Man­so­or Aday­fi: Ich stam­me aus Jemen, dem Land der Lie­be. 14 Jah­re lang war ich Gefan­ge­ner in Guan­tá­na­mo. Dort nann­ten sie mich „441“ oder „Smi­ley Trou­ble­ma­ker“. 2016 ent­lie­ßen sie mich nach Serbien.

Sebas­ti­an Köthe: In Guan­tá­na­mo hat Kunst für eini­ge Gefan­ge­ne eine wich­ti­ge Rol­le gespielt. Wie kam es dazu?

MA: Als Oba­ma an die Macht kam, woll­ten die Ame­ri­ka­ner Guan­tá­na­mo mensch­li­cher aus­se­hen las­sen. So began­nen wir, mit der Lager­lei­tung Kunst­klas­sen aus­zu­han­deln. Es war eine so gro­ße Sehn­sucht in uns, Kunst zu machen. Wir waren so lan­ge auf der Insel gefan­gen, ohne das Meer, die Ster­ne oder auch nur den Him­mel zu sehen. Als es end­lich Kur­se gab, war es nicht ein­fach. Wir wur­den gefes­selt dort­hin gezerrt und vier Mal durch­sucht. Im Klas­sen­zim­mer ket­te­ten sie uns so am Boden fest, dass wir nur eine Hand frei hat­ten. Zwei­mal die Woche hat­ten wir 45 Minu­ten Zeit. Um ein Bild zu been­den, brauch­te es also Wochen, Mona­te, manch­mal ein gan­zes Jahr. Und wäh­rend wir mal­ten, wuss­ten wir nie, ob sie die Bil­der zer­stö­ren oder ein­zie­hen wür­den. Tat­säch­lich ver­nich­te­te das Mili­tär 2013 gro­ße Bestän­de. Bis 2017 war es uns mög­lich, mit­hil­fe von Anwäl­tin­nen und Anwäl­ten Bil­der aus Guan­tá­na­mo zu verschicken.

Mansoor Adayfi war 14 Jahre lang in Guantánamo gefangen – ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren. Letztes Jahr hat er mit einer Arbeit über die Rehabilitation und Reintegration ehemaliger Guantánamo-Gefangener ins Sozial- und Arbeitsleben einen Bachelor in Management gemacht. Dieses Jahr wird er seinen Master machen. Mit Hilfe seiner Anwälte, seiner Verleger und seiner Freunde hat Mansoor seine Memoiren Don’t Forget Us Here. Lost and Found at Guantánamo veröffentlicht und dazu Artikel in der New York Times geschrieben. Im Moment arbeitet er an einem zweiten Buch Life After Guantánamo. Er kämpft weiterhin für die Schließung von Guantánamo.
Man­so­or Aday­fi war 14 Jah­re lang in Guan­tá­na­mo gefan­gen – ohne Ankla­ge und ohne Gerichts­ver­fah­ren. Letz­tes Jahr hat er mit einer Arbeit über die Reha­bi­li­ta­ti­on und Reinte­gra­ti­on ehe­ma­li­ger Guan­tá­na­mo-Gefan­ge­ner ins Sozi­al- und Arbeits­le­ben einen Bache­lor in Manage­ment gemacht. Die­ses Jahr wird er sei­nen Mas­ter machen. Mit Hil­fe sei­ner Anwäl­te, sei­ner Ver­le­ger und sei­ner Freun­de hat Man­so­or sei­ne Memoi­ren Don’t For­get Us Here. Lost and Found at Guan­tá­na­mo ver­öf­fent­licht und dazu Arti­kel in der New York Times geschrie­ben. Im Moment arbei­tet er an einem zwei­ten Buch, Life After Guan­tá­na­mo. Er kämpft wei­ter­hin für die Schlie­ßung von Guantánamo.

SK: Was bedeu­te­te Dir die Kunst?

MA: Stell Dir ein Leben ohne Kunst vor! Es wäre fad und grau. Uns half die Kunst, die Gefan­gen­schaft zu über­le­ben. Wenn du 15 oder 20 Jah­re ein­ge­sperrt bist, bist du irgend­wann von dei­nem frü­he­ren Leben, dei­ner Fami­lie, dei­nen Erin­ne­run­gen und Erfah­run­gen abge­schnit­ten. Alles ist so weit weg von dir, auch du selbst. Ob ich will oder nicht, Guan­tá­na­mo hat mei­ne Per­son und mein Selbst zutiefst ver­än­dert. Je län­ger du dort warst, des­to frem­der wur­dest du dir. So musst du ein neu­es Ich erzeugen.

Als wir zu malen began­nen, mal­ten wir, was wir am meis­ten ver­miss­ten. Die Kunst ver­band uns wie­der mit der Außen­welt, mit unse­ren Erin­ne­run­gen und Gefüh­len – letzt­lich mit uns selbst. Wir mal­ten das Meer, den Him­mel, unser Zuhau­se, die Blu­men, alles. Für uns ist die Kunst aus Guan­tá­na­mo etwas Leben­di­ges wie wir. So kämp­fen wir heu­te dafür, dass wir auch unse­re Kunst auch Guan­tá­na­mo freibekommen.

SK: Wie reagier­ten die Auf­se­her auf die Kunst?

MA: Als wir die Ame­ri­ka­ner um Kunst­kur­se baten, sag­ten sie: „Ihr seid Ter­ro­ris­ten.“ Sie erwar­te­ten, dass wir Bom­ben, Pan­zer und Blut malen wür­den. (Lacht.) Als sie unse­re Bil­der sahen, waren sie über­rascht und schockiert.

SK: 2017 stell­te das John Jay Col­lege of Cri­mi­nal Jus­ti­ce in New York erst­mals 40 Kunst­wer­ke aus Guan­tá­na­mo aus. Wel­che Reak­tio­nen gab es darauf?

MA: Zuerst möch­te ich Prof. Dr. Erin Thomp­son dafür dan­ken, dass sie die­se Aus­stel­lung kura­tiert hat. Die US-Regie­rung reagier­te dann abrupt. Sie ver­trat den Stand­punkt, wonach ihr die Kunst gehö­re und von ihr zer­stört wer­den dür­fe. Außer­dem kün­dig­te sie den Ver­trag mit dem Kunst­leh­rer in Guan­tá­na­mo und setz­te für Jah­re alle Mit­tel für die Kunst­kur­se aus. Seit 2017 darf kein Kunst­werk mehr aus Guan­tá­na­mo aus­ge­führt wer­den. Inzwi­schen kön­nen mei­ne Brü­der in Guan­tá­na­mo wie­der malen, doch ihre Kunst darf Guan­tá­na­mo immer noch nicht verlassen.

Ich kämp­fe gegen die Regie­rung für die­se Kunst. Sie gehört mei­ner Ansicht nach weder der Regie­rung noch den Gefan­ge­nen, son­dern der gan­zen Mensch­heit. Sie ist ein Stück Geschich­te, das nicht igno­riert, ver­brannt oder als „Gefahr für die natio­na­le Sicher­heit“ weg­ge­schlos­sen wer­den darf. Du kannst dir 1000 Kunst­wer­ke aus Guan­tá­na­mo anschau­en – wenn von einem wirk­lich eine Bedro­hung aus­gin­ge, ich wür­de es eigen­hän­dig zerstören.

Die Kunst gehört weder der Regie­rung noch den Gefan­ge­nen, son­dern der gan­zen Menschheit.

SK: Inwie­fern gehört die Kunst der gan­zen Menschheit?

MA: Kunst ist die Spra­che der See­le. Mit Kunst kön­nen Men­schen über die Zeit hin­weg mit­ein­an­der spre­chen. Die Kunst­wer­ke ent­hal­ten Aus­sa­ge und Gefüh­le und sind ein Abbild ihrer Zeit. Durch die Kunst kön­nen Men­schen an der Geschich­te teil­ha­ben. Des­halb sind unse­re Bil­der nicht nur Kunst, son­dern immer auch Zeitzeugen.

Dank der Kunst ist am bes­ten zu ver­ste­hen, was uns in Guan­tá­na­mo gesche­hen ist. Weil wir nicht ein­fach malen konn­ten, was wir woll­ten, mal­ten wir, was wir ver­lo­ren hat­ten. Was Du malst, spie­gelt dein gan­zes Wesen wider, dei­ne Gefüh­le und dei­ne Umge­bung. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten uns als die schlimms­ten unter den schlim­men Ter­ro­ris­ten gebrand­markt. Doch in Guan­tá­na­mo mal­ten wir, um der Welt zu zei­gen, wer wir wirk­lich sind – Men­schen, gute Men­schen mit Wün­schen und Fami­li­en. Wir haben das zu Beginn nicht geplant, aber heu­te ist es so.

Als nicht-wei­ße Mus­li­me müs­sen wir unser Mensch­sein auch nach Guan­tá­na­mo stän­dig bewei­sen. Aber damit habe ich abge­schlos­sen. Heu­te bewei­se ich mein Mensch­sein nie­man­dem mehr.

SK: Heu­te zeigst Du Bil­der von Sab­ry und ande­ren Künst­lern aus Guan­tá­na­mo auf Face­book und Twit­ter. Warum?

Sabri Al Qurashi 2012. Sabri stammt ebenfalls aus Jemen. Er war 12 Jahre lang Gefangener in Guantánamo, bevor er nach Kasachstan gebracht wurde.
Sab­ri Al Qura­shi 2012. Sab­ri stammt eben­falls aus Jemen. Er war 12 Jah­re lang Gefan­ge­ner in Guantánamo, bevor er nach Kasach­stan gebracht wurde. 

MA: Mit Hil­fe unse­rer Freun­din der Kunst kämp­fen wir für die Schlie­ßung von Guan­tá­na­mo. Jeden Tag nut­ze ich die Kunst, um Men­schen dar­an zu erin­nern, dass Guan­tá­na­mo immer noch exis­tiert. Unglück­li­cher­wei­se gelingt es uns seit 2017 nicht mehr, Kunst aus Guan­tá­na­mo von dort zu befrei­en. Zur­zeit schreibt eine Grup­pe ehe­ma­li­ger Gefan­ge­ner des­halb einen offe­nen Brief an Prä­si­dent Biden. Dazu bean­tra­gen wir einen Pro­test vor dem Wei­ßen Haus, zu dem wir die Kunst mit­neh­men möch­ten. Sie wird für uns dort demons­trie­ren. Für mich ist Kunst wie ein Lebe­we­sen, das mein Schick­sal teilt. Jedes Bild wird durch zig Depart­ments geschleift, durch­sucht, gescannt, mar­kiert, mit einer Num­mer ver­se­hen. Wie wir.

Die Kunst wird für uns demonstrieren.

Immer, wenn ich Kunst pos­te, sehe ich, wie vie­le Men­schen sie mögen und wie gut sie sind. Das macht mich glück­lich. Ich schät­ze sehr, wenn Men­schen die Kunst schät­zen, ich schät­ze ihre Mensch­lich­keit. Sie sehen dich nicht als Ter­ro­rist, Mons­ter oder Mör­der. Sie sehen dich als mensch­li­ches Wesen.

Sabri Al Qurashi 2014.
Sab­ri Al Qura­shi 2014. 

SK: Wenn ich Eure Bil­der anse­he, bin ich hin- und her­ge­ris­sen: Ich sehe die Schön­heit, das Meer, die Blu­men, die Far­ben – und den­ke zugleich an den Hor­ror, den du und die ande­ren erlebt haben. Wie gehst du damit um, was fühlst du, wenn du die Bil­der heu­te siehst?

MA: Ich lie­be die­se Bil­der. Sie erlaub­ten uns im Gefäng­nis frei zu sein. Wenn du malst, nimmt dich dein Bild mit, es lässt dich flüch­ten – und über­le­ben. Es ver­bin­det dich mit dei­nen Erin­ne­run­gen und der Welt da draus­sen. Du fühlst dich nicht mehr gefan­gen. Wir alle haben die Kunst geliebt. Spä­ter haben wir die Kunst in unse­ren Zel­len aus­ge­stellt. Sogar unse­re Wär­ter und Wär­te­rin­nen moch­ten unse­re Bil­der. Ich bin sehr froh, dass wir in Guan­tá­na­mo Kunst machen durf­ten – sie ver­ant­wor­tet die glück­li­chen Augenblicke.

SK: Du sagst, Kunst aus Guan­tá­na­mo gehö­re der Mensch­heit, aber gibt es einen Ort, an dem du sie beson­ders gern aus­stel­len würdest?

MA: Ich fän­de schön, wenn die Kunst um die Welt rei­sen wür­de. Sie hat eine Bot­schaft: Selbst am schlimms­ten Ort die­ser Welt gibt es Mensch­lich­keit. Es gibt immer einen Lebens­fun­ken, der in uns auf­tau­chen kann. Kunst aus Guan­tá­na­mo gibt Men­schen Hoff­nung. Ich wünsch­te, ins­be­son­de­re ande­re Gefan­ge­ne könn­ten die­se Kunst sehen.

SK: Inter­es­sier­te dich Kunst vor Guantánamo?

MA: Ich konn­te gut schrei­ben. Sab­ry mal­te bereits damals ger­ne, er hat­te eini­ge Schul­wett­be­wer­be gewon­nen. Aber wir hat­ten unser Talent noch nicht aus­ge­bil­det. In Guan­tá­na­mo konn­te Sab­ry sein Kön­nen ver­bes­sern. Nach der Ent­las­sung mal­te er 300 bis 400 Bil­der. Die Bil­der sind immer schö­ner geworden.

SK: Sab­ry hat mit dem Malen von Bil­dern über Guan­tá­na­mo aufgehört…

MA: Ich kämpf­te jah­re­lang dafür, dass er damit wie­der anfängt. Aber es ist nicht ein­fach, sich zurück­zu­er­in­nern und die­se Momen­te wie­der zu erle­ben. Ich dach­te, alle sind wie ich. Doch … ich den­ke, ich habe Guan­tá­na­mo nie ver­las­sen. Ich den­ke immer­zu dar­an. Das hat natür­lich auch damit zu tun, dass ich unter ande­rem für die Guan­tá­na­mo Sur­vi­vor Fund-Kam­pa­gne und als Guan­tá­na­mo-Pro­jekt­ko­or­di­na­tor arbei­te. Heu­te wer­de ich noch einen Vor­trag über die Kunst halten.

Ja, ich habe jeden ein­zel­nen Tag mit Guan­tá­na­mo zu tun. Guan­tá­na­mo ist hier, dort, über­all. Für eini­ge mei­ner Brü­der ist das sehr schwer zu ertra­gen. Dein Bewusst­sein will all dies zurück­las­sen. Auch ich möch­te nicht alles immer und immer wie­der im Kopf erle­ben müs­sen. Auch ich möch­te das hin­ter mir las­sen. Denn falls ich ein­mal hei­ra­te, wird mei­ne zukünf­ti­ge Frau sagen: “Sei mal still, lie­ber Man­so­or. Immer dreht sich hier alles um Guan­tá­na­mo.” Doch noch lebe ich allein und so geht das schon.

Guan­tá­na­mo ist hier, dort, über­all. Für eini­ge mei­ner Brü­der ist das sehr schwer zu ertragen.

Sabri Al Qurashi 2012 und 2014
Sab­ri Al Qura­shi 2012 und 2014

SK: Wer poli­ti­sche Gewalt über­lebt hat, muss die­se trotz­dem immer wie­der bezeu­gen. Eini­ge schaf­fen das ab einem bestimm­ten Punkt nicht mehr. Macht dir das Sorgen?

MA: Ja! Die­se Woche hat das Pen­ta­gon eini­ge Fotos aus den ers­ten Tagen von Guan­tá­na­mo ver­öf­fent­licht. Ich sand­te sie in unse­re Whats­App-Grup­pe frü­he­rer Gefan­ge­ner und frag­te: „Könnt ihr jeman­den iden­ti­fi­zie­ren?“ Jemand schrieb: „Bit­te, Man­so­or, bit­te erin­ne­re uns nicht. Schick uns die­se Bil­der nicht.“ Doch das sind gar kei­ne schlim­men Bil­der. Das was tat­säch­lich geschah, das war schreck­lich. Doch die­se Fotos sind des­in­fi­ziert, schön­ge­färb­te Bil­der von Mil­tär­fo­to­gra­fen, die zei­gen, wie Gefan­ge­ne beten, essen, zum Arzt gebracht wer­den oder neue, sau­be­re, oran­ge Klei­der bekom­men. Aber sie zei­gen nicht, was wirk­lich geschah – wie wir her­um­ge­schleift, nackt aus­ge­zo­gen und ver­ge­wal­tigt wur­den, mit der Kapu­ze über den Kopf in die Zel­le gewor­fen, gefes­selt und ange­ket­tet. Dort ange­kom­men, wur­den wir wie­der und wie­der geprü­gelt, unse­re Lip­pen platz­ten, die Augen waren so zuge­schwol­len, dass wir für Tage nichts sehen konn­ten. Wir haben noch immer Nar­ben von die­sen Schlä­gen. Wenn die Ame­ri­ka­ner aus „Sicher­heits­be­den­ken“ nicht ein­mal der Kunst erlau­ben, Guan­tá­na­mo zu ver­las­sen – glaubst du, sie wür­den Bil­der zei­gen, die sie in einem schlech­ten Licht daste­hen ließen?

Bei Guan­tá­na­mo geht es nicht nur um uns Gefan­ge­ne, es geht um die Mensch­heit. Guan­tá­na­mo ist eines der geheims­ten und teu­ers­ten Gefäng­nis­se der Welt. Es ist ein Sym­bol der Unter­drü­ckung, der Recht­lo­sig­keit, des Macht­miss­brauchs. Als Sym­bol ermäch­tigt es die Tyran­nen die­ser Welt zu jeder Unge­rech­tig­keit. Das ist das Erbe von Guan­tá­na­mo, das die Ame­ri­ka­ner erzeugt haben. Wir Men­schen müs­sen mit einer Stim­me sagen: Schliesst Guantánamo.

Bild­nach­weis

Lee­re Plas­tik­sit­ze in einem Gefäng­nis. Foto: JJZ, Alamy.

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