Nur drei Buchstaben umfasst das Wörtchen, das seit 2021 im französischen Online-Wörterbuch Le Robert zu finden ist: iel. Ein Personalpronomen, das laut Le Robert „eine Person gleich welchen Geschlechts“ bezeichnen kann.
So unscheinbar das Wort, so durchschlagend seine Wirkung. Seit einem Jahr fluten Kommentare zur gendergerechten Sprache die Medien. Politik und Prominenz positionieren sich. Der Abgeordnete François Jolivet bezeichnet in einem offenen Brief an die Académie française die drei Buchstaben als „Beschmutzung“ der Sprache. Die écriture inclusive lässt anscheinend niemanden kalt.
Seit Richelieus Zeiten normiert und kontrolliert die Académie française die französische Sprache. Ihrer Schützenhilfe kann Jolivet sicher sein. Denn so unterschiedlich ihre Mitglieder auch sind, so sehr eint sie der Wille zur Konservierung der Sprache. Als 2017 das erste Schulbuch die écriture inclusive aufnimmt, brandmarkt die Académie diese Schreibweise als „tödliche Gefahr“ für die französische Sprache und Literatur.
Ab wann aber nimmt der Wille, die Sprache und Literatur zu beschützen, diese selbst in Gefangenschaft? Anders gefragt: Wie frei ist die Literatur wirklich?
Vielleicht lässt sich diese Frage ja mit einem Blick auf die Geschichte der Sprachnormierung beantworten. Sich deren Anfänge vor Augen zu führen, kann dabei helfen, diese Dynamiken besser zu verstehen. Dass die „Gender-Debatte“ sowie die Haltungen der Akademien stark länderspezifisch ausgeprägt sind, zeigt der Vergleich mit Italien: In Frankreich ist die Literatursprache damals wie heute aufs Engste mit Normierungsfragen verknüpft. In Italien hingegen sind Literatur und Sprachregulierung inzwischen weitestgehend unabhängig voneinander.
Malherbe und die „reine“ Sprache
Drehen wir das Rad der Geschichte vierhundert Jahre zurück. Damals, zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, hält François de Malherbe sprachliche Regeln fest, die bis heute ihre Schatten werfen. Das Bedeutsame daran: Malherbe ist Dichter. Seine Normen erarbeitet er anhand von Sonetten seines Kollegen Philippe Desportes, die er kommentiert und, nota bene, korrigiert. Er berichtigt jeden Verstoß gegen die Grammatik. Ob die Korrekturen das Versmaß oder den Reim beeinträchtigen, ist ihm gleichgültig. Malherbe ist zugleich der Erste, der das Maskulinum grammatisch über das Femininum stellt: Bei der Koordination von Elementen mit unterschiedlichem Genus sei der bislang praktizierte accord de proximité unangemessen. Statt das Genus an das nächst liegende Element anzugleichen, soll dem Maskulinum der Vorzug gegeben werden.
Von der Freiheit der Literatur ist nie die Rede.
Malherbe rückt also zuerst der Literatur auf den Leib. Ausgerechnet von der Dichtung geht seine Normierung aus – und strahlt von dort in alle anderen Bereiche der Sprache hinein. Diese „Doktrin“ sowie die anschließenden Sprachdebatten veranlassen Kardinal Richelieu, den König um die Gründung der Académie française zu ersuchen. 1635 ist es so weit. Von Anfang an sitzen Gesellschaft und Literatur eng beisammen: Damals wie heute zählt die Académie Literaturschaffende neben Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft zu ihren Mitgliedern, genannt „les 40 immortels“. Die Gründungsstatuten formulieren ein klares Ziel:
Die Hauptaufgabe der Akademie wird es sein, mit allem Fleiß und aller Sorgfalt daran zu arbeiten, unserer Sprache bestimmte Regeln zu geben und sie rein, beredt und fähig zu machen, die Künste und Wissenschaften zu behandeln (Artikel XXIV).
Reinheit und Schönheit einerseits, Alltagstauglichkeit andererseits, ästhetische und pragmatische Aspekte also, sind gleichgesetzt. Niemand weist der Kunst einen gesonderten Bereich zu. Niemand sieht sie als autonom an. Von der Freiheit der Literatur ist nie die Rede.
Die Académie verneint zwar stets, dass sie etwas vorschreibe. Sie sei lediglich eine fürsorgliche „Hüterin“ und „Zeugin“ des bon usage, des richtigen Sprachgebrauchs. Doch da sie angeblich weiß, was „richtig“ oder „falsch“ ist, verliert sie ihre Bescheidenheit. Und so zeichnet sich die Académie bis heute durch stark wertende, präskriptive Äußerungen aus, die sich meist gegen jede sprachliche Innovation richten. Fast jede ihrer Veröffentlichungen will strikte Vorschriften durchsetzen. Das gilt auch für das in neunter Auflage erscheinende Wörterbuch. 2002 noch hat die Académie weibliche Titel- und Berufsbezeichnungen als „zerstörerische sprachliche Entwicklung“ und als „gefoltertes Vokabular“ gebrandmarkt. Erst seit 2019 erkennt sie solche Bezeichnungen an. Weitere Ausnahmen will sie aber vorerst keine machen.
So wundert es auch niemanden, wenn die Académie als „Garantin der Zukunft“ ausdrücklich auf ein Verbot der écriture inclusive setzt. Denn nur so sei die französische Sprache am Leben zu erhalten.
Von Bembo bis zur „consulenza linguistica“
Auch in Italien gibt es eine solche Akademie. Sie diente der französischen gar als Vorbild. Und seit dem 24. September 2021 hat auch sie, die Accademia della Crusca, etwas zur inklusiven Sprache zu sagen. Zusammenfassen lässt sich das in etwa so:
„Gendergerechte Sprache? An sich ja eine ganz nette Idee. Aber: Neutrum haben wir keines, diesen komischen Laut kennen wir nicht und Sonderzeichen, vor allem diesen kleinen Stern, finden wir doof. Also: Lasst uns doch einfach erst einmal beim generischen Maskulinum bleiben! Und solange warten wir halt mal ab, was sich die Sprecher des Italienischen sonst so einfallen lassen.“
Im Unterschied zu Frankreich erhält die Stellungnahme wenig mediale Aufmerksamkeit. La Repubblica widmet sich dem Thema zwar, beschränkt sich aber auf eine knappe Zusammenfassung. Der Corriere della sera, die auflagenstärkste Zeitung, kümmert sich gar nicht darum. Von hitzigen Debatten also keine Spur, von existentieller Sorge um die Literatur schon gar nicht. Warum?
Fangen wir auch hier von vorn an, nämlich, wie so häufig in Italien, bei Dante, Petrarca und Boccaccio, den drei schillernden Autoren des 14. Jahrhunderts. Auf diese Tre Corone lassen sich etwa 90% des heutigen italienischen Wortschatzes zurückführen. Wer des Italienischen mächtig ist, versteht Boccaccios Dekameron auch heute noch, ganz ohne Wörterbuch. Zu verdanken ist das dem Humanisten und späteren Kardinal Pietro Bembo. Er schlägt 1525 vor, die Schriftsprache an den drei florentinischen Autoren zu orientieren. Der Vorteil dieses Modells liegt auf der Hand: Bembo orientiert sich nicht am sich zeitgenössischen Gebrauch, dessen stetiger Wandel sich kaum in Regeln fassen lässt. Stattdessen benennt er ein klares Korpus und schließt Formen des Sprachwandels aus. Aspekte, die im Hinblick auf die schriftliche Fixierung und Verbreitung einer sprachlichen Norm durchaus hilfreich sind.
Hier kommt dann auch die Accademia della Crusca ins Spiel: Sie entsteht 1583 unter der Führung Lionardo Salviatis aus einer Gruppe von Gelehrten, die sich mit Humor und Ironie den sprachlichen und literarischen Angelegenheiten widmet. Aus der Beschäftigung geht dreißig Jahre später ein ernstzunehmendes Werk hervor, das erste Wörterbuch in Europa. Im Vocabolario degli Accademici della Crusca greifen die Gelehrten das Modell Bembos auf, weiten den Kanon auf die gesamte Literatur des 14. Jahrhunderts aus und fixieren eine sprachliche Norm. Bis hinein ins 20. Jahrhundert bleibt es die Hauptaufgabe der italienischen Akademie, dieses Wörterbuch zu erarbeiten.
Beim Buchstaben „O“ findet die Arbeit an der fünften Ausgabe 1923 jedoch ihr Ende. Heute ist die Wörterbucharbeit ausgelagert, stattdessen tritt die italienische Akademie mit wissenschaftlichen Publikationen zur italienischen Linguistik und Philologie an die Öffentlichkeit. Oder eben über die bereits erwähnten Stellungnahmen der „consulenza linguistica“. Seit 2002 legt sie auf Anfrage meist privater Personen ihre Meinung zu Themen wie Anglizismen, der Feminisierung von Berufsbezeichnungen oder eben der gendergerechten Sprache dar. Die Antworten teilt sie auf Twitter oder Facebook mit mehr als einer halben Million Followern.
Schnell wird deutlich: Die Akademie ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sie formuliert keine verbindlichen sprachlichen Normen mehr, sondern reagiert auf Anfragen aus der Gesellschaft. Sie teilt zwar ihre Präferenzen mit, orientiert sich aber auch immer am Gebrauch der Sprecher*innen. Die Durchsetzung feminisierter Berufsbezeichnungen, mit denen man sich lange schwertat, hat dies bereits gezeigt. Und auch im Hinblick auf die inklusive Sprache legt die Crusca die Entscheidung zurück in die Hände der Sprecher*innen – vermutlich, weil die Expert*innen selbst ganz genau wissen, dass sich sprachliche Normen in den seltensten Fällen von ‚oben‘ durchsetzen lassen.
Nun kann man sich mit Recht darüber ärgern, dass ein Mitglied der Akademie, ein weißer, älterer Herr, sich in seiner „consulenza“ anmaßt, über sprachliche Repräsentation zu schreiben; dass er dabei „transsexuell“ und „transgender“ zu Synonymen erklärt; dass einmal mehr der Verweis auf die Unterscheidung von natürlichem und grammatikalischem Geschlecht fällt, der doch zu nichts führt; dass einmal mehr die Entscheidung gegen eine gendergerechte Sprache als politisch neutral verkauft wird; dass Asterisk und Schwa-Laut (der in „ragazzə“ eine ähnliche Rolle wie der kleine Stern im Deutschen einnimmt) alles in allem mehr stören als die Diskriminierung von Minderheiten.
Der Ärger ist ohne Frage angebracht. Doch die gute Nachricht lautet: Die Akademie scheint sich dem Thema nicht prinzipiell zu verschließen, sie wartet lediglich ab. Die Literatur ist dabei offenbar außen vor. Vielmehr liegt die Entscheidungsgewalt voll und ganz bei den Sprecher*innen des Italienischen. Wenig Anlass also für polemische Debatten, Gesetzesentwürfe oder die Beschwörung eines Endes der Literatur.
Wer hat Angst vorm kleinen Stern?
Akademie, Sprache und Literatur sind in Italien und Frankreich seit Jahrhunderten eng verbunden. Das zugrundeliegende Regelwerk sieht in etwa vor: Die Akademie entnimmt der (korrigierten) Literatur sprachliche Normen, fixiert diese und versucht so, diese in die Gesellschaft zu tragen.
Dass sich die französische Akademie derart vehement gegen ein Phänomen wie das der gendergerechten Sprache wehrt, zeigt, dass sich vor allem in Frankreich diesbezüglich bis heute wenig geändert hat. Zwar ist man sich in der Sache innerhalb der beiden Akademien einig: weder in Italien noch in Frankreich befürwortet man eine gendergerechte Sprache mit Sonderzeichen und Sonderlauten. In der Herangehensweise aber unterscheidet man sich grundlegend: Die ausgewiesenen Sprachexpert*innen der Crusca präsentieren sich diplomatisch, respektvoll, beinahe beschwichtigend – man bezieht Position, aber wartet ab, orientiert sich am Gebrauch. In der französischen Akademie hingegen formulieren Geistliche, Historiker*innen, Schriftsteller*innen und Politiker*innen noch immer konservative Sprachnormen. Und malen Horrorszenarien an die Wand, die den Tod der französischen Literatur prophezeien.
Vor lauter Wille zu lenken übersieht die französische Akademie jedoch eines: Es geht hier gar nicht um die Literatur. Niemand erwartet, dass künftig alle Romane in inklusiver Sprache verfasst werden – und niemand fordert ernsthaft, dass Emma Bovary von nun an ge-iel-t wird. Dennoch geht man auf Nummer sicher. 2017 verbietet der damalige Premierminister, Édouard Philippe, die écriture inclusive im Amtsblatt der Regierung. Im Mai 2021 untersagt das Bildungsministerium den Gebrauch der inklusiven Sprache im Unterricht. Gegenwärtig liegen dem französischen Parlament nicht weniger als drei unterschiedliche Gesetzentwürfe zur gendergerechten Sprache vor – alle mit dem Ziel, die écriture inclusive unter Strafe zu stellen.
Kurioserweise wäre dann gerade die Autonomie der Kunst der letzte Ausweg.
Das Absurde daran: Indem der Realisierung einer gendergerechten Sprache zunehmend der öffentliche Raum entzogen wird, bleibt ihr letztlich nur noch der Rückzug in jenen Bereich, den man besonders von ihr schützen möchte: die Literatur. Kurioserweise wäre dann gerade die Autonomie der Kunst der letzte Ausweg. In einem Land, in dem die Karikatur eines penisköpfigen Muslims als geistvolle Satire und Michel Houellebecqs Islamophobie als große Literatur betrachtet werden, dürfte das ja wohl drin sein. Oder etwa nicht, liebe Akademikerinnen (Männer mitgemeint)?
Literatur
Académie Française. 1635. Statuts et règlements. Online.
Académie Française. 2017. Déclaration de l’académie française sur l’écriture dite „inclusive“. Online.
Accademia della Crusca. 2011. Consulenza linguistica. Online.
Le Robert. 2021. „iel“. Online.
Viennot, Éliane. 2019. Le langage inclusif. Pourquoi, comment. Petit précis historique et pratique. Donnemarie-Dontilly.
Bildnachweis
Leere, königliche Stühle. Foto: Dario Lo Presti , Alamy.
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Katharina Fezer und Martin Sinn
Katharina Fezer studierte Germanistik und Frankoromanistik in Freiburg/Breisgau, Stuttgart und Paris. Martin Sinn absolvierte sein Studium der Germanistik, Französistik und Italianistik sowie der Literatur- und Kulturtheorie in Tübingen, Paris und Lyon. Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiter*innen im Sonderforschungsbereich Andere Ästhetik, wo sie sich mit dem französischen bzw. italienischen Sprachpurismus der Frühen Neuzeit befassen.