Alltag statt Romantik
Mit welchen Bildern und Metaphern beschreiben wir die Gesellschaft von morgen? Der Transhumanismus bietet uns derzeit einprägsame Metaphern, in denen Gesellschaft und Technik ‚verschmelzen‘, Menschen und Maschinen in eine gemeinsame ‚Superintelligenz‘ übergehen oder in denen wir auf eine ‚Singularität‘ zurasen. Dank zahlreicher Filme sind das nicht nur sprachliche, sondern wahrlich bewegende Bilder.
Allen Varianten des Transhumanismus gemeinsam ist ein Freiheits‑, wenn nicht Erlösungsversprechen. Dank der ‚Fusion‘ von Mensch und Maschine können wir unsere Sterblichkeit überwinden, unsere fünf Sinne erweitern und uns uns mit unausgesprochenen Gedanken verständigen. Ich hege durchaus Sympathien für den mutigen Entwurf einer Zukunft, in der wir uns nicht mehr nur als Menschen, sondern als Cyborgs begegnen. Dennoch setze ich dieser Zukunft einen Vergleich entgegen, der mir als Soziologe plausibler erscheint: Anstatt von der romantischen Verschmelzung rede ich von der Ehe zwischen Mensch und Technik:
Die Partner wollen nur das Beste füreinander, sie träumen von einer gemeinsamen Zukunft im smart home, freuen sich über die ehelichen oder unehelichen Kinder, den Garten und das gemeinsame Auto.
Doch der Teufel bzw. die Komplexität steckt im Detail: Die Schwiegermutter, die vergangenen Geliebten der Partnerin, der richtige Zeitpunkt für Sex oder Migräne.
Doch diese Komplexität und Ambivalenz einer Heirat zwischen Mensch und Technik wischt der Transhumanismus beiseite. Schlimmer noch: Er verkennt, dass wir seit unvordenklichen Zeiten bereits in einer Ehe mit der Technik leben – einer Ehe, die es uns hin und wieder verunmöglicht, uns in die Technik neu zu verlieben. Denn die Technik war schon immer unsere Gefährtin.
Die grenzenlose Freiheit der Cyborgs
Beim Transhumanismus handelt es sich um eine aktuelle technikphilosophische Bewegung, die für Human Enhancement plädiert – für die Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch eine technische Modifikation des Körpers. In den Visionen der Transhumanisten setzt sich die Technisierung der Lebenswelt bruchlos fort – letztlich bis unter die Haut. Brillen und Kontaktlinsen, die via augmented reality digitale und analoge Welt verschmelzen lassen, sind im Transhumanismus nur die ersten, zaghaften Schritte einer Cyborgisierung. In deren Zuge gleichen sich Maschine und Mensch, Künstliches und Natürliches, Virtuelles und Reales so weit aneinander an, dass diese Unterscheidungen selbst bedeutungslos werden.

Das Leben mit der Partnerin will nicht so recht gelingen.
Szene aus dem Film Robocop (Verhoeven 1987)
Transhumanistische Utopien verstehen Freiheit als Entgrenzung. In den Zukunftsentwürfen wird etwas ins Extrem getrieben, was in der Kultur der Moderne selbst angelegt ist: Eine Tendenz zur Optionssteigerung und Grenzüberschreitung – und zwar in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht. Im Fokus steht dabei stets der menschliche Körper. Dieser wird als Baustelle begriffen, an dem technologische Projekte der Optimierung, Steigerung, Erweiterung, Ausdehnung und Verbesserung ihren Ansatzpunkt suchen.
- Das Streben nach zeitlicher Optionssteigerung mündet im Transhumanismus in den Wunsch nach Unsterblichkeit durch technologisch unverwüstliche Körper.
- In sachlicher Hinsicht drehen sich transhumanistische Visionen um die Steigerung der Möglichkeiten des Erlebens und Handelns über gegenwärtige biologische Grenzen hinaus.
- Der Traum einer sozialen Entgrenzung findet seinen technologischen Ausdruck in Implantaten, die eines Tages Gedankenlesen und Gedankenübertragung ermöglichen könnten.
Wie würden wir uns verändern, wenn ein Gehirnchip uns permanent mit dem Netz verbinden würde – und damit zugleich mit den Milliarden von Objekten, die Teile des Internets der Dinge geworden sind? Wie würden sich Deutungen von Gesundheit und Krankheit verschieben, wenn erst Schwärme von Nanorobotern durch den Körper wandern, ihn ständig überwachen und jeden Tumor im Keim ersticken? Wir wissen es nicht. Meine Vermutung:
Die Welt bleibt auch nach der Hochzeit von Mensch und Maschine kompliziert.
Mit technischen Utopien wird Komplexität beiseite gefegt. In den Entgrenzungsvisionen des Transhumanismus wird der Cyborg vielmehr zur Chiffre unbändiger Freiheit. Technologische Entgrenzung wird in den entsprechenden Diskursen vorrangig als Instrument zur Verwirklichung einer Steigerung von Möglichkeiten interpretiert. Damit knüpfen transhumanistische Fantasien an den modernen Mythos einer technologischen Emanzipation von den Zwängen der Natur an. Doch dieser Mythos ist blind für die tiefgreifenden Ambivalenzen jedweder Technisierung. Eben diese Ambivalenzen sind auch bei der Cyborgisierung – als Form einer umfassenden Technisierung des Selbst – zu erwarten.
Um was für Ambivalenzen geht es? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir Distanz zu dem visionärem Nervenkitzel gewinnen, der die Diskussionen um die jeweils neuesten Technologien begleitet. Wir müssen uns der Selbstverständlichkeit des Technischen stellen. Denn Technik begegnet uns im Alltag primär nicht als zukünftiges Versprechen, sondern als gänzlich banaler Hintergrund unserer Lebenspraxis, als geräuschlose Infrastruktur, deren strukturierende Wirkung kaum auffällt, solange sie schlicht funktioniert. Sprechen wir also nicht über Cyborgs, sondern Autos.
Freiheit und Zwang der Automobilität
Am einfachen aber instruktiven Fall der Autofahrt bündelte Herbert Marcuse in einem 1941 erschienen Aufsatz seine Kritik an der Technisierung der modernen Lebenswelt (Marcuse 1985). Marcuse führt dabei anschaulich vor, wie sehr das moderne Leben durch Technik bestimmt und vorstrukturiert wird: Der Autofahrer muss sich nicht nur den technischen Realitäten des Autos selbst anpassen, sondern auch und gerade einem umfassenden System von Infrastrukturen, die seine Handlungen umfassend kanalisieren:
- Der Straßenverlauf reduziert die Anzahl möglicher Fahrtwege drastisch,
- Verkehrszeichen zeigen an, welches Fahrverhalten jeweils angemessen ist,
- Parkplätze und Raststätten geben vor, wie, wann und wo eine Pause einzulegen ist.
Die Bequemlichkeiten, die die moderne Verkehrsinfrastruktur bietet, entlasten von der Reflexion und ersetzen sie durch reflexhafte Automatismen und subtil wirkende Zwänge. Die menschliche Handlung wird zum Teilelement eines funktionierenden Apparates – und der Autofahrer integriert sich in diesen Apparat, da er seinen Alltag entlastet, obgleich er seine Freiheit einschränkt.

Doch freilich ist diese Deutung der Autofahrt unvollständig. Die technischen Strukturen des modernen Verkehrssystems schränken nicht nur Möglichkeiten ein, sie eröffnen auch Optionen, die zuvor nicht gegeben waren. Eine Autfahrt wäre unmöglich, existierte das Ensemble von Verkehrstechnologien nicht, das es Reisenden erlaubt, in kurzer Zeit von A nach B zu gelangen. Technik ist somit nicht nur freiheitseinschränkend, sondern eben auch stets – und womöglich zuvorderst – freiheitseröffnend.
Diese Freiheit hat gleichwohl ihren Preis, und dieser Preis besteht in der Notwendigkeit der Integration des Selbst in die Strukturen technischer Rationalität. Wir lassen uns von der Technik gefangen nehmen, da sie uns zur zweiten Natur geworden sind und wir insgeheim wissen, dass sie uns Wege des Erlebens und Handelns eröffnet, die uns sonst verschlossen bleiben würden. Zugleich aber ist diese technisch eröffnete Freiheit eine Last, da sie uns zwingt, mit Optionen zu rechnen, die wir sonst nicht einkalkulieren müssten: zum Beispiel mit Stau.
Befreiung und Gefangenschaft, Entlastung und Belastung. Diese Ambivalenzen des Technischen begleiten den Diskurs der Moderne seit jeher. Wir können ihnen nicht entkommen. Auch nicht als Cyborgs.
Wir sind immer schon Cyborgs gewesen
Die Erwartungen einer technologischen Befreiung durch Cyborgisierung – sie sind gewiss nicht ganz falsch, aber doch unvollständig. Wir müssen nicht in biokonservative Deutungsmuster zurückfallen, um die Cyborgutopien kritisch zu hinterfragen. Es geht nicht um eine zu bewahrende menschliche Natur. Die vergesellschaftete menschliche Natur ist selbst technisch. Um es mit dem französischen Techniksoziologen Bruno Latour (etwas überspitzt) auf den Punkt zu bringen: Wir sind unsere Technik (Latour 2006). Würde man alle Technik aus der menschlichen Lebenswelt entfernen, würden sich unsere Selbst- und Weltverhältnisse, unsere sozialen Beziehungen und Erfahrungen, so Latour, wohl kaum von der Realität der Paviane unterscheiden.
Vielleicht gilt es, den Cyborg weniger als zukünftige Verheißung zu begreifen, sondern als halbwegs zutreffende Beschreibung unserer gegenwärtigen technisierten Lebenspraxis: Maschine und Mensch, Künstliches und Natürliches, Virtuelles und Reales sind bereits anachronistische Kategorien geworden. Die Ambivalenzen des Cyborgs sind unsere Ambivalenzen. Die Zukunft ist schon da. Wir sind bereits technisch erweitert. Durch Autos etwa. Durch Smartphones. Unsere Infrastrukturen formen unsere Arten und Weisen des Zusammenlebens. Unsere Sozialität ist zutiefst technisch vermittelt. Und weil ein Zurück zur Natur nicht mehr funktioniert – wie auch? Ohne Kleider gar? – können wir der technologischen Bedingung unserer Existenz nicht entkommen. Wir sind vielmehr zur Freiheit verdammt, unser Selbst und unsere Welt technologisch zu gestalten. Als gegenwärtige Cyborgs, nicht als natürliche Menschen.
Als gegenwärtige Cyborgs können wir die Hochzeit von Mensch und Maschine etwas gelassener betrachten, denn wir sehen, dass beide schon seit längerem in wilder Ehe leben. Cyborgs wissen, dass soziale Strukturen nicht harmloser sind als materielle Techniken. Konventionen sind Sozialtechniken. Sozialtechniken sind auch Techniken. Sie sollten daher ebenso kritisch beäugt werden wie technische Innovationen. Wer sich vor der gentechnischen Manipulation der Nachkommen fürchtet, sollte nicht glauben, dass Erziehungstechniken unschuldig sind.
Wer sich vor der gentechnischen Manipulation der Nachkommen fürchtet, darf nicht glauben, dass Erziehung und Bildung weniger technisch sind.
Eine der Gründungsszenen der Soziologie war die Einsicht in die Härte sozialer Fakten. Soziale Fakten können uns ebenso lenken und auf Spur halten wie eine Straße. Die soziale Konvention der Ehe selbst ist ein gutes Beispiel: Sie gibt uns neue Möglichkeiten (etwa bei der Steuererklärung) und nimmt uns andere (etwa beim ALG II Antrag). Sie entlastet die Lebensplanung, doch belastet sie das Leben mit dem Dauerzwang zum Kompromiss. Und von Liebe und Sex war noch gar nicht die Rede.
Die Heirat von Mensch und Maschine liegt nicht vor uns, sondern hinter uns. Die Zeit der wilden Ehe ist vorbei, an die Flitterwochen erinnert nur noch das Facebook-Album. Wer sagt, dass eine Heirat Beziehungen nicht ändert, der irrt. Durch die Ehe kann eine Beziehung reichhaltiger und intimer, selbstverständlicher und konfliktträchtiger werden. Was früher natürlich erschien, wird nun zum Aushandlungsprozess, der – als reflexive Sonde – auch immer etwas über den Zustand der Beziehung selbst aussagt.
Ehe ist Alltag. Das gilt auch für die Ehe von Mensch und Maschine. Wir Cyborgs müssen in diesem technisierten Alltag leben, wir können diese Ehe nicht scheiden. Wir sind ihre Kinder.
Literatur
Marcuse, Herbert (1985): Some Social Implications of Modern Technology. In: Andrew Arato und Eike Gebhardt (Hg.): The Essential Frankfurt School Reader. New York: Continuüm, S. 138–162.
Latour, Bruno (2006): Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie. In: Andréa Belliger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, S. 483–528.
Bildnachweis
Das Titelbild basiert auf dem Gemälde „Die ungleiche Ehe“ von Vasili Pukirev (1862). © Avenue
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Sascha Dickel
Sascha Dickel erforscht als Soziologe das Zusammenleben von Mensch und Technik. In seiner Dissertation hat er sich ausführlich mit Human Enhancement und Transhumanismus auseinandergesetzt. Mit technischen Zukünften beschäftigt sich Sascha nicht nur wissenschaftlich: Er hat mehrere Science-Fiction-Kurzgeschichten verfasst, die wie seine wissenschaftlichen Essays ihm schon einige Preise eingebracht haben.
In der Annahme, Freiheit wie Erlösung seien zwingend geistige Phänomene, scheinen Fragen und Antworten (Versuche) der Philosophie des Geistes stets implizit obsolet für das meiste Transhumanismus Gedankengut zu obgenanntem. Neben monistischen, dualistischen (oder wie bei Leibniz gar eine Form des Parallelismus) Versuchen der Lösung scheint das Leib-Seele Problem im Vorbeizug gelöst worden zu sein. Das würde mich sehr interessieren.
Was ich mich frage ist, ob diese Parallelisierung mit der Ehe nicht zu kurz greift. Fasst man die Ehe als eine Institution, d.h. als ein „überindividuelles“ Konstrukt, dass gewisse Eigenschaften und Handlungsschemen (also Rollen?) den teilnehmenden Personen zuordnet, so muss man sich fragen, ob dies beim Verhältnis von Technik und Mensch ebenfalls eintritt. Reduziert man dieses Verhältnis auf die Tatsache, dass gewisse Handlungsräume sich schliessen, dafür aber andere Lebensbereiche entlastet werden, so trifft dies zu.
Die Formulierung, der „Notwendigkeit der Integration des Selbst in die Strukturen technischer Rationalität“ (parallel zur Integration des Selbst in die Strukturen sozialer „Rationalität“ der Ehe) verweist aber auf ein etwas anderes Verhältnis, als das, welches im Transhumanismus zum Ausdruckt kommt. Die Betonung der Befreiung scheint das Verhältnis, welches wir heute in der Ehe von „Mensch und Technik“ haben, umzukehren. Der Cyborg ist nicht das Kind dieser Ehe, sondern will deren Scheidung sein. Anstelle der sozialen Ordnung, die aus der körperlichen Notwendigkeit (der Unbestimmtheit des Menschen) entspringt, will der Cyborg die Entgrenzung durch die Aufwertung des Körpers erreichen, also die Notwendigkeit des Sozialen zerstören. Die Ambivalenz verschiebt sich aus dem Sozialen, in das Individuelle. Der Körper muss sich nun nicht länger der technischen Rationalität unterwerfen, sondern die Technik den somatischen Bedingungen. Hierbei wird jedoch nicht reflektiert, mit was die „Unbestimmtheit des Menschen“ ersetzten wird. Ähnlich einer Maschine, die durch ihre Funktion bestimmt ist, muss auch der Cyborg, um vollständig zu sein, ein Funktion verkörpern. Da aber nicht von Robotern gesprochen wird, sondern von Cyborgs, ist eine vollständige Determinierung (wie bei Instinkten?) nicht angedacht.
Ich denke in der der Tat, dass der Transhumanismus (zumindest in seinem utopischem Überschwang) auf die einseitige Auflösung eines verwickelten Verhältnisses hinausläuft. Die Figur des Cyborg kann aber durchaus ambivalenter gedacht werden. Ich würde daher nicht sagen, dass „der Cyborg die Entgrenzung durch die Aufwertung des Körpers erreichen, also die Notwendigkeit des Sozialen zerstören [will]“. Der oder die Cyborg will erstmal gar nichts – zumindest wenn man ihn eher als Methapher für die gegenwärtige Situation technischer Intimität betrachtet. Tatsächlich würde ich daher tendenziell auch eher von wechselseitiger Anpassung sprechen – und das, wir gewohnt sind, „Mensch“ zu nennen, ist bereits Produkt dieser Anpassung (gleiches gilt wohl auch für Technik). Das sind aber freilich tentative Überlegungen.
Toller Artikel! Die Metapher der Ehe finde ich sehr interessant. Nur würde ich nicht so weit gehen, uns als Smartphone-Benutzer schon als Cyborgs zu bezeichnen. Einen Mensch mit Herzschrittmacher hingegen schon.
Den Sprung von der Ehe zwischen Mensch und Technik zu den Sozialtechniken als Technik(en) finde ich jedoch zu abrupt. Der Artikel wäre stringenter, wenn Du Dich auf die Ehe von Mensch und Technik fokussieren würdest. Hingegen könntest Du noch stärker auf die Ambivalenzen technischer Innovationen eingehen.
Sehr gut, danke. Marshall McLuhan hat ein ganzes Kapitel über das Auto (Die mechanische Braut) geschrieben in seinen Magischen Kanälen. Erschienen 1964. Also schon damals eine Heirat zwischen Mensch und Maschine. Wie er sich irrte, er glaubte: „Das Auto hat, mit einem Wort, alle Raumformen, die uns Menschen verbinden und trennen, vollkommen umgestaltet und wird es etwa noch ein Jahrzehnt lang tun, bis dann die elektronischen Nachfolger des Autos sich zeigen werden.“ Nun sind 50 Jahre vergangen und ein Ende ist nicht abzusehen. Trotzdem sind die Magischen Kanäle sehr lesenswert.
… und die Freiheit aller Kinder. So ist es mit der Freiheit, sie scheint einfach begrenzt zu sein.