Einer von vielen Donnerstagabenden im deutschen Privatfernsehen. Auf Pro7 nähert sich Heidi Klums neoliberales Selektionsspektakel Germany’s Next Topmodel wieder einmal seinem obligatorischen Showdown: Rastlos umkreist und begafft die Kamera die spärlich bekleideten Körper halbwüchsiger junger Frauen, die auf der Hinterbühne eines Studios dem Moment der Wahrheit entgegenbibbern. In kurzen Statements geben die Kandidatinnen Auskunft über ihre Gefühlslage, die mehr oder weniger auswechselbar zwischen Angst und Hoffnung, Selbstermutigung und Verzweiflung schwankt. Dann ist es soweit: Hochgebockt auf ihren high heels dürfen sie vors Tribunal stelzen, perfekt zurechtgestylte Hochglanzkörper, deren unschuldiger sex appeal den idealen Aufmerksamkeitsköder bilden, um die Fallhöhe des nun folgenden Gerichts- und Gefühlsspektakels wirksam zu steigern.

In raschem Gegenschnitt prallen die Gesichter der Gebieterin und ihrer Zöglinge aufeinander. Man sieht Domina Klum an, dass sie den Moment geniesst, in dem sie das Schicksal und die Emotionen dieser jungen Frauen regieren kann. Sie liebt es, den Augenblick totaler Willkür auszukosten und „ihre“ Mädchen durch perfides Timing und kleinste Signale ihres Mienenspiels in grösste Unsicherheit zu versetzen. Umschnitt auf die Gesichter der jungen Frauen. Werden sie dem Druck der Entscheidungssituation standhalten? Die erste Kandidatin hat es geschafft, sie ist weiter. Die Kamera registriert genau, wie ihr Antlitz in alarmierter Unentschiedenheit verharrt, bis die positive Botschaft bei ihr angekommen ist und das Gesicht der jungen Frau von Erleichterung und Freude überschwemmt wird. Für die nächste Anwärterin bringt die Entscheidung hingegen das Aus. Man spürt, wie sie versucht, die Fassung zu wahren – vergeblich! Ihre Gesichtszüge geben nach, ihr Inneres bricht nach aussen durch: Kinn und Lippen beginnen zu zittern, die Augen werden feucht, die Wangen fleckig. Fassungslos wendet sie sich ab, um hinter der Bühne, aber gleichwohl bei laufender Kamera vollends in Tränen auszubrechen.
„Wir leben in einem Zeitalter, in dem zum ersten Mal Tausende höchstqualifizierter Individuen einen Beruf daraus gemacht haben, sich in das kollektive öffentliche Denken einzuschalten, um es zu manipulieren, auszubeuten und zu kontrollieren. Ihre Absicht ist es, Hitze, nicht Licht zu erzeugen […] und jeden einzelnen durch permanente geistige Aufgeilung in einem Zustand der Hilflosigkeit verharren zu lassen.“ Marshall McLuhan, Die Mechanische Braut.
Anderer Sender, anderer Anlass. Mittwochabend, 19. Dezember 2016. Eine noch unbekannte Person ist vor etwas mehr als einer Stunde mit einem Sattelzug in einen Berliner Weihnachtsmarkt gerast. Was im gerade laufenden ZDF-Spielfilm als Eilmeldung bereits annonciert worden war, findet im folgenden heute journal nun seine epische Aufbereitung. 1 Stunde und 32 Minuten, also dreimal solange wie normal, hangelt sich Marietta Slomka, die normalerweise für ihre unterkühlt-beherrschte Moderationsführung bekannt ist, nunmehr im Ausnahmezustand, zusammen mit dem Terrorismus-Experten Elmar Theveßen und immer wieder neuen Handy-Videos und Live-Schalten durch die noch dürftige Nachrichtenlage. Wortreich beschwört man die journalistische Verantwortung, angesichts der unklaren Situation auf wilde Spekulationen verzichten zu wollen.
Gleichwohl gewinnt die Faszinationskraft des historischen Augenblicks, den bis dato in Deutschland vermeintlich „größten islamistischen Terroranschlag“ quasi noch warm reportieren zu können, wie in einem Sog die Oberhand. Ein ums andere Mal spielt die Regie Filmpassagen ein, die den Zuschauern einen möglichst authentischen und atmosphärisch gesättigten Eindruck vom Ort des Geschehens vermitteln sollen – Bilder und Stimmen, um das Attentat und seine Folgen ‚hautnah‘ und – im wahrsten Sinne des Wortes – als ‚Sensation‘ erlebbar zu machen. Nicht dass man im Verlauf der Sendung dank neuer Fakten der Wahrheit des Geschehens näher käme. Man möchte einfach möglichst lange und möglichst nahe dran bleiben und den Zuschauer drin behalten: Drin in jenem quotenbringenden schaurig-erregenden Gefühlscocktail, wie es wohl sein muss, Opfer geworden oder dem Anschlag nur knapp entronnen zu sein.
Emotional mining
Trotz ihrer Unterschiede tritt in diesen Beispielen etwas zu Tage, was sich als Programm einer „Pornographisierung des Sozialen“ bezeichnen lässt. Anders als jene Stimmen, die mit aller Berechtigung eine Pornofizierung unserer Gesellschaft (Hilkens 2010) oder eine Die Pornografisierung des Alltags (Steffen 2014) feststellen, steht dabei nicht die zunehmende Sexualisierung unserer Lebenswelt und deren spezifisch pornographische Codierung im Vordergrund. Die These von der Pornographisierung des Sozialen stellt eine umfassendere Diagnose. In ihr geht es nicht nur darum, die Wirklichkeit des sexuell erregten Fleisches nach aussen zu stülpen, sondern darum, die ‚Seele‘ in all ihren emotionalen und affektiven Facetten sichtbar, manipulierbar, kommunizierbar und konsumierbar zu machen. Während Pornographie im engeren Sinn als eine Kulturtechnik zur Erzeugung, Speicherung, Übertragung und reproduktiven Stimulation sexueller Erregung fungiert, zielt die Pornographisierung des Sozialen allgemeiner auf die systematische, technikgestützte Aufreizung, Aneignung und Instrumentalisierung intimer Innenwelten – man könnte sagen: auf eine Art von emotional mining, das längst zu einem der wichtigsten, wenn nicht zentralen Geschäftsmodell unserer Medien- und Konsumindustrien geworden ist.
Der Pornographisierung des Sozialen geht es darum, die ‚Seele‘ in all ihren emotionalen und affektiven Facetten sichtbar, manipulierbar, kommunizierbar und konsumierbar zu machen.

Jahrhundert eine den Alltag
durchdringende Psycho-
logisierung an, die in der
Ängst mündet, im öffentlichen
Leben durchschaut zu werden.
Was Richard Sennett 1983 vor dem Hintergrund eines „Verfalls und Ende des öffentlichen Lebens“ als „Tyrannei der Intimität“ im Sinne eines Rationalitätsschwunds politischer Diskurse diskutierte, erfährt in Zeiten von Reality-TV und Social Media nicht nur eine neue Qualität und Intensität, sondern verlangt auch nach einer neuen theoretischen Rahmung. Heute, da Youtube, Twitter, Facebook etc. breit auf dem Vormarsch sind, gewinnt eine kulturwissenschaftliche Medientheorie an Plausibilität, deren Ideologiekritik nicht nur auf systematisch verzerrte Kommunikationsinhalte abzielt, sondern zugleich jene psychophysischen Wechselwirkungen in den Blick nimmt, die sich abspielen, wenn menschliche Körper an Medien angeschlossen werden.
Begreift man mit Marshall McLuhan oder Klaus Theweleit Medien weniger nach dem Sender-Empfänger-Modell denn als technische Körperausweitungen, mit denen massive programmierende Wirkungen nicht nur auf die Wahrnehmungs- und Empfindungsstrukturen einzelner Individuen, sondern ganzer Gesellschaften einhergehen, verschiebt sich der Fokus von Fragen der Sinnkonstitution auf die energetischen Effekte von Mensch-Maschinen-Kopplungen. Folgt man dieser Fährte, wird offenkundig, dass Emotionen, Affekte, Subjektivmaterial heute als essentielle Rohstoffe für den Betrieb moderner, industrieller Mediensysteme fungieren und unsere kollektiven und individuellen Gestimmtheiten in kaum überschätzbarem Masse beeinflussen.
Das Fühlen des Fühlens
Wenn bisweilen gesagt wird, nichts interessiere Menschen so sehr, wie andere Menschen, muss wohl präziser formuliert werden, dass nichts so sehr interessiert, wie die Gefühle, das innere Erleben, die Emotionen und Affekte anderer Menschen, die zugleich den Königsweg zum authentischen Sein des Anderen zu bahnen versprechen. Attraktiv sind diese Gefühle – am liebsten im Ausnahmezustand – vermutlich deshalb, weil sie sich einverleiben lassen zur Potenzierung des eigenen Erlebens. Wir konsumieren die Emotionen anderer Menschen als Stimulanzdrogen, als eine Art emotionales Glutamat, zur Erzeugung emotionaler Kicks und zum Pushen des eigenen Realitätsgefühls. In diesem Sinne steht die Pornographisierung des Sozialen im Dienste einer industriellen Evolution von Ekstasetechnologien, die freilich Züge einer nur bedingt kontrollierten und kontrollierbaren Drogenkultur aufweisen.
Wir konsumieren die Emotionen anderer Menschen als Stimulanzdrogen, als eine Art emotionales Glutamat, zur Erzeugung emotionaler Kicks und zum Pushen des eigenen Realitätsgefühls
Attraktiv dürfte solch medial-distanziertes Affektsharing heute deswegen sein, weil es Settings emotionalen Probehandelns bzw. individuell dosierbare ‚Konfrontationstherapien‘ für ein breites Spektrum gesellschaftlich erzeugter Ängste bereitstellt. Auch wenn derartige Traumatisierungen nur medial simuliert und aus der Distanz wahrgenommen werden, dürften sie doch einen gewissen – wenn auch affirmativen – Trainingswert besitzen: Man ‚lernt‘, derartige Missbrauchsformen als ’normal‘ anzunehmen, sich darauf vorzubereiten und an Coping-Strategien zu arbeiten, statt sie als Skandal anzuprangern.

Cui bono?
Schliesslich darf man jene kühl kalkulierenden Akteure nicht aus dem Blick verlieren, die eine Pornographisierung des Sozialen als gezieltes Instrument zur Förderung ihrer ökonomisch-ideologischen und politischen Interessen anheizen und einsetzen. Dies betrifft erstens die Konsumgüterindustrie, die ihre Waren bei wachsender Sättigung und verschärfendem Konkurrenzkampf auf den Absatzmärkten immer wirksamer mit Emotionalität und Phantasiematerial aufladen muss, um bei den Kunden affektive Erwerbsmotivationen jenseits nüchterner Gebrauchswertargumente zu erzeugen. Wer heute ein bestimmtes Auto, Deo oder was auch immer kauft, erwirbt ja immer auch, wenn nicht gar in erster Linie ‚ein Lebensgefühl‘, ein Image, ein Identitätsangebot.

Emotionalisierung des Autos ein Hoch.
Zweitens die verschiedenen modernen Medienindustrien selbst. Sie treten einerseits als Vermittlungsinstanz der Konsumgüterindustrie auf. Andererseits sind sie selbst immer aktiver als Anbieter von Konsumgütern in Form von Phantasie- und Gefühlswaren tätig – wenn sie nicht gleich grundsätzlich damit beschäftigt sind, Kommunikation als unerschöpfliche Ressource und alternativlose Sphäre menschlichen Lebens unter ihre Kapitalinteressen zu subsumieren. Dies geschieht, indem sie alle nur denkbaren Kommunikationsakte technisch unterwandern, instrumentieren und mit wachsendem Zwang an die eigenen Systeme und deren Spielregeln binden. Stichwort: Smartphones und ’soziale Medien‘.
Und es dient drittens natürlich all jenen Akteuren, die sich der modernen Mediensysteme bedienen, um ihre Ideologien oder Politiken wirksam zu verbreiten, wobei unübersehbar ist, dass sowohl die Anbieter der Mediensysteme als auch Unternehmen und Politiker (Zuckerberg, Google, Trump…) selbst in immer stärkerem Masse zu Global Playern werden, die Ideologie, Ökonomie und Technologie erfolgreich zu völlig neuartigen Machtdispositiven synthetisieren. Ausgang offen, Tragweite nicht ab‑, auf jeden Fall aber kaum überschätzbar.
Körper im Exzess
Ganz neu ist diese Art von Affektindustrie freilich nicht. Ihre Wurzeln reichen weit zurück. Einmal mehr dürfte die Erfindung und Kapitalisierung des Buchdrucks hier eine bedeutende historische Zäsur bilden. Seit dem 18. Jahrhundert arbeiten Dramen, Tagebücher und Romane am Aufbau komplexer Empfindungskulturen, am Ausforschen und Ausbuchstabieren individueller Gefühlswelten und an der Subjektivierung ihrer LeserInnen. Bücher sind ja auch nichts anderes als kleine Maschinen zur Exposition von bzw. zum emotionalen Eindringen in anderer Menschen Leben und zur konsumierenden Nachempfindung fremder Subjektivität. Mit den Möglichkeiten gesteigerten Reizdrucks, wie ihn die audiovisuellen Medien bieten, gewinnt dieser Prozess im 20. Jahrhundert an zusätzlicher Intensität, indem die Schaulust angeheizt und der für die Moderne eigentümliche Trend zu einer Sexualisierung des Blicks und Skopisierung des Begehrens (vgl. dazu Hentschel 2001) befeuert wird.

Den visuellen Konsumgenuss fremden Erlebens bedienen nach Linda Williams (2009) insbesondere die sogenannten „Körpergenres“: Porno- und Horrorfilm, Melodram und – wie zu ergänzen wäre – Action- und Gewaltstreifen. Ihnen gemeinsam ist das Bemühen, Körper im emotionalen Exzess zu inszenieren, um Lust, Angst, Liebe, Schmerz und Aggression in reizstarke Bilder zu verwandeln. Im Exzess geraten die Subjekte ‚ausser sich‘, das Innere der Gefühlswelt wandert auf die Körperoberfläche und gewinnt eine Zeichenform, die für den Betrachter durch seine natürliche Neigung zu Empathie nahezu zwingende Ansteckungseffekte im Sinne „unfreiwilliger Nachahmung des Gefühls oder der Körperempfindung des Leinwandkörpers“ (Williams) auslösen.
Im Exzess geraten die Subjekte ‚ausser sich‘, das Innere der Gefühlswelt wandert auf die Körperoberfläche und gewinnt eine Zeichenform.
“You will die … of pleasure” Barbarella (Jane Fonda) ist gefangen in der excessive machine, die sie zu Tode zu lüstern droht. Screenshot aus dem Kult-B-Movie Barbarella (Vadim 1968).
Das Casting-Dispositiv
Mit Social Media, Reality-TV, bisweilen auch als „Affektfernsehen“ bezeichnet, und insbesondere mit der Erfindung der Casting Show haben die modernen Medien ein Mediendispositiv entwickelt, um ihr Geschäft mit der ubiquitären Provokation und Distribution von authentischem Affektmaterial vorerst zu perfektionieren. Dass es etwa beim Casting um einen Auswahlprozess für unterschiedlichste Jobs (Model, Popstar, Geschäftsführer etc.) gehe, ist ja nur eine vorgeschobene Behauptung, um die Kandidaten mittels „gezielter Grenzverletzung“ (Lünenborg/Töpper) ihrer Intimsphären aus der emotionalen Reserve zu locken. Natürlich hat etwa Germany’s Next Topmodel auch grosses Interesse daran, seine Teilnehmerinnen möglichst oft und möglichst weit zu entblössen und – im klassisch-pornographischen Sinne – als Sexobjekte auszustellen.
Das grössere Interesse gilt freilich dem Unternehmen, die jungen Frauen psychisch so unter Druck zu setzen, dass die Maske ihrer Persona vor laufender Kamera auseinanderbricht und einen möglichst unkontrollierten aka authentischen Gefühlsausbruch freisetzt. Man könnte mit gutem Grund behaupten, dass das gesamte Ensemble von Reality-Formaten und Social Media (inklusive Youtube) ein ausdifferenziertes und längst internalisiertes Casting-Dispositiv bildet, um Subjektivmaterial und emotionale Rohstoffe unter eigentätiger Mithilfe der Rohstoffproduzenten systematisch zu fördern und ökonomisch kostengünstig auszubeuten.
Das Interesse gilt dem Unternehmen, die jungen Frauen psychisch so unter Druck zu setzen, dass die Maske ihrer Persona vor laufender Kamera auseinanderbricht.
Der pornographische Blick dieser Medien zielt daher folgerichtig nicht mehr nur darauf ab, Momente emotionalen Ausser-sich-Seins theatralisch zu inszenieren, sondern sie in der laufenden Realität flächendeckend aufzuspüren, anzureizen, zu verstärken und einzufangen. Davon infiziert ist längst auch die Berichterstattung sogenannter ‚Qualitätsmedien‘: Das soziopornographische Begehren ist immer dort geweckt, wo Exzesse emotionalen Erlebens ge(t)wittert werden und sich Empathie in grossem Ausmass mobilisieren lässt. Terrorereignisse, Gruppenausschreitungen, spektakuläre Unfälle, nach Eskalation riechende Menschenaufläufe werden heute auf gleiche Weise, ja noch extensiver und eindringlicher reportiert als hochemotionale Sportereignisse.
Die ob ihrer Zudringlichkeit immer wieder beklagte Frage „Wie haben Sie es erlebt, wie haben Sie sich gefühlt als…“, gilt längst nicht mehr nur Fussballspielern oder Radsportlern, sondern auch und vermehrt zufälligen Beobachtern oder Opfern von Gewalt. In gewissem Masse hat sich dieser Mechanismus selbst den anerkennungsheischenden Tätern von Gewalt eingeprägt, die die Maximen des Casting-Dispositivs noch radikalisieren, indem sie ihre inneren Befindlichkeiten vor ihren menschenverachtenden Taten aufzeichnen, um im Hochgefühl imaginierter globaler Resonanz hinreichend gedopt zur Tat zu schreiten und in den Tod zu gehen. Insofern bilden die seit dem zweiten Irak-Krieg (1991) üblich gewordenen, auf Bomben montierten Kameras nur eine Art primitive Vorstufe eines Mediensystems, das seinen nahezu ultimativen Reality-Kick darin zu finden hofft, jenen inneren Erlebniscocktail aus Angst, Schmerz und Euphorie hautnah und realistisch aufzuzeichen, der im Moment des Tötens oder eigenen Sterbens vom Körper zusammengemixt wird und als Konsumgut gewinnbringend zur Verfügung zu stellen.
In gewissem Masse hat sich dieser Mechanismus selbst den anerkennungsheischenden Tätern von Gewalt eingeprägt, die die Maximen des Casting-Dispositivs noch radikalisieren, indem sie ihre inneren Befindlichkeiten vor ihren menschenverachtenden Taten aufzeichnen, um im Hochgefühl imaginierter globaler Resonanz zur Tat zu schreiten.

Literatur
Hilkens, Myrthe. 2010. McSex: die Pornofizierung unserer Gesellschaft. Berlin: Orlanda.
Hentschel, Linda. 2001. Pornotopische Techniken des Betrachtens: Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag.
Steffen, Nicola. 2014. Porn Chic: Die Pornografisierung des Alltags. München: dtv.
Williams, Linda. 2009. „Filmkörper: Gender, Genre und Exzess.“ Montage 18/2/2009.
McLuhan, Marshall. 1996. Die Mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen. Amsterdam: Verlag der Kunst.
Theweleit, Klaus. 1988. Buch der Könige, Band 1. Frankfurt a. M., Basel: Stroemfeld.
Lünenborg, Margreth und Töpper, Claudia. 2011. „Gezielte Grenzverletzungen – Castingshows und Werteempfinden“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2011 | Jugend und Medien
Sennett, Richard. 1983.Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt: Fischer.
Bildnachweis
Titelbild von Blake Kathryn.
uncode-placeholder
Fritz Böhler
Fritz Böhler ist Weltbeobachter und Hausmann, Theoretiker und Kulinariker. Er unterrichtet Gesellschaftswissenschaften an der Uni Basel, arbeitet als historischer Archivar und Rechercheur, als Übersetzer und Autor.
Mir gerät in diesem Artikel der Porno-Begriff ein wenig zu weit aus den definitorischen Fugen. Natürlich ist es ein „gieriger“ Blick, der die Tränen des ausselektierten Möchte-Gern-Models betrachtet; ebenso der, der die reißerische Berichterstattung über einen Terroranschlag sieht. Doch die erregten Begierden sind doch zumindest beim zweiten Beispiel völlig andere als die durch Pornos befriedigten.
Bei der Berichterstattung zu einem Terroranschlag herrscht die Begierde danach, möglichst nah dran zu sein, eine Sucht nach Authentizität und simulierter Involvierung. Diese aber spricht der Porno gerade nicht an. Porno ist (nimmt man, wie es in diesem Heft offenbar alle tun, Snuff aus) ein Genre mit Darsteller_inne_n, ganz gleich ob mit professionellen Stars oder Amateuren. Und das weiß man, auch wenn sich im Regelfall die Darstellungstechnik als solche verbirgt. Der gierige Betrachter eines Terroranschlags ist aber eben gerade deshalb erregt, weil alles „echt“ ist bzw. ihm diese Echtheit von der Regie reißerisch verkauft wird. Die verstörten Menschen auf dem Bildschirm sind aber eben keine Darsteller_inne_n, und das weiß man ebenfalls.
Das selbe Problem scheint mir an dieser Stelle vorzuliegen: Mit Auto und Deo verkauft man Images, also (paradoxalerweise) vorgefertigte Bausteine zur Herstellung einer Individualität. Weshalb ist das Porno? Ich würde nicht wie viele Moralkonservative implizieren wollen, dass der Pornouser sich aus dem Betrachteten seine sexuelle „Individualität“ zusammensetzt.
Klar, es geht in allen Beispielen um voyeuristisch ausgelebte (Be)Gier(de): nach Sex, Geltung, Konsum, Macht(beteiligung), Emotionalität und grenzenloser Involviertheit. Aber ich denke, dass die Begehrenskategorien getrennt betrachtet werden sollten. Sonst wird alles Porno – und Porno als analytische Kategorie hinfällig.
Überdehnt man den Pornographie-Begriff, wenn man ihn in der von mir skizzierten Weise ausweitet? Tatsächlich habe ich mir diese Frage auch gestellt. Die Antwort hängt davon ab, wie man „Porno als analytische Kategorie“ fasst. Anders gesagt: Was ist eigentlich das Pornographische an der Pornographie? Ist es die inhaltliche Konzentration auf die explizite Abbildung oder Darstellung sexueller Handlungen? Oder findet Pornographie ihren „Wesenskern“ eher in einer spezifischen Medientechnologie, die sie auch jenseits ihrer inhaltlichen Fokussierung auf das Sexuelle fassen lässt?
In der klassischen Pornographie dreht sich natürlich alles und ausschließlich um den Sex. Es geht darum, den Sex von seinen sozialen Abschrankungen zu befreien, Tabus und Verbote zu überwinden, das Intime und Private ins Sichtbare und Öffentliche zu wenden. Es geht aber nicht nur darum, sexuelle Körper und Handlungen zu zeigen, es geht auch darum, das innere Lusterleben dieser Körper maximal sichtbar zu machen, weil darin die technische Grundlage dafür liegt, dass sich die Emotionen und Affekte sexueller Erfahrungen medial abgreifen, aneignen und zum betrachtenden Konsum verteilen und verkaufen lassen. Ohne letzteres wäre Pornographie im wahrsten Sinne des Wortes „reizlos“.
Klassische Pornographie als Medientechnologie zielt also auf eine doppelte Visualisierungsleistung, die eine doppelte Durchdringungsleistung voraussetzt: Die soziale Ent-Intimisierung äußerlicher sexueller Handlungen wird gekoppelt mit einer psychophysischen Ent-Intimisierung inneren sexuellen Erlebens. Der Zweck dieser Übung besteht darin, Affekte aus einem sexuellen Geschehen erster Ordnung zu entnehmen und einem stimulatorisch-masturbatorischen Konsum zweiter Ordnung zur Verfügung zu stellen.
Wenn ich von einer „Pornographisierung des Sozialen“ spreche, dann geht es mir darum zu zeigen, dass man diese Medientechnologie im Sinne einer „politischen Ökonomie der Empathie“ soziologisch entspezifizieren und analytisch ausweiten kann. Der Fokus meines Pornographie-Begriffes liegt als nicht weiter auf dem vordergründigen „Inhalt“ von Pornographie, sondern auf seiner „medientechnologischen Operationsweise“, die man auch grundlegender in Anschlag bringen kann im Rahmen der Rekonstruktion panoptischer Machtmaschinerien. „Die Sichtbarkeit“, hatte Foucault in „Überwachen und Strafen“ so treffend geschrieben, „ist eine Falle“.
Dieser theoretischen Schwerpunktverschiebung liegt insoweit ein kulturkonservatives Moment zugrunde, als dass ich die politisch-ökonomische Instrumentalisierung und Ausbeutung von Intimität und Privatheit aus verschiedenen Gründen kritisch sehe. Helmuth Plessner, Norbert Elias, Erving Goffman u.a. haben etwa darauf hingewiesen, dass moderne, individualisierte Massengesellschaften auf verhaltenstechnologische Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in Form von Takt, Indirektheit, Unaufmerksamkeit und Maskierungsspielen des Selbst angewiesen sind, um die in ihnen erzeugten Affekte und Aggressionen dämpfen, kontrollieren und pazifizieren zu können. Privatheit und Intimität fungieren damit zugleich als Schutz- und Rückzugsräume individuellen Eigensinns und psychophysischer Integrität als auch als soziale Stabilisierungsinstitutionen.
Die ubiquitäre soziopornographische Doppel-Ent-Intimisierung von sozialen und psychischen Refugien arbeitet hingegen an der systematischen Schleifung derartiger Schutzwälle. Zum einen, indem sie das innere Erleben von Menschen spekulativ-verantwortungslos extrahiert, um es ohne Rücksicht auf Verluste Dritten zum Fraß vorzuwerfen; zum anderen, indem sie mittels Affektinduktion Emotionen und Aggressionen unkontrolliert in die Gesellschaft hineinpumpt und diese damit unter Stress setzt. Während die Objekte von „Emotional Mining“ auf bloßes Verfügungs- und Verdauungsmaterial herabgewürdigt werden, werden die Teilnehmer medialer Kommunikationsprozesse – und das sind wir heute praktisch alternativlos alle – gezwungen, die daraus verfertigten Stimulationen zu parieren. Wer etwa Kinder hat, weiss, welche Verheerungen darüber angerichtet werden und was es bedeutet, im alltäglichen Zusammenleben und Erziehungshandeln jene emotionalen und kognitiven Verwerfungen abzuarbeiten, die durch genau solche sozialpornographischen Technologien erzeugt werden. Da sie in einem heftig umkämpften Aufmerksamkeitsmarkt agieren, diktiert Überbietung, nicht Rücksichtnahme oder Vernunft ihr Handeln.
Die Frage, die sich daraus ergibt, ist ganz einfach die: Wie weit sind moderne, massenrückgekoppelte Mediengesellschaften in der Lage, ihre – sowieso stets prekären – gesellschaftskonstitutiven institutionellen Verhaltensrahmungen reflexiv zu verteidigen und kontrolliert-vernunftbasiert weiterzuentwickeln gegen einen „flexibel-normalistischen“ (Jürgen Link) Medien- und Konsumkapitalismus, für den Rationalität in einem umfassenden Sinne und damit auch „Werte“ keine maßgebliche Größe darstellen?
Das Problem wäre also nicht, dass mit einer solchen Begriffausweitung alles irgendwie Porno wird, sondern dass mir Pornographie ohne Implikation von Fragen der Macht, der Involviertheit, des Konsums etc. nur unzureichend analysierbar erscheint.
Ein sehr differenzierter Artikel, der Freude beim Lesen bereitet. Bei „Cui Bono?“ hätte ich noch weitere Akteure im Fokus, als lediglich die „bösen Medienproduzenten“, welche die Schuld tragen sollen für die Produktion und Verbreitung von Affektmaterial: Es sind die Teilnehmer eben solcher Sendungsformate und die Zuschauer. Letztere haben das Mediendispositiv geformt, da sie einen Hang haben, eher negative statt positive, eher sensationelle statt nüchterne und eher affektive statt informative Nachrichten zu konsumieren. Ebendiese Nachfrage hat die Medienmacher veranlasst, ein solches affektives Format zu produzieren und es im Laufe der Zeit immer weiter zu überhöhen. Cui Bono zielt auch auf die Teilnehmer solcher Formate ab, die zum grossen Teil wissen, worauf sie sich einlassen. Ein Beispiel: Die Kandidaten von GNTM setzen ihre Hoffnungen nicht darauf als ein Topmodell aus der Sendung hervorzugehen. Nein, sie bauen auf die ihnen zur Verfügung stehende Sendezeit und, dass sie ihnen die Möglichkeit gibt mehr Follower für ihren Account zu akquirieren.
Cui Bono zielt somit nicht nur auf das ökonomische, sondern auch auf das soziale Kapital ab – von Produzenten und Teilnehmern gleichermassen.
Dass sich mit laufender Staffel auch Kandidatinnen quasi „parasitär“ in medienindustrielle Wertschöpfungsprozesse einschalten, um ihre privaten Subunternehmen durch Generierung von Sozialkapital zu pushen, scheint ein interessanter Fall von koevolutionärem Lernen zu sein, bei dem das Geschäftsmodell Casting-Show konsequent adaptiert und ausgeweitet wird. Letztlich fungieren aber auch kleingewerbetreibende Blogger als billiger und willfähriger Content der globalen Medienindustrie…
Dass (die „bösen“) Medien nur bedienen, was (womöglich auch noch „souveräne) NutzerInnen vorgängig wollen, scheint mir allerdings fragwürdig. Konkurrenzbestimmte Konsumgüterindustrien, zu denen auch die Unterhaltungsmedien gehören, müssen gegen die Sättigung gezwungenermassen immer wieder neue, riskante Produkte auf den Markt werfen, deren Erfolg sie mehr erhoffen als voraussehen können. Was die Konsumenten eigentlich wollten, zeigt sich immer erst hinterher (auch für die Konsumenten selbst). Hat man es aber einmal geschafft, Kunden mit irgendwas anzufixen, versucht man freilich, diese Fixierung so intensiv und so lange wie möglich ausbeuten. Hier scheint mir eine grundlegende Parallele zwischen Drogen- und Konsumkapitalismus zu bestehen.
Das Format der Casting Show scheint diesbezüglich ein medienökonomisches Kolumbus-Ei zu sein: Es besteht weniger aus einem klar definierten Sendeinhalt („unterhaltsame Selektion und Formatierung von ausbeutbarem Medienpersonal“), sondern installiert vielmehr einen hocheffizienten Rückkopplungskomplex, in dem Produktionsfirmen, Sender, soziale Netzwerke, Presse, Werbeindustrie etc. so eng und zeitnah miteinander verflochten sind, dass Produktion, Produkt, Marketing, Marktforschung, Produktentwicklung, Konsum und Konsumentenkonditionierung erstens kaum noch unterscheidbar sind und zweitens unmittelbar Momente von Gewinnerwirtschaftung werden.