So stür­zen wir uns von einer glä­ser­nen Klip­pe, von dem schar­fen Grat der Zeit, der immer wie­der aufs Neue ent­steht. So ver­las­sen wir den fes­ten Grund, den unser Leben uns bis dahin gebo­ten hat, und tun die­sen letz­ten gefähr­li­chen Schritt ins Lee­re, ohne zu zögern. Nicht, weil wir beson­ders mutig wären, son­dern weil es kei­ne Alter­na­ti­ve gibt.“ S. 10


Das Neu­ge­bo­re­ne ist rund­her­um in ein schnee­weis­ses Wickel­tuch gehüllt. Als pack­te die Heb­am­me es des­we­gen so fest ein, weil sie den Schock abmil­dern möch­te, von der war­men Enge der Gebär­mut­ter in eine unend­li­che Wei­te gekom­men zu sein.

Das klei­ne Wesen tut sei­nen ers­ten Atem­zug und saugt Luft in sei­ne Lun­gen. Es weiss nicht, wer es ist, wo es ist und was gera­de ange­fan­gen hat. Das wehr­lo­ses­te Geschöpf, hilf­lo­ser als ein Vogel­jun­ges oder ein Welpe.

Die Frau, blass vom Blut­ver­lust, schaut in das Gesicht ihres schrei­en­den Kin­des. Auf­ge­regt nimmt sie das Bün­del in den Arm. Sie weiss noch nicht, wie sie den Winz­ling beru­hi­gen kann. Bis gera­de eben hat sie noch unglaub­li­che Schmer­zen gelit­ten. Uner­war­tet plötz­lich ver­stummt das Neu­ge­bo­re­ne. Wahr­schein­lich wegen des Geruchs. Die Ver­bin­dung zwi­schen Mut­ter und Kind ist noch da. Die blin­den schwar­zen Augen des Babys suchen das Gesicht der Mut­ter – der Stim­me fol­gend. Bei­de wis­sen noch nicht, was begon­nen hat. Da ist nur die­se star­ke Ver­bin­dung zwi­schen ihnen. In der Stil­le des Raums, in dem der Geruch nach Blut hängt, und durch das weis­se Wickel­tuch zwi­schen den bei­den Kör­pern hin­durch.“ S. 19

Die blin­den schwar­zen Augen des Babys suchen das Gesicht der Mut­ter – der Stim­me fol­gend. Bei­de wis­sen noch nicht, was begon­nen hat. Da ist nur die­se star­ke Ver­bin­dung zwi­schen ihnen.


All die Erin­ne­rung an mein bis­he­ri­ges Leben und an mei­ne Mut­ter­spra­che, die untrenn­bar damit ver­bun­den ist, schei­nen dort weg­ge­schlos­sen zu sein. Je hart­nä­cki­ger die Iso­la­ti­on, des­to leb­haf­ter und nie­der­drü­cken­der uner­wünsch­te Gedan­ken. So sehr, dass der Ort, an den ich mich letz­ten Som­mer geflüch­tet habe, für mich kei­ne Stadt am ande­ren Ende der Welt ist, son­dern viel­mehr in letz­ter Kon­se­quenz das Zen­trum mei­nes Innen­le­bens.“ S. 28


Jeder kennt doch Momen­te, in denen er, allein in sei­nem Zim­mer lie­gend, eine fühl­ba­re Käl­te in der Luft spürt. Stirb nicht, bit­te stirb nicht. Unver­ständ­li­chen Lau­ten von Lie­be und Ver­zweif­lung lau­schend. Als Ori­en­tie­rung nur Kör­per­wär­me und einen unschar­fen hel­len Fleck. Viel­leicht habe auch ich wie sie mei­ne Augen geöff­net, aus der Dun­kel­heit kom­mend und eben­so suchend.“ S. 37

Stirb nicht, bit­te stirb nicht. Unver­ständ­li­chen Lau­ten von Lie­be und Ver­zweif­lung lau­schend. Als Ori­en­tie­rung nur Kör­per­wär­me und einen unschar­fen hel­len Fleck.


Stirb nicht, bit­te stirb nicht.

Denn die­se Wor­te sind fest in ihr ver­an­kert und schüt­zen sie wie ein Amu­lett.“ S. 39


Wenn wir dort ste­hen, wo Was­ser auf Was­ser trifft und die Bewe­gung der Wel­len beob­ach­ten, die uns unend­lich erscheint – tat­säch­lich ist sie end­lich, in glei­chem Mas­se, wie die Erde und das gan­ze Son­nen­sys­tem end­lich sind und irgend­wann ver­schwin­den wer­den –, bekom­men wir eine Ahnung davon, dass unser Leben nur einen Wim­pern­schlag dau­ert.“ S. 63


Trotz­dem stapf­te sie unver­dros­sen durch das Schnee­ge­stö­ber. Sie war aus­ser­stan­de, zu begrei­fen, wie etwas so Feind­li­ches und Kal­tes gleich­zei­tig ver­gäng­lich und über­wäl­ti­gend schön sein konn­te.“ S. 70


An einem kal­ten Mor­gen, als sich vor ihrem Mund ein weis­ses Atem­wölk­chen bil­det, ist das der Beweis, dass sie lebt, dass wir leben. Der Beweis dafür, dass unse­re Kör­per warm sind. Kal­te Luft dringt in unse­re licht­lee­ren Lun­gen, wird von der Tem­pe­ra­tur unse­rer Kör­per erwärmt und strömt als weis­ses Wölk­chen wie­der hin­aus. Das Wun­der des Lebens, sicht­bar in Form von in der Luft hän­gen­den, weiss­grau­en Gebil­den.“ S. 79

Das Wun­der des Lebens, sicht­bar in Form von in der Luft hän­gen­den, weiss­grau­en Gebilden.


Auf man­che Erin­ne­run­gen hat die Zeit kei­nen Ein­fluss. Das­sel­be gilt für Schmerz. Sei­ne Macht ist nicht abso­lut, und er muss nicht zwangs­läu­fig zer­stö­re­risch sein.“ S. 94


Und sie ver­gass oft.

Dass ihr Kör­per, wie jeder­manns Körper,

ein Haus aus Sand ist.

Dass der aus­ein­an­der­fal­len kann

und schon dabei ist zu zerbröckeln.

Dass er unaufhörlich

zwi­schen ihren Fin­gern zer­rinnt.“ S. 102


Soll­te sie sich Schritt für Schritt in den dunk­len Oze­an vor­an­tas­ten oder sich auf die­ser Insel des Lichts behaup­ten?“ S. 109


Die gan­ze Zeit war sie auf­recht gegan­gen wie jemand, der nie ein Leid erfah­ren hat­te. Jedes Stück Haut, das nicht genäht wor­den war, ver­steck­te sie hin­ter einem sau­be­ren Schlei­er. Jeg­li­chen Abschied und alle Trau­er hat­te sie ver­drängt. Sie hat­te geglaubt, sie kön­ne sich selbst vor Leid schüt­zen, indem sie sich vor­mach­te, nie zer­bro­chen wor­den zu sein.

Daher blei­ben noch ein paar Din­ge für sie zu tun:

Mit dem Lügen aufzuhören.

Ihre Augen zu öff­nen und den Schlei­er wegzuziehen.

Eine Ker­ze anzu­zün­den für all die Toten und die See­len, an die sie sich erin­nert – ein­schliess­lich ihrer selbst.“ S. 127

Sie hat­te geglaubt, sie kön­ne sich selbst vor Leid schüt­zen, indem sie sich vor­mach­te, nie zer­bro­chen wor­den zu sein.


Wenn ein ewig lang schei­nen­der Tag end­lich zu Ende geht, braucht es eine Zeit, in der man nicht spricht. So wie man vor dem Ofen instink­tiv die star­ren Hän­de zur Wär­me­quel­le aus­streckt, so braucht man Zeit, die Behag­lich­keit des Schwei­gens ins sich auf­zu­neh­men.“ S. 147

 

Han Kang: Weiss. Über­set­zung: Ki-Hyang Lee.
Auf­bau Ver­lag. 2020.