„Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz zu Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. Und vermutlich vergesse ich es deshalb, weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so gross ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. Aber gleichzeitig ist sie auch tröstlich.
Wie kann etwas, das weh tut, mich trösten? Da hast du’s schon. Genau so was meine ich.
Wenn ich zum Beispiel sage: Ich liebe dich. Oh ja, ich liebe dich. Es ist unglaublich. Du bist unglaublich! Du bist so schön und klug und lebendig, du bist zum Küssen und zum Streiten und zu allem bist du die Beste. Du bist das Beste, was mir je passiert ist, und gleichzeitig wär’s mir lieber, du würdest nicht existieren, denn ich halte dich, und dass du da bist, nicht aus. Wie ich um dich fürchte, wie ich um mich fürchte, nur, weil du geboren bist. Und ich muss dir ganz im Ernst auch raten, dass du deinerseits schleunigst das Weite suchst. Renn, so schnell du kannst, bring Platz zwischen dich und mich, werde nur schnell erwachsen. Ich bin Gift für dich, verstanden? Die Familie ist der Hort der Neurosen, und die Herrscherin im Hort, in unserm Horst, das bin ich. Ich bin der Adler mit den Krallen und dem warm-weich brütenden Hintern, mit der krächzenden Stimme und der enormen Spannweite, ich hacke jedem, der dir zu nahe kommt, die Augen aus, kreise über dir, bringe dir das Fliegen bei und bin dir in allem voraus. Ich zeige dir die Schönheit dieser Welt und die Gefahren, und wenn du alleine losfliegst, warte ich im Horst auf dich: voller Güte und Missgunst und Stolz.
Renn, so schnell du kannst, bring Platz zwischen dich und mich, werde nur schnell erwachsen.
Du weisst ja längst, wovon ich rede.
Neulich hast du dich geschüttelt, als du nach Hause kamst. ‚Ehrlich, Mann, das stinkt hier so!‘
Und du hast recht, mein Schatz. Es stinkt. Nach uns. Nach Familie. So köstlich, geborgen, eklig, hau ab! Komm an mein Herz. Und erinnere dich, dass du weg musst.“ (S. 5f. Anfang)
„Diesen Gesichtsausdruck habe ich auch, diesen Gesichtsausdruck geben Mütter ihren Töchtern weiter, genau wie die ungelebten Träume, ja: dieser Gesichtsausdruck erzählt von diesen Träumen, während der Mund verkniffen schweigt. Der Mund ist verkniffen, das Kinn ein wenig vorgereckt. Renate ist gross darin, so zu gucken. Ich aber auch.
Und Bea fängt jetzt ebenfalls schon damit an, und ich ertrage nicht, dass es immer so weiter geht, lieber will ich wütend sein, reden und schreiben und Renate in den Tee spucken – damit sie mal sieht, was wütend sein heisst.“ (S. 9)
„Ich habe beschlossen, alles zu erzählen. Nichts ist natürlich, alles ist gemacht, hängt miteinander zusammen, nutzt oder schadet dem einen oder der andere, und was als selbstverständlich gilt, ist in besonderem Masse verdächtig.“ (S. 11f.)
„Aber du siehst, ich kenn sie, denn sie werden erzählt und entfalten ihre Wirkung. Noch so was, das ich viel zu spät begriffen habe: Wie stark Geschichten sind und dass Erzählen Macht bedeutet.“ (S. 17)
„Selber schuld, sagst du jetzt vielleicht, doch das stimmt nicht. Das sind Wege, die entweder hierhin oder dorthin führen, und ich will, dass du das weisst. Was gedeckt und was nicht gedeckt, was gemeinsam getragen oder abgelehnt wird, ist Verhandlungssache. Eine Machtfrage. Damit kannst du nicht früh genug beginnen, dir das immer wieder klar zu machen: dass die Umstände, in denen du lebst, sich nicht zufällig und schon gar nicht zwangsläufig ergeben haben. Entscheidungen und Glaubenssätze liegen ihnen zugrunde, und als nächstes musst du fragen: Wessen?“ (S. 31)
„Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint. Ich hätte gerne mehr Stringenz, eine erkennbare Einheit, einen Trost für alle, die auf der Suche sind. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser.“ (S. 41)
„Das war der Anfang, Bea, ich hätte es wissen können. Es klappt nicht, erst zu schweigen und dann doch den Mund aufzumachen, entweder oder, du oder ich, Auftrag hin oder her – es sollte nicht um mich gehen, wenn es doch um sie ging. Sich mit den eigenen Gefühlen zu befassen, ist riskant.“ (S. 90)
„Es ist gut so. Es ist schön.
Wir sind am Ziel unserer Träume, haben unsere Fronten und Fassaden, Katzen und Kinder; wir sind Meisterinnen des schönen Scheins, der Beschwörung des heilen und heilenden Familienlebens, darauf sind wir trainiert, darin wurden wir von unseren Müttern geschult und zu ihren Komplizinnen gemacht, und inzwischen sind wir es, ohne es noch zu bemerken. Glauben wirklich, es sei gut so, sei zumindest unsere eigene Entscheidung. Weshalb wir uns selbst und einander nicht mehr daran erinnern dürfen, wer und wie wir einmal waren.“ (S. 101)
„Dennoch. Kunst ist die einzige Möglichkeit, den Widerspruch fest- und auszuhalten, die Zitate vom Erlebten zu trennen und gleichzeitig so schnell umeinander zu wirbeln, dass das, was ist, erkennbar wird.
Und es ist immer noch so, Bea. Und wieder.
Auch die Welt der Brotboxen und Doodlelisten, Kontoauszüge und Komposteimer, Adventskalender und Läusemails muss eine Hinterseite haben, und ich werde nicht aufhören, mich zu drehen und alles zu verwirbeln, damit sie vorkommt, damit ich selbst noch vorkomme in dem Leben, das mein einziges ist.
Klingt pathetisch? Ist mir egal. Auch die Wahl meiner Stilmittel werde ich mir nicht diktieren lassen. Ich kann kein Klavier, ich nehme Klanghölzer. Ich bin’s meinem einen und einzigen Leben schuldig: mich nicht einschüchtern zu lassen von meiner Scham und meiner Angst.“ (S. 135)
„Das ist die grausige Erkenntnis, vor der alle sich drücken, allen voran ich selbst: dass es nichts zureden, geschweige denn zu besprechen gab. Es war entschieden. Es war genauso, wie es war. Es war wahr.“ (S. 19)
„Mutterliebe ist vergiftet. Verlangt angeblich nichts und in Wahrheit aber alles. Sagt: «Ich bin, weil du bist, und dich gibt’s nur, weil ich bin. Weil ich mich um dich sorge! Achte nicht auf mich» – obgleich ich jeden Schritt und Atemzug, den du tust, auf mich beziehe.
Mutterliebe ist vergiftet.
Es gibt Geschichten, die uns hätten warnen können, die von Verführung, Fallen und Verkleidungen handeln, auch vom Gift der Mutterliebe, dem Gegenpart zum grossen Gönnen, der Angst der Mütter, nicht mehr gebraucht zu werden: Volksmärchen.
In der Sammlung der Brüder Grimm sind sie allesamt zensiert, wurden aus Müttern Stiefmütter gemacht. Wusstest du das, Bea? Ich nicht.“ (S. 217)
„Diese Urlaube, diese Partys, diese ständige Inszenierung. Es ist! Nicht! Schön! Eine Familie zu sein. Es ist anstrengend und zermürbend und ein ewiges Gezanke. Es ist Frieren und Fusspilz und zermantschter Butterkeks auf Kabinenfussboden.“ (S. 222)
„ ‚Ich schaff es nicht‘, sage ich. «Es ist nicht zu schaffen. ‚Wie schaffst du das‘ ist keine Frage, sondern eine Distanzierung, eine geheuchelte Anerkennung, ausserdem sollten wir nach Obama und Merkel und Bob der Baumeister ohnehin vorsichtig sein mit dem «Schaffen»: Wir schaffen’s nicht, wer hat es uns überhaupt aufgetragen? Wer sind ‚wir‘? Wer trägt die Last für wen? Wem nützt es?» (S. 249)

Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.