«Ich träume Frauen, die wie Lurche an Land gehen und atmen lernen. Wie sie die Luft geniessen und die Sonne. Wie sie in knackige Blätter beissen und genüsslich den Bauch auf den warmen Sand drücken. Sie spazieren im feinen Luftzug und lecken sich übers Auge, wenn ihnen ein Sandkörnchen hineinkommt.
Aber am Ende des Traums kehren sie immer wieder ins Wasser zurück.» (S. 7, Vorwort)
«Natürlich schäme ich mich. Schämen ist mein grösstes Talent. Es war von Anfang an da, ich wusste, wie das geht, über eine Bühne stolpern, tollpatschig sein. Das Schämen ist ein Schlund und wohnt ganz tief in meinem Bauch. Dort ist jeder einzelne Vorfall gespeichert.» (S. 11)
Schämen ist mein grösstes Talent.
«Wenn ich auf dem Rücken liege und nachdenke, krabbelt das Schämen aus dem Schlund und besetzt meine Gedanken, und wenn ich jetzt nicht schnell aufstehe und etwas anderes mache, werde ich steif vor Angst, dass das Schämen nie weniger wird, sondern immer mehr.» (S. 11)
«Es ist sehr wichtig, nicht dick zu werden. Es ist sehr wichtig, jünger geschätzt zu werden. Es ist eine Tragödie, alt und hässlich zu sein. Aber natürlich gibt es Wichtigeres!» (S. 15)
«Bald werden meine Eltern die Gefahr wittern, sie werden die Grenzen nachziehen, erst mit Nachdruck, dann mit Stacheldraht, und gleich Strafart und Strafmass androhen, denn nichts hilft mehr in einer wankenden, parfümierten Welt ohne Säulen.
Auch die Sprache deformiert sich. Manches ist und so, manches oder so. Echt?» (S. 56f.)
«Egal, in was ich den Körper hineinstopfe, wen ich ihm zur Seite stelle, was ich ihm zuführe, womit ich ihn bemale, was ich mit ihm anrichte, es steht darauf geschrieben: Trauriges Mädchen mit coupierten Wünschen.» (S. 77)
«Wenn ich die Matura habe, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu studieren, weil ich für keinerlei Arbeit, die mir zuzumuten ist, qualifiziert bin. Ich mache mir Gedanken über meine Zukunft, stochere ich meinen Möglichkeiten herum. Wenn ich mich für eine Studienrichtung entscheide, muss ich gleichzeitig an meine Zukunft als Mutter, Gesellschaftsdame, Karrieresau und Arbeiterin denken. Wenn ich studiere, muss ich Karriere machen, sonst war die Mühe vergebens. Wenn ich das Studium abbreche, habe ich versagt und bin eine von denen. Wenn ich das Studium fertig mache und dann ein Kind bekomme, werde ich die Wahl zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit treffen müssen und es wird immer ein Teil fehlen. Wenn ich fertig studiere, ein paar Jahre arbeite und dann erst ein Kind bekomme, darf ich dann zu Hause bleiben, ohne versagt zu haben?» (S. 84)
«Kaum eine von uns träumt. Beim Träumen ist Vorsicht angebracht. Träumen hat etwas mit Raketen zu tun oder mit Bill Gates oder Beamen. Träumen ist inkompatibel mit Kinderkriegen. Träumchen allerdings gehen.» (S. 95)
Träumen ist inkompatibel mit Kinderkriegen. Träumchen allerdings gehen.
«Wir gehen in die Schule, wir erledigen unsere Aufgaben. Eine nach der anderen bekommen wir klammheimlich unsere Periode und Brüste. Das ist unsere Wertanlage für die Zukunft. Während die Buben Testosteron ausschütten, einander in den Schritt zwicken und mit Bällen abschiessen, werfen unsere Organismen transparente Angelschnüre ins Morgen aus. Eine führt in unseren Uterus, der immer schon diesen unappetitlichen Namen hatte. Eine führt in die Brüste, in der Drüsen sich verdicken und auf das Kommando aus der Gehirnanhangsdrüse warten. Eine führt zu unseren Träumen.
Wir investieren: in modische Kleidung, in Arbeit an und gegen unsere Körper, in die Annäherung an willkürliche Ideale. Kapillaren werden angelegt; sie verbinden uns schön früh mit dem Markt, der von uns lebt und der moralischen Verpflichtung zu Gratisarbeit. So kann das Blut gleich von Anfang an fliessen. Es fühlt sich auch ganz selbstverständlich an, weil unsere Herzen scheinbar im Gleichklang pumpen: Liebe zu den Kindern und alle Kraft der Welt für das Schönsein. Familiensinn, Mutterliebe und Eleganz! Das aber sind die Schnittstellen zu den Parasiten. Die Parasiten sind nicht nur die Männer. Die auch. Auch unsere Kinder. Die Alten. Wir alle. Alle parasitieren wir auf den Träumen der Frauen.» (S. 96)
Alle parasitieren wir auf den Träumen der Frauen.
«Aber etwas muss passiert sein, vorher. Etwas hat uns so kaputt gemacht, dass wir nicht geschrien haben. Dass wir uns schämen, obwohl sich die Täter schämen müssten. Es ist etwas passiert, das uns zu hohlen Behältnissen macht, wo sie nicht nur ihre Hausarbeit und ihre Kinder hineintun können, sie können sogar ihre Scham in uns verstauen. Wie praktisch. Es ist soviel Platz in uns!» (S. 110)
«Das Schämen war früher ein Lärmen und Toben, denke ich, aber heute ist es unaufgeregt, hat seinen Schrecken verloren und ist zu einer lauen Erledigung verkümmert. Wie mit Fett reichert sich mein Bauch mit dem Schämen an. Früher fiel mir das Schämen leichter; heute fühle ich mich überfressen damit. Ich schäme mich pflichtbewusst, aber anstatt zu brennen, ächzt und gärt es nur noch.» (S. 130)
«Alle anderen, wir, waren anders. Anders sein heisst, zurücktreten und sich anstellen. Es heisst, darauf zu warten, dass das unangenehme Gefühl sich verzieht. Ein Bücktrieb.» (s. 131)
«Ich frage mich, ob das Schämen vererbt wurde. Ich denke an meine verschwundene Grossmutter. An meine Urgrossmütter, von denen ich nichts weiss, ausser, dass sie um die Jahrhundertwende gelebt und sich für etwas geschämt haben müssen.» (S. 131)
«Weil ich mir vormachte, es wäre egal, ob ich eine Frau oder ein Mann bin. Als könne ich mir Sicherheit erwandern, erarbeiten, ertrotzen. Dabei bin ich selbst der unsichere Ort. Es reicht nicht sich einzureden, man könne alles und müsse es nur wollen. Das sollte ich längst wissen und nur ja nicht glauben, ich wäre da eine Ausnahme. Ich lasse die Beine so, wie sie sind. Die Märchen über den Vergewaltiger im Wald, den Triebtäter hinter der nächsten Hausmauer, den Mörder im freundlichen Nachbarn, sie gehen überallhin mit. Und vielleicht haben sie ihre Berechtigung. Es gibt kein Entkommen von meinem Geschlecht.» (S. 182)
«Aus Herzmilch ist Butter geworden. Mir ekelt vor der Weichheit in meiner Brust. Vor dem süssen Ziehen und dem gesenkten Blick in meine Zukunft. Etwas will sich beugen. Alles will sich beugen, weil Lenchen will, was ihr zusteht. Jetzt.
Mich ärgert, dass niemand auf meiner Seite ist. Was passieren müsste, damit sich überhaupt etwas bewegen würde in diesem Mutter-Vater-Kind-Sumpf. Und dann denke ich an Lenchen und weiss es. Wir Frauen lehnen uns nicht auf, weil wir die Kinder und Alten opfern müssten. Wir müssten einen Knochen im Herzen haben, damit das Mitleid mit den Kindern und den Alten uns nicht mehr die Milch aus dem Herzen pressen kann. Es müsste etwas Biologisches passieren, damit wir uns auflehnen. Etwas, das uns zwingt, die Alten und die Kinder zu opfern.» (S. 222)
Wir müssten einen Knochen im Herzen haben, damit das Mitleid mit den Kindern und den Alten uns nicht mehr die Milch aus dem Herzen pressen kann.
«Ich stehe am schmutzigen Fenster und balle die Fäuste. Ich bin so eine geworden. Ich will, dass jemanden die Schuld trifft, dass diese Arbeit immer die Frauen machen. Wem soll ich die Schuld geben? Den Männern, die sich immer freistrampeln? Den versklavten Hausfrauen, die Märtyrerinnen spielen? Den gebildeten Frauen, die sich bedienen lassen, anstatt ihre Männer in die Pflicht zu nehmen? Manchmal denke ich, das Übel entspringt den tiefsten Wünschen der Frauen, den Teil, der denken will, aus sich herauszubrechen, damit Raum gewonnen wird: für Kindererziehung, für Altenpflege. Aber ganz am Beginn steht der Haushalt. Man kann kleine Deals aushandeln und die einfordern, das geht, ohne dass man die Beziehung zu sehr belastet. Aber diese Verantwortung über alles, die Herrschaft über Ablaufdatum, Abholzeiten, Nährstoffgehalt, Jausentage und Nicht-Jausentage, das Gesamtwerk der unbezahlten Intelligenz, die alles zusammenhält und das Wohlbefinden der ganzen Familie trägt, die bleibt den Frauen. Die bleibt mir.
Die Frau braucht einen Knochen im Herzen. Damit der das Herz hart macht. Das Herz darf nicht so weich sein, weil sonst die Männer und die Kinder das Herz in die Faust nehmen und es drücken. Heraus kommt die Liebe, die nie genug sein kann. Die Stunde, die wir uns aus dem Tag geraubt haben. Die Träume, die wir nicht haben durften. So tropft und tropft die Herzmilch in eine Schüssel, die dann weggetragen wird von uns. Ein Leben lang.» (S. 228 f.)
«Träume. Die machen den Unterschied. Sie hatten mindestens zwanzig Träume und Ihre Mutter lächelte, als Sie in die hinaus krähten, Sie würden gerne Astronaut, Polizist oder Müllmann werden. Dafür sorgt Ihr Wunschorgan. Das hätten Mädchen theoretisch aus. Leider wird es nie gross. Es zahlt sich gar nicht aus mit dem Wünschen und Träumen anzufangen, weil dann ja irgendwann die Kinder kommen. Die Stummel sind das Getue mit den Puppen. Der Pferdeterror und die Prinzesinnenallüren. Oder sagen wir es gleich frei heraus: wir Frauen haben de facto kastrierte Wunschorgane.» (S. 231)
Wir Frauen haben de facto kastrierte Wunschorgane.
«Nur unser Gehen bringt Bewegung in die Masse. Wir waten. Ich sehe mich von oben, mit dem Strich bürsten und gegen den Strich verzwirbeln. Die anderen neben mir. Ich sehe uns wie einen Pflug durch das System graben. Ich höre das leise Quieken einer Revolution. Die Revolution schläft zusammengerollt hinter den sanften Hügeln des Alpenvorlandes. Sie füllt die Täler des schattigen Speckgürtels mit ihrem muskulösen Leib, und ihre Schwanzspitze reicht schon in die grossen Städte. Das Geheimnis ist, sie schlafend zu wissen. Die Kinder sind uns schon voraus und krabbeln mit ihren ausgekühlten Körpern gerade auf die nachmittagswarmen Väter, wir können sehen, wie sie sich winden, wie sich ihre Gesichter verziehen und ihre nachmittägliche Ruhe empfindlich gestört ist. Sogar ihre empörten Schreie dringen durch den Geräuschteppich zu uns.» (S. 237, Schluss)
Gertraud Klemm. 2014. Herzmilch.
Droschl.
Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.