„In der Schwangerschaft geben das Leben des Körpers und das des Geistes ihre Anstrengung der Getrenntheit auf und verflechten sich auf fatale und bleibende Weise.“ (S. 23)
„Denn Mutterschaft ist eine Karriere in Konformität; keine List könnte die Seele gewaltlos daraus befreien, und ihr Grundausbildungslager ist die Schwangerschaft.“ (S. 23)
„Denn Mutterschaft ist eine Karriere in Konformität; keine List könnte die Seele gewaltlos daraus befreien, und ihr Grundausbildungslager ist die Schwangerschaft.“
„Wie ein geteilter Flusslauf beachten die Frau und die Mutter einander nicht, obwohl sie vor wenigen Momenten noch ununterscheidbar waren; sie stolpern voran, jede in ihrem eigenen Leben, angetrieben von derselben Kraft und endlich von dem Wunsch befreit, deckungsgleich sein zu wollen.“ (S. 64)
„Die Frage, was eine Frau ist, wenn nicht eine Mutter, wird verdrängt durch die Frage, was eine Frau ist, wenn sie Mutter wird, und was eine Mutter zu sein eigentlich bedeutet.“ (S. 66)
„Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre, dass ich in den vergangenen Wochen zur Zeugin ihrer zweiten Geburt geworden bin; dass ihr qualvolles, verzweifeltes Weinen der Ausdruck eines furchtbaren, ganz persönlichen Werdens war. Ich merke, dass sie zu jemandem geworden ist. Ich merke auch, dass sie nicht mehr weint, dass sie den ersten Existenzschmerz aus eigener Kraft überwunden und daraus sich selbst erschaffen hat. Und auch mich, denn obwohl ich nichts ausrichten oder verstehen konnte, war ich die ganze Zeit dabei, und das, weiss ich mit plötzlicher Gewissheit, ist Mutterschaft; es braucht nicht mehr als da zu sein. Mit jedem Schrei hat sie mich eine Wahrheit gelehrt, die ebenso schlicht wie hart ist: Meine Zuneigung, meine albernen Unterhaltungsversuche, meine stundenlange Hingabe, dieses besondere Ich, das ich bei ihrer Pflege hervorkehren wollte, waren ebenso überflüssig wie meine Wut und meine Verzweiflung. Ich muss nichts weiter tun als da zu sein; dieses nichts weiter schliesst natürlich alles ein, denn da zu sein bedeutet, nirgendwo anders zu sein und alles andere fallen zu lassen.“ (S. 78,79)
„Ich begreife, dass ich mit meinem Ausbruch allein dastehe, dass ich selbst entschieden habe, aus dem Schutz der Liebe herauszutreten. Als Mutter habe ich mich aus dem Netz der Vergebung durch andere gelöst. Ich verstehe, dass Verantwortung übernehmen genau das bedeutet.“ (S. 87)
„Mein Erbarmen, mein allgemeines Mitgefühl mit der Menschheit läuft in einer einzigen Wunde zusammen, einer düsteren, wissenden Kerbe, geschlagen durch die Fähigkeit, einem anderen Leid anzutun. Mir wird klar, dass ich mich in der Liebe immer als Opfer gesehen habe, nie als Aggressor, und dass ich den Glauben an meine eigene Unschuld gepflegt und zugleich wie einen schweren Konflikt dargestellt habe, wie einen unschlichtbaren Streit.“ (S. 88)
„Ich bin kein liebevollerer, grosszügigerer, fähigerer Mensch geworden, sondern habe einfach nur grössere Angst vor den Grenzen der Liebe und eine gesteigerte Gewissheit, dass es diese Grenzen gibt.“ (S. 88)
„Die Elternliebe ist nicht nur die Blaupause aller künftigen Ausprägungen der Liebe, sondern auch eine Auseinandersetzung mit, eine Re-inszenierung und Erkundung von Selbstliebe. Wenn ich mich um meine Tochter kümmere, muss ich mich mit meiner eigenen Verletzlichkeit und ursprünglichen Hilflosigkeit auseinandersetzen. Ich erlebe abermals, woran ich mich nicht erinnern kann, meine frühe Existenz in einem weissen Rauschen, in einer Welt aus Milch, Schemen und Nichts.“ (S. 91)
„Nicht die Liebe macht mir Kummer, wenn ich mein Kind zurücklasse und mich fühle wie an einer Leine, die sich hinter mir entrollt, wohin ich auch gehe. Es ist vielmehr so, dass die ganze Welt den Makel meines Fortgehens trägt und meine Rücksichtslosigkeit die Summe dessen schmälert, was ich in meiner Abwesenheit erreichen kann.“ (S. 94)
„Ich begreife, dass ab jetzt eine Person existiert, die ich ist und zugleich nicht auf meinen Körper beschränkt. Anscheinend habe ich eine Art Kolonie gebildet. In naher Zukunft wird alles, was sie braucht oder will mit dem wetteifern, was ich brauche oder will, und vielleicht wird es sich als stärker erweisen.“ (S. 103)
„Anscheinend habe ich eine Art Kolonie gebildet.“
„Eben jenen stundenweisen Luxus – die freuen und unbelasteten Scharniere zwischen diesem Ereignis und jenem – sehnte ich mir insgeheim zurück, denn mit der Geburt meiner Tochter war er verschwunden, und er wurde für die nächsten Jahre nicht zurückerwartet.“ (S. 152)
„Mein Verlust und mein Gewinn standen in keinerlei Verhältnis, und alle Berechnungen fanden ohne das Ziel eines endgültigen, letztmaligen Ausgleichs statt. (S. 153)
„Zum ersten Mal spürte ich den unangenehmen Scheinwerfer der Verantwortlichkeit auf mir, sein harsches Gleissen im Dunkeln, und seither schliesse ich die Augen nur noch in Erwartung dieses Lichtes, das keine gesegnete Morgensonne ist, sondern eine Heimsuchung, ein Phantom, ein Ruf in diese geheime und gesetzlose Welt der Nacht. Wie ein grosser Bär hatte der Schlaf – weicher, warmer, wachsamer Wächter der Bewusstlosigkeit – sich abgewendet und davongetrollt, um scheinbar nie zurückzukommen.“ (S. 184)
„In den ersten Monaten empfand ich die Müdigkeit als körperlichen Schock. Die Sprungfeder der Aktivität bekam keine Gelegenheit mehr, sich nachts zu lösen, und baute in meiner Brust einen immer höheren Druck auf, der meine natürliche Anspannung zu einer einzigen grossen Sollbruchstelle verdichtete.“ (S. 184f.)
„In den dazwischenliegenden Jahren hat sie gelernt, die Nacht als eine Zeit zu sehen, in der sich die Wahrheit offenbart; sie das Gegenteil vom Tag, dem Simulanten.“ (S. 187)
„Vorübergehend hatte ich zu leben aufgehört, weil ich zu beschäftigt damit gewesen war, mich um einen anderen Menschen zu kümmern.“ (S. 207)
„Mir wurde klar, dass ich sie für immer haben würde, dass ich sie behalten durfte, und die Vorstellung überwältigte mich mit einem unkontrollierbaren Gefühl, dem Ferment der Liebe.“ (S. 209)
„Ich bin immer wieder überrascht, wie realitätsnah der Mythos der Mutterschaft ist: Ich brauchte es mehr, ihre Mutter zu sein, als sie meine Bemutterung brauchte.“ (S. 211)
„Ich bin immer wieder überrascht, wie realitätsnah der Mythos der Mutterschaft ist: Ich brauchte es mehr, ihre Mutter zu sein, als sie meine Bemutterung brauchte.“
„Die Mutterschaft erscheint mir wie eine Reise, wie eine Staffellauf, dessen Zweck es ist, den Stab des Lebens weiterzugeben; man beeilt sich, schwitzt und schuftet, und wird kurz darauf zur keuchenden Zuschauerin degradiert. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsanstrengung, und der Ruhm wird endlos umgestaltet und weitergereicht. Ich sehe, wie meine Tochter mir enteilt und ihrer Zukunft entgegenstrebt, und in diesem Bild erkenne ich auch mein Ende, meine Grenze, die Grenze meines Lebens.“ (S. 212)
„Mütter sind das Land, aus dem wir stammen. Wenn ich mein Kind im Arm halte, versuche ich manchmal, diese Zugehörigkeit aus seiner Sicht zu verstehen, mich fest und unbeweglich zu fühlen, meinen Geruch, meine Gestalt und meine Stimmung einzufangen. Ich versuche, die Landschaft ihrer Herkunft zu verkörpern und mir vorzustellen, wie es ist, mich als Mutter zu haben. Es erscheint mir bemerkenswert, dass der unerklärliche und folgenschwere Vorgang hier geschah, in meinem Haus. Ich meine nicht den Vorgang, der meine Tochter in die Welt gebracht hat, sondern den Prozess, durch den ich zu einer Mutter wurde.“ (S. 212)
„Mütter sind das Land, aus dem wir stammen.“
„Oft höre ich Leute sagen, sie könnten ihre Eltern, seit sie selbst Eltern geworden seien, viel besser verstehen. Die Aussage regt mich auf und erfüllt mich mit böser Vorahnung, denn anscheinend wird das Unrecht über Generationen weitergeben wie eine Krankheit. Sie weckt den Wunsch in mir, meine Tochter bis zur Selbstverleugnung zu ertragen, damit keine weiteren Jahre an das Missverständnis verloren gehen. Ich gelobe, meine Gefühle von Unzulänglichkeit und Unglaubwürdigkeit für mich zu behalten. Ich gelobe, die Serie zu unterbrechen und die Geschichte von Beherrscher und Beherrschtem zu beenden, hier und jetzt.“ (S. 213)
„In der Partitur der Mutterschaft zeigen sich erste Pausen, eine Stille wie zwischen zwei Stücken auf einem Album. Sie ist umgeben von einem Geräusch, aber dennoch Stille. Ich fange an, mich flüchtig darin wiederzuerkennen, wie eine Bekannte, die am Fenster vorbeigeht. Der Anblick ist ein Schock, immerhin handelt es sich um eine Totgeglaubte.“ (S. 213f.)
„Die Mutterschaft erscheint mit immer weniger wie ein Zustand und mehr wie eine Arbeit, eine zeitlich begrenzte Aufgabe mit Anfang, Ende und freien Zeiten. In dieser Freiheit nimmt meine Tochter zusehends mehr Raum ein, sie ist wie eine neue Zutat, die Tropfen für Tropfen zur Summe dessen beiträgt, was ich bin. Wir sind ein Gemisch, ein Experiment.“ (S. 215)
„Meine Beziehung zu ihr ist wie eine Beziehung zu jedem anderen Menschen; sie nimmt die Gestalt einer Suche nach Einheit an, nach einem verlorenen Gleichlang, und die Hoffnung auf Wiedergewinnung verfolgt uns ein Leben lang.“ (S. 216)
„Ich habe das eigenartige Gefühl, nicht mehr im Einklang mit der Zeit zu leben, sondern mit einer gewissen Verzögerung, als hinge ich bei einem Telefonat nach Übersee am anderen Ende der Leitung. So ist es, denke ich, Mutter zu sein.“ (S. 217)
„Sie versucht, Schritt zu halten und den Anschluss nicht zu verlieren, doch sie schwimmt gegen eine mächtige Strömung an.“ (S. 218)
Rachel Cusk. 2019. Lebenswerk. Über das Mutterwerden
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Suhrkamp
Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.