„Den Mund aufmachen, das heisst nicht lauter sprechen, es heisst: sich das Recht nehmen, einen Wunsch zu äussern. Das trauen wir uns oft nicht, wir zögern, bevor wir uns etwas wünschen. (…) Ein Zögern ist nicht dasselbe wie eine Pause. Es ist ein Versuch, den Wunsch zunichte zu machen. Aber wenn Sie bereit sind, den Wunsch aufzunehmen und auszusprechen, dann können Sie auch flüstern – das Publikum wird Sie dennoch hören.“ (S. 16)
„Als Mütter waren wir alle nur noch Schatten unserer selbst, wurden verfolgt von der Frau, die wir gewesen waren, bevor wir Kinder hatten. Wir wussten nicht recht, was wir mit ihr anfangen sollten, mit dieser ungestümen, unabhängigen jungen Frau, die ständig hinter uns herlief und maulte und mit dem Finger zeigte, während wir unsere Kinderwägen durch den englischen Regen schoben. Wir wollten patzig antworten, aber es ging nicht; es fehlten uns die Worte, um zu erklären, dass wir nicht einfach ein paar Kinder «bekommen» hätten – wir hatten uns verwandelt (neue, schwere Körper, milchpralle Brüste, hormonelle Programmierung darauf, beim ersten Laut unseres Babys zum ihm zu eilen), waren Wesen geworden, die wir selbst nicht ganz verstanden.“ (S. 19f.)
Als Mütter waren wir alle nur noch Schatten unserer selbst, wurden verfolgt von der Frau, die wir gewesen waren, bevor wir Kinder hatten.
„Die Mutter war DIE FRAU, die sich die ganze Welt zu Tode vorgestellt hatte. Wie sich zeigte, war es sehr schwer, gegen die nostalgische Phantasie der Welt von unserer Bestimmung im Leben anzutreten. Problematisch war, dass auch wir alle möglichen aberwitzigen Vorstellungen davon hatten, was und wie eine Mutter zu «sein» hatte, und der unbedingte Wunsch, nur ja niemandem zu enttäuschen, wie ein Fluch an uns klebte. Es war uns noch nicht ganz klar, dass die MUTTER, wie sie im Gesellschaftssystem erdacht und politisiert wurde, ein Mythos war. Die Welt liebte den Mythos mehr, als sie die Mutter liebte. Dennoch fühlten wir uns schuldig, wenn wir den Mythos zerstörten, denn es bestand die Gefahr, dass die Nische, die wir uns und unseren vielgeliebten Kindern geschaffen hatte, rund um unsere schlammverkrusteten Sportschuhe zerbröckelte – diese Sportschuhe, die vermutlich von Kindersklaven in globalen Ausbeuterbetrieben zusammengenäht worden waren. Es war ein Rätsel; denn mir schien, dass die männliche Welt mit allen ihren politischen Absprachen (niemals zugunsten von Kindern und Frauen) im Grunde neidisch war auf unsere Leidenschaft für unsere Babys. Wie bei allem, was mit Liebe zu tun hat, beschwerten unsere Kinder uns massloses Glück – auch Unglück – , niemals aber ein Elend wie das, in das uns das Neopatriarchat des 21. Jahrhunderts stürzte. Es wollte uns passiv, aber ehrgeizig, mütterlich, aber voller erotischer Energie, opferwillig bis zur Selbstverleugnung und dabei zufrieden – wir sollten starke moderne Frauen sein und mussten gleichzeitig alle möglichen Erniedrigungen hinnehmen, in der Aussenwelt ebenso wie in den eigenen vier Wänden. Ständig hatten wir Schuldgefühle wegen fast allem, und wir wussten nicht einmal, was wir eigentlich falsch gemacht hatten. (S. 20f.)
Die Welt liebte den Mythos mehr, als sie die Mutter liebte.
Deborah Levy. Was ich nicht wissen will.
Wagenbach Verlag. 2013.
Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.