Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion. Donna Haraway 1985
Sind wir das wirklich, Mischwesen aus Mensch und Maschine, Natur und Technik, Fiktion und Wirklichkeit? Sind wir Cyborgs?
Nun, wer schon einmal unter einem phantom vibration syndrome (vermeintlichen Vibrieren des Mobiltelefons), unter self tracking stress (‚habe ich heute zuviele Kalorien zu mir genommen?‘) oder unter der Verzweiflung gelitten hat, die Pillen zum Einschlafen oder zum Stehen verlegt zu haben, ist bei uns gut aufgehoben. Denn die Avenue widmet ihre erste Ausgabe den vielen Facetten unserer conditio cyborgiana.
Der böse Cyborg
Die gesellschaftliche Akzeptanz von Wesen, die weder Roboter noch Menschen, sondern beides zugleich sind, war lange Zeit gering. Noch im Jahre 1980, als der Cyborg Darth Vader sich in Star Wars dem naiv natürlichen Helden Luke Skywalker als dessen Vater offenbart, leiden wir mit Luke: “Nein, nein! Das ist nicht wahr … Das ist unmöglich!”

Die freie Cyborg
1985 taucht mit dem Aufsatz A Cyborg Manifesto der Biologin, Feministin und Philosophin Donna Haraway eine gänzlich neue Cyborg auf: Sie ist ein Wesen, das weder schwarz noch weiß, weder Frau noch Mann, weder Mensch noch Maschine ist, sondern stets eine Mischung jenseits klarer Identitäten. Haraway lädt dazu ein, unsere conditio cyborgiana zu akzeptieren und auch zu geniessen.
Besonders in den Kulturwissenschaften hat sich Haraways Aufruf, uns als Cyborgs, Bastarde und Hybride zu begreifen, als einflussreich erwiesen: In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich Hunderte von Studien mit der Verwischung kultureller, sexueller und politischer Eindeutigkeiten und der Verschmelzung ehemals separierter Sinnwelten auseinander gesetzt. Im Zuge dessen ist die Cyborg zu einer Metapher für Hybriditäten aller Couleurs avanciert.
Weg mit dem Menschen!
In jüngerer Zeit ist der traditionelle Cyborg, so wie von Clynes und Kline 1960 als cybernetic organism definiert, wieder zum Leben erwacht.
The Cyborg deliberately incorporates exogenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments. Clynes und Kline 1960
Seine Freiheit sucht der wiedererweckte Cyborg nicht mehr jenseits von Frau und Mann, Schwarz und Weiss oder Links und Rechts. Ihm geht es um eine andere als die kulturelle oder politische Freiheit: Dieser Cyborg möchte sich vom Menschsein befreien! Denn seine Menschlichkeit ist ihm eine Last: zu langsam ist sein Körper, zu beschränkt seine Intelligenz, zu schnell erschöpft sich die Konzentration. Und erst der Schlaf!
Es geht um das sogenannte Human Enhancement. Unter dem sperrigen Begriff wird der Versuch verstanden, die Grenzen des menschlichen Geistes und Körpers mithilfe von Technik vorübergehend oder dauerhaft zu überwinden. Die geistes– und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Human Enhancement hat erneut zu Debatten über den Status des Menschen als Cyborg geführt. Nicht nur das. Auf dem Prüfstand steht inzwischen der Humanismus. Ist diese Idee noch zu retten?
Die Cyborg auf der Avenue
Die erste Ausgabe der Avenue beschäftigt sich mit dem Konzept und der Geschichte des Cyborgs. Dabei geht es um Human Enhancement, Darth Vader, Robocop & Co., vor allem aber: um uns.
Schließlich sind wir von „Natur“ weit entfernt. Wir sind im Reagenzglas gezeugt; unser GPS bestimmt unseren Weg; unsere Uhren messen unseren Blutdruck; unseren Herzen wird der Schritt gemacht; Ritalin hält uns konzentriert; wir haben cyber sex und bald wird uns die Google-Brille über Zivilstand und Kapitalkraft unseres Gegenübers informieren. Ohne es zu merken, sind wir Cyborgs geworden. Was das für uns und unsere Freiheit bedeutet, erfahren wir bald von Soziologinnen und Literaturwissenschaftlern, von Historikerinnen und Philosophen.
Herausgeber*innen
Anmerkung: Die Herausgeber*innen der Avenue lancierten zu Weihnachten 2020 die Initiative Salz + Kunst als Antwort auf die Einschränkung des künstlerischen Lebens während der Corona-Pandemie. Im Sinne von art on demand vermittelt die Plattform Kunststücke nahezu aller Kunstsparten in den privaten Raum: ein Jodel im Vorgarten, ein philosophisches Gespräch per Zoom, ein Gedicht per Whatsapp, ein Violinkonzert auf dem Balkon …
Liebe Herausgeber von Avenue
Das Editorial liest sich sehr gut, es behandelt ein überaus spannendes Thema, macht neugierig auf mehr (wusste gar nicht, dass ich schon so vercyborgt bin!), bringt einen während der Lektüre aber auch zum schmunzeln. Werde mir auf jeden Fall baldmöglichst die gesamte Ausgabe zu Gemüte führen und Avenue wärmstens weiterempfehlen — in der Hoffnung auf weiterhin so spannende, intellektuelle Anstösse und geistiges Eintauchen in andere, mir noch unbekannte Welten! Ihnen und Ihrem Projekt Avenue viel Erfolg und herzliche Grüsse, Caroline Mattingley-Scott
Ich bin begeistert und beglückwünsche Euch auch zu diesem Editorial ganz herzlich. Die Explizierung der Verbindung — ja der von Euch für unsere Gegenwart postulierten, semantischen Kontiguität zwischen conditio cyborgiana und conditio humana — geht mir in nachfolgendem Satz zu schnell. Warum seien wir “ohne es zu merken” zu Cyborgs geworden? Haben wir uns nicht — genauso wie unser Antiheld Darth Vader — eben absichtlich vom Humanismus distanziert? Es ist m.E. gerade diese absichtliche Abwendung, die das postmoderne Projekt insgesamt kennzeichnet, welche uns den Weg zurück zum Humanismus erschwert — deshalb eben Avenue. Ich würde mir im ersten Editorial von Avenue eine kleine Reflexion — einen Satz? — über den modalen Status unseres Bekenntnisses zur conditio cyborgiana wünschen!
Ganz, ganz herzliche Gratulation und auf die Nachhaltigkeit* Eures Projekts!
A. Loprieno
* Eigentlich sollte man dieses Unwort unter Geisteswissenschaftlern nicht benutzen, aber mir fällt nach langem beruflichen Umgang mit ihm kein besseres ein.
[…] Quelle: Editorial – Avenue Salon […]
Schöner Einstieg. Glückwunsch zu Eurer neuen Zeitschrift! – Doch mir fehlt in diesem Editorial ein ganz zentraler Aspekt: die Frage nach den sozialen und politischen Folgen des Post- bzw. Transhumanismus. Die von Hans Moravec, Raymond Kurzweil, Nick Bostrom u.a. mit quasi mystischer Inbrunst beschworene „Singularity“ reiht sich nämlich mit erschreckender Evidenz in die Serie anderer (anti-humanistischer…) Totalitäts-Visionen. Und: was bedeutet es, wenn diese Entwicklungen von weltweit führenden, global präsenten Informatik-Unternehmen wie Google & Co vorangetrieben werden? Was können wir als „Intellektuelle“ dem merkantilen Griff nach den Gehirnen noch entgegensetzen?
Liebe Sabine Haupt, guter Punkt, vielen herzlichen Dank! Wir haben unser (persönliches) Unbehagen angesichts dieses veritablen Technologie-Mensch-Verschmelzungs-Programms zwischen z.B. google und Politik kaum artikuliert. Das hat mehrere Gründe: Einerseits definieren wir noch, wie sehr wir im Editorial politisch Stellung beziehen wollen. Letztlich tun dies ja bereits durch die Wahl unserer AutorInnen, die eben das Nützliche an unserer posthumanistischen Komplettierung kritisch beschreiben bzw. die kritische Aufbereitung in Film und Literatur schildern.
Andererseits schreiben wir tatsächlich aus einer grundsätzlich veränderten Stimmung heraus, die es als solche zu beobachten gilt. Wir müssen also wirklich – und noch deutlicher – fragen: Warum war der Cyborg in den 00er Jahren das böse Andere, das wir selbst erzeugt hatten? Und warum wird in die Cyborg 15 Jahre später z.B. in Film oder Jugenbuch zu beinahe so etwas wie dem verheissungsvollen Rettenden? Oder: Warum kommen wir als Gesellschaft um „Optimierung“ scheinbar gar nicht mehr herum?
Was also wäre die Aufgabe der „Intellektuellen“? Wir haben hier einfach entschieden, unterschiedliche Positionen aus verschieden Disziplinen aufzuzeigen. Und zu zeigen, dass die Diskussion nicht nur eine Frage der Machbarkeit ist und auch nicht einfach nur mit einem Ethik-Feigenblatt versehen werden sollte.
Was meinen Sie?
Vorneweg: Ich freue mich enorm auf Avenue –
Ich möchte an dieser Stelle einwenden, dass Darth Vader auf eine sehr grundsätzliche Weise kein Cyborg ist. Sein körperliches ‚Enhancement‘ liegt bekanntlich in der Macht, ist also nicht technischer, sondern eher geistig-religiöser Natur. Richtig ist, dass die Figur ohne Maske nicht lebensfähig ist; doch die Maske, so scheint mir, hat vielmehr eine psychologische Bedeutung: Sie entmenschlicht die Person, indem sie Vader von sich selbst distanziert, von seinen Gefühlen, von seiner früheren Identität. Darth Vader ist der Bösewicht der alten Star Wars Trilogie; das „Nein“ von Luke Skywalker richtet sich allerdings nicht gegen Vaders Helm – es ist Ausdruck des Entsetzens, dass Vader nicht nur der Mörder seines Vaters, sondern sein Vater selbst ist: Vader, der gefallene Engel. Vielleicht ist es aber doch sehr produktiv, dass Vader in einem Kapitel über Cyborgs auftritt: Er repräsentiert das Entfremdete, das jedoch untrennbar mit uns verbunden ist, sozusagen unsere dunkle Seite. Cyborgs, so meine ich, machen uns nicht als Kontaktlinsenträgerinnen und Herz-Lungenmaschinen-Patienten Angst. Darth Vader tut es, wenn er uns gegenübertritt und sagt: Ich bin keine Maschine, die es zu besiegen gilt – ich bin: Du.
So gesehen ist auch die Arbeit von Tausendsassa Richard Buckminster Fuller für die Cyborgforschung nicht ohne Interesse: Er entwickelte in den 1940er Jahren eine Schlafmethode nach dem Dymaxion-Prinzip (dynamic, maximum, tension); gleichmäßig über den Tag verteilt wären demnach zwei Stunden Schlaf völlig hinreichend – angeblich lebte er sogar selbst einige Zeit nach diesem Rhythmus. Die Wikipedia jedenfalls verlinkt auf diesen Bezahl-Artikel der Time: http://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,774680,00.html