tels einer his­to­ri­schen Unter­su­chung, son­dern mit­hil­fe einer genau­en Selbst­be­ob­ach­tung, wel­che die sub­tils­ten Schwie­rig­kei­ten bei der Jus­tie­rung von Mensch und Tech­nik offen­bart. Wich­tig zu wis­sen: Bar­ba­ra ist nicht nur Wis­sen­schafts­his­to­ri­ke­rin, son­dern auch Rude­rin. Auf der Wild Lady

0. Ein­was­sern

An’s Boot!“ – Auf Kom­man­do der Steu­er­frau span­nen acht Frau­en den Kör­per und grei­fen zur Boots­wand. „Boot geht aus den Böcken … ein­mal anschwin­gen … Boot geht hoch!“ Mit Schwung wuch­ten wir die 100 Kilos des Renn­ach­ters über den Kopf auf die lin­ke Schul­ter! Am Boots­steg dann die ent­ge­gen­ge­setz­te Bewe­gung. Liegt das Boot im Was­ser, nimmt jede Rude­rin ihren Rie­men und legt ihn, ent­we­der Steu­er­bord oder Back­bord, in die Dol­le, wäh­rend sich die Steu­er­frau das Mikro­fon-Stirn­band auf den Kopf setzt und die Cox­Box im Boot ver­ka­belt. Gemein­sam Ein­stei­gen, vom Steg absto­ßen und auf dem Roll­sitz absit­zen – und schon tönt es aus den Laut­spre­chern: „Mit­ein­an­der … bereit … und weg!“

Kleine Bootskunde
Klei­ne Bootskunde

Am Ufer noch hat­te jede Frau ihr Stemm­brett so ein­ge­stellt, dass sie bei gestreck­ten Bei­nen und senk­rech­tem Ober­kör­per zwi­schen Brust­bein und Ruder noch eini­ge Zen­ti­me­ter Platz hat. Auf dem Was­ser wird alles kon­trol­liert: Sind die Schrau­ben fest­ge­zo­gen? Gibt es Roll­wi­der­stän­de? Nach einem letz­ten Schluck Was­ser kann das Trai­ning los­ge­hen. Rund 90 Minu­ten wird jede Frau nun ver­su­chen, mit dem Team und dem Boot eins zu werden.

I. Die Bewegung

Der Ach­ter gilt aus gutem Grund als Königs­klas­se des Ruder­sports. Hier ist nicht nur das per­fek­te Zusam­men­spiel von Kon­di­ti­on, Ruder­tech­nik und Boot gefor­dert. Erst die syn­chro­ne Bewe­gung von acht Kör­pern macht eine effi­zi­en­te Kraft­über­tra­gung mög­lich, die dem Boot Tem­po ver­leiht. Ein effek­ti­ver Vor­trieb des Boo­tes gelingt, wenn alle Rude­rin­nen in per­fek­ter Über­ein­stim­mung das Ruder­blatt ins Was­ser set­zen, ‚Was­ser­fas­sen‘, im Durch­zug die Hebel­wir­kung des Ruders opti­mal aus­nüt­zen und das Boot an den sau­ber ver­an­ker­ten Blät­tern ‚vor­bei­schie­ben‘. Im Finish gilt es, die Ruder mög­lichst gleich­zei­tig aus dem Was­ser zu neh­men und auf­zu­dre­hen. Der Schlag­frau kommt noch die beson­de­re Auf­ga­be zu, für einen gleich­mä­ßi­gen Rhyth­mus zu sor­gen. Einen gro­ben Feh­ler, ganz gleich auf wel­chem Platz, spü­ren alle im Boot. Tech­nik­trai­ning zur opti­ma­len Syn­chron­be­we­gung macht daher den größ­ten Teil eines Ach­ter­trai­nings aus. Grei­fen alle Kom­po­nen­ten auf idea­le Wei­se inein­an­der, kann der Ach­ter zur schnells­ten Boots­klas­se des Ruder­sports werden.

II. Der Kontext

Als sich im Früh­jahr 2009 eini­ge Bas­ler Frau­en im fort­ge­schrit­te­nen Alter trau­ten, ihr rude­ri­sches Kön­nen in einem Ach­ter zu erpro­ben, ahn­ten sie nicht, dass sie damit ein Mas­ters-Frau­en-Ach­ter-Team begrün­de­ten, wel­ches bis heu­te exis­tiert. Nicht nur in der Geschich­te des tra­di­ti­ons­rei­chen Bas­ler Ruder­club (BRC) war dies ein Novum. Auf den ers­ten Regat­ten, an denen die Wild Ladies teil­nah­men – der Empa­cher-Renn­ach­ter Wild Lady hat­te dem Team sei­nen Namen gege­ben – gab es nur weni­ge Alters­ge­nos­sin­nen, mit denen wir uns mes­sen konn­ten. Das hat sich zwi­schen­zeit­lich geän­dert. Längst ist die Kon­kur­renz grös­ser gewor­den, und damit die Ansprü­che an eine kon­stan­te Leis­tung. Mit den Jah­ren wer­den Kraft, Prä­zi­si­on und Tech­nik nicht ein­fach bes­ser, sie müs­sen ste­tig erar­bei­tet wer­den. Das Team muss sich stän­dig neu zusam­men­fin­den, was eine Men­ge Zwei­fel und Frust birgt, aber auch glück­li­che Momen­te, wenn „das Boot steht“, will sagen: leicht und ele­gant über das Was­ser gleitet.

III. Der Körper

Phy­sio­lo­gisch betrach­tet gehört Rudern zu den fas­zi­nie­rends­ten Sport­ar­ten. Die kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen sind kom­plex: Mus­kel­kraft, Moto­rik, opti­ma­le Win­kel der ein­zel­nen Kör­per­tei­le, Gleich­ge­wicht, Kraft­aus­dau­er sind nur die wich­tigs­ten Leis­tungs­pa­ra­me­ter. Eine sta­bi­le Psy­che, Kon­zen­tra­ti­on, Team­fä­hig­keit, Emo­ti­ons­kon­trol­le sind eben­so bedeut­sam, um Rudern als Mann­schafts­sport aus­üben zu kön­nen. Rudern lernt man mit Leib und See­le, sagt man.

Ver­gli­chen mit ande­ren Sport­ar­ten gehört Rudern aller­dings zu den lang­sa­men Sport­ar­ten, selbst noch bei einer Schlag­zahl von 40 pro Minu­te. Als Hybrid­sport­art wird haupt­säch­lich auf Kraft und Aus­dau­er gesetzt, was sich in der Sta­tur der Leis­tungs­sport­ler nie­der­schlägt. Ein ath­le­ti­scher Kör­per mit Alba­tros-Flü­gel­spann­wei­ten erschien noch in den 1980er Jah­ren ver­nach­läs­sig­bar. Man setz­te vor allem auf Mus­kel­mas­se und Kraft. Heu­te dage­gen wird mehr auf intra­mus­ku­lä­re Koor­di­na­ti­on und damit auf die Ruder­tech­nik gesetzt. Nur 10% der ein­ge­setz­ten Kraft kom­men aus den Armen und 20% aus dem Ober­kör­per. Den Löwen­an­teil mit 70% über­neh­men die Bei­ne. Im Lau­fe der Zeit sind so erstaun­li­che Leis­tungs­stei­ge­run­gen ver­zeich­net wor­den. 1893 wur­de erst­ma­lig eine inter­na­tio­na­le Meis­ter­schaft aus­ge­tra­gen. Ver­gli­chen mit den dort erziel­ten Leis­tun­gen sind heu­ti­ge Sie­ger in allen Boots­klas­sen auf der klas­si­schen 2000m-Stre­cke durch­schnitt­lich um mehr als 1 Minu­te schneller.

The Oarsman (Eadweard Muybridge 1887)
The Oars­man (Ead­weard Muy­bridge 1887)

IV. Die Technik

Das ist auch einer über die Jahr­zehn­te hin­weg immer schnit­ti­ger gewor­de­nen Boots­tech­nik geschul­det. Der von der Uni­ver­si­tät Oxford 1829 benutz­te Ach­ter wog bei einer Län­ge von 14m sat­te 440kg, besaß kei­ne Aus­le­ger, kei­ne Stemm­bret­ter und fest ein­ge­bau­te Holz­bän­ke. Die Rude­rer saßen ver­setzt im Boot, um den not­wen­di­gen Abstand zur Dol­le zu gewähr­leis­ten. Heu­ti­ge Renn­ach­ter brin­gen weni­ger als ein Vier­tel die­ses Gewichts auf die Waa­ge. Genorm­te Boot­s­tie­fen und ‑brei­ten, Scha­len­bau­wei­se, Roll­sit­ze und Stemm­bret­ter mit Schu­hen, vor allem aber die Ver­wen­dung von Kunst­stoff an Stel­le von Holz haben die Boo­te im Lau­fe der Jahr­zehn­te immer schma­ler, leich­ter und schnel­ler gemacht. Auch die Voll­holz­rie­men der Anfangs­ge­nera­tio­nen sind fast völ­lig ver­schwun­den. Hohl­rie­men aus Koh­le­fa­ser sind seit den 1980er Jah­ren so preis­güns­tig gewor­den, dass sie zum Stan­dard wur­den. Eben­so ver­fügt heu­te jeder Ruder­club über ein Ruder­ergo­me­ter mit Leis­tungs- und Arbeits­mess­ein­rich­tun­gen, nicht nur, um die Ruder­be­we­gung auf dem Tro­cke­nen zu üben, son­dern auch um die Leis­tun­gen der Rude­rer zu mes­sen und zu vergleichen.

Entwicklung der Riemen
Ent­wick­lung der Riemen

V. Das Team

Unser Trai­nings­boot, die Wild Lady, ist ein Empa­cher Renn­ach­ter, Bau­jahr 1991, also eine Old Lady, die ihre bes­ten Jah­re hin­ter sich hat. Man spürt gele­gent­lich, dass sich der Boots­kör­per im Lau­fe der Zeit leicht ver­zo­gen hat. Hängt das Boot im Heck auf Back­bord, dann liegt es im Bug auf Steu­er­bord. Auch die Rie­men sind schwer, weil ihre Grif­fe aus Holz sind. Doch wir mögen das Boot, es passt zu uns. Spit­zen­leis­tun­gen über­las­sen wir eben­so wie die neu­es­ten Boo­te den Jun­gen. Das heisst nicht, dass es kein Com­mit­ment in der Grup­pe gäbe. Im Gegenteil!

Neu­lich hat­ten wir eine Trai­nings­aus­fahrt, die uni­so­no als schlech­tes­te unse­rer Geschich­te ein­ge­schätzt wur­de. Kei­ne Syn­chro­ni­zi­tät, noch nicht ein­mal ein annä­hernd glei­cher Rhyth­mus war im Boot zu spü­ren. Unse­re Steu­er­frau müh­te sich ab, mit­tels Tech­nik­übun­gen und Kom­man­dos die Frau­schaft zusam­men­zu­brin­gen. Doch alles umsonst, es klapp­te nicht. Grün­de las­sen sich im Nach­hin­ein vie­le fin­den. Der Rhein führ­te Hoch­was­ser und for­der­te uns mit schwie­rig zu erken­nen­den Tie­fen­strö­mun­gen her­aus. Es war win­dig und Motor­boo­te und Rhein­schif­fe kreuz­ten unse­ren Weg. Das Team hat­te in die­ser Zusam­men­set­zung und mit die­ser Platz­ver­tei­lung noch nie zusam­men geru­dert. Die Schlag­frau war neu. Eine ande­re Frau klag­te über Rücken­schmer­zen, und so wei­ter. Es ist tat­säch­lich so, dass kei­ne Aus­fahrt wie die ande­re ist. Die Bedin­gun­gen von Mann­schaft, Boots­ma­te­ri­al, Ruder­kennt­nis­sen, Wind und Wet­ter sind immer wie­der ver­schie­den. Das macht Rudern span­nend, sorgt aber zuwei­len für das Gefühl, ich ler­ne es wohl nie. Einer unse­rer Coa­ches brach­te es ein­mal auf den Punkt:

Rudern ist die ewi­ge Suche nach dem per­fek­ten Schlag.

VI. Das Zusammenspiel

Sind Rude­rer Cyborgs? Die­se Fra­ge kann ich nur mit einem kon­se­quen­ten Ja und Nein beant­wor­ten. Ver­ste­hen wir unter Cyber­bo­dies Misch­we­sen aus Maschi­ne und Mensch, die mecha­ni­sche oder elek­tro­ni­sche Tei­le implan­tiert oder mit­tels phar­ma­zeu­ti­schem enhance­ment opti­miert wer­den sol­len, dann zäh­len Rude­rer zwei­fel­los nicht dazu. Allen tech­ni­schen Ver­bes­se­run­gen zum Trotz, birgt das Rudern in sei­ner Ver­bin­dung aus Mensch, Mate­ri­al und Umwelt viel zu vie­le Unwäg­bar­kei­ten, die sich nicht mani­pu­lie­ren las­sen. Rudern ist eine extrem wet­ter­füh­li­ge Sport­art. Kei­ne Boots­tech­nik kann das gekonn­te Manö­vrie­ren im Wel­len­gang ablösen.

Betrach­ten wir aller­dings das Ver­hält­nis von Boot, kör­per­li­chen Vor­aus­set­zun­gen und Ruder­tech­nik im Detail, lässt sich der Rude­rer sehr wohl als Cyborg bezeich­nen. Ohne Har­mo­nie zwi­schen Boot und Mensch geht gar nichts. Wer in einem falsch ein­ge­stell­ten Boot rudert, bekommt das  schnell im Len­den­wir­bel­be­reich zu spü­ren. Eine dau­er­haft fal­sche Ruder­tech­nik kann die Rücken­ge­sund­heit beein­träch­ti­gen. Wenn ande­rer­seits das Tem­po ansteigt, das Boot „fliegt“ und unter einem durch­glei­tet, dann erzeugt das umwer­fen­de Glücks­ge­füh­le. Das ist ein Flow-Erleb­nis der beson­de­ren Art: berau­schend und mit­un­ter sogar medi­ta­tiv. Man fühlt sich trotz Anstren­gung kom­plett leicht.

 Sind Rude­rer Cyborgs? Die­se Fra­ge kann ich nur mit einem kon­se­quen­ten Ja und Nein beantworten.

VII. Aus­was­sern

Um ein Ach­ter-Team am Leben zu erhal­ten, benö­tigt es mehr als eine Boots­be­set­zung. Wir Wild Ladies sind eine Grup­pe von Frau­en, die im Lau­fe der Jah­re bis zu 16 Mit­glie­de­rin­nen hat­te. Eini­ge sind gegan­gen, ande­re hin­zu­ge­kom­men. Alter, Grö­ße, Gewicht und Kon­di­ti­on sind unter­schied­lich. Auch die zeit­li­che Ver­füg­bar­keit der Ein­zel­nen wird wohl nie eine fes­te Boots­be­set­zung ermög­li­chen. So haben sich sai­son­wei­se Klein­grup­pen abge­spal­tet, die im Dop­pel­zwei­er oder Dop­pel­vie­rer auf Regat­ten gehen.

Nicht jeder­zeit ist es mög­lich, genü­gend Frau­en für ein Ach­ter­trai­ning zusam­men­zu­brin­gen. Den­noch, oder gera­de des­we­gen: Der Team­geist ist trotz aller Höhen und Tie­fen nach wie vor spür­bar und das Bedürf­nis, mit einem Ach­ter in den Wett­kampf zu zie­hen, beson­ders vor Beginn der Herbst­sai­son stark aus­ge­prägt. Rudern im Ach­ter sorgt für ein Wir-Gefühl, das weit über das Boot hin­aus zusam­men schweißt. Wir wer­den also an unse­ren Trai­nings­ein­hei­ten (2x pro Woche) fest­hal­ten, und im Win­ter neben dem Was­ser­trai­ning noch aufs Ergo­me­ter stei­gen: Immer auf der Suche nach dem per­fek­ten Schlag.

Der perfekte Schlag (© Rüdiger Hubrich)
Die Wild Ladys vor der Bas­ler Altstadt-Kulisse

 

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Bar­ba­ra Orland

Bar­ba­ra Orland, habi­li­tier­te und renom­mier­te His­to­ri­ke­rin, ist kein The­ma der Wis­sen­schafts- und Tech­nik­ge­schich­te fremd: Sie kennt sich in der Geschich­te ganz mun­da­ner Gerä­te etwa der Wasch­ma­schi­ne genau­so aus wie in der Geschich­te der Fort­pflan­zungs­tech­ni­ken oder der Stoff­ge­schich­te der Milch. Ihre Pro­mo­ti­on Wäsche waschen: Tech­nik- und Sozi­al­ge­schich­te der häus­li­chen Wasch­pfle­ge (1991) ver­kauf­te sich tau­send­fach. Zur Zeit lehrt sie zur Kul­tur und Geschich­te der Life Sci­en­ces an den Uni­ver­si­tä­ten Basel und Luzern.

Erschie­nen in:

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