Unser Zivilisationsverständnis mag vage sein. Präzise aber ist es im Umgang mit Kannibalismus. Der Konsum von Menschenfleisch ist das ultimative no go – die Grenze, die niemals überschritten werden darf. Wie faul diese kulturelle Selbstvergewisserung ist, darauf hat Claude Lévi-Strauss verschiedentlich hingewiesen. Weitaus anschaulicher ist diese Verunsicherung einer Figur gelungen, die seit den 1990er-Jahren Hochkultur und Anthropophagie auf der Leinwand listenreich kombiniert: Hannibal Lecter.
Exposition

Claude Lévi-Strauss trug in Das Rohe und das Gekochte (1964) die Erzählungen amerikanischer Stämme zusammen und zerlegte sie in „Mytheme“. Das sind Erzähleinheiten, die in den Mythen verschiedener Kulturen immer wieder auftauchen und diese miteinander vergleichbar machen. Sie funktionieren wie Erzählbausteine, aus denen die größeren Narrative zusammengesetzt sind. Diese Mytheme setzte Lévi-Strauss vergleichend und kompositorisch ordnend zu Kapiteln zusammen. Um seine Methode zu beschreiben, benutzte er Überschriften wie „Sonate“, „Fuge“, „sinfonia breve“ oder „sinfonia rustica“, und stellt so sein eigenes Schreiben als Setzkasten für komplexe, quasi-musikalische Kompositionen vor.
Das Rohe und das Gekochte bezeichnet eines der wichtigsten Oppositionspaare in den Erzählungen südamerikanischer Ureinwohner. Zugleich charakterisiert der Übergang vom Rohen ins Gekochte auch den Vorgang, den der Anthropologe selbst betreibt. Er zwingt die rohen Mythen in die gekochte Variante der wissenschaftlichen Überformung. Gezwungen ist diese Mythenanalyse bei aller Finesse insofern, als dass sie durchweg geprägt ist von der harten Natur/Kultur-Opposition:
„Es lässt sich auf diese Weise nachprüfen, dass die Gé-Mythen vom Ursprung des Feuers […] mittels eines doppelten Gegensatzes vorgehen: des Gegensatzes zwischen roh und gekocht einerseits, zwischen frisch und verfault andererseits. Die Achse, welche das Rohe und das Gekochte vereint, ist ein Charakteristikum der Kultur, diejenige, welche das Rohe und das Verfaulte verbindet, ein Charakteristikum der Natur, da das Kochen die kulturelle Transformation des Rohen vollendet, so wie die Fäulnis seine natürliche Transformation ist“ (Lévi-Strauss 2000: 191).
Die Überführung des Rohen in das Gekochte ist der Vorgang der Kultivierung. Er bestimmt nicht nur, wie etwas zubereitet, sondern auch, was gegessen werden darf. Der kultivierte Fleischkonsum hat sich von diversen anderen carnivoren Ernährungsformen abzugrenzen.
„Negativ und positiv beziehen sich alle Mythen auf den Ursprung des Kochens der Nahrung: Sie stellen diese Ernährungsweise anderen gegenüber: der der Fleischfresser, die rohes Fleisch verzehren; der der Aasfresser, die verwestes Fleisch konsumieren. Aber – und dies ist ein dritter Unterschied – die Mythen evozieren verschiedenen Formen des Kannibalismus: einen luftigen (die Urubus) und einen aquatischen (die Piranhas) […]; einen irdischen […], der aber bald ein natürlicher ist und sich auf das rohe Fleisch bezieht (fleischfressendes Tier), bald ein übernatürlicher, der sich auf das gekochte Fleisch bezieht“ (Lévi-Strauss 2000: 368).
Die Erzählungen der Köche über die nicht-kochenden Wesen dienen einer simplen Abgrenzungsbewegung. Über sie bestimmen die Kultivierten ex negativo das Eigene. Ausgegrenzt werden einerseits die Kannibalen, andererseits die Aasfresser und die Raubtiere, die verwestes oder rohes Fleisch konsumieren. Das Eigene ist bestimmt als Macht über das Feuer, auf dem ausschließlich das artfremde Fleisch gebraten wird.
Hauptsatz
Brüchig wird Abgrenzung angesichts des kochenden Kannibalen. Denn dieser steht quer zu den Gegensätzen: Einerseits bedient er sich des Feuers, andererseits aber verspeist er nicht fremdes, sondern arteigenes Fleisch. Die Beherrschung des Herdfeuers muss sich also mit dem Menschenfleischkonsum arrangieren. Damit wandelt der kochende Kannibale zwischen den Kategorien eigen und fremd. Diese intermediäre Position, dieses Oszillieren zwischen Gegensätzen ist ein Wesenszug, den Lévi-Strauss (1977) den sogenannten trickstern zuschreibt – Figuren, die in den Mythen vieler Kulturen zu finden sind. Trickster sind Zwischenwesen – zwischen Tier und Mensch oder zwischen Menschen und Göttern –, die es beherrschen, zwischen den mythemischen Gegensätzen zu wandeln und sie gleichzeitig in sich zu vereinen.
Indem der kochende Kannibale aber das fremd-eigene Fleisch in eine höhere, gekochte Form bringt, übersteigt er menscheneigene Kultivierungsvorgänge: So wandelt er zwischen menschlichem Herd und göttlicher Speise. Er handelt wie ein Übermensch oder vielleicht noch mehr als das: wie ein Halbgott oder Dämon.
Seitensatz
Auch in späteren Texten gilt Lévi-Strauss Kannibalismus nicht als Differenzkriterium, um die vermeintlich zivilisierte Gesellschaft von den angeblich primitiven Kulturen abzugrenzen. Im Essay Wir sind alle Kannibalen (1993) behauptet er, die einst durch kannibalische Praktiken verbreitete Kuru-Krankheit wiederhole sich in der Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Injektionen mit Hormonen, die menschlichen Hypophysen entnommen sind, oder die Verpflanzung von Hirn-Membranen hätten das Revival der Kannibalen-Krankheit ausgelöst. Der Zusammenhang zwischen Kannibalismus und Creutzfeld-Jakob ist bis heute nicht bewiesen. Genauso wenig verifiziert werden konnte übrigens die spätere Vermutung, BSE löse die Krankheit aus. Trotzdem stellt der Anthropologe zu Recht die Frage, warum wir den Kannibalismus als das ‚Andere‘ unseres Lebensstils definieren dürfen. Schliesslich injizieren wir therapeutisch menschliche Hormone und nehmen mit Cremes, Stammzellen und Xenotransplantation Menschen zu uns.

Durchführung
Lévi-Strauss schrieb seinen Kannibalismus-Essay 1993. Ich kann nicht umhin, mir vorzustellen, dass er dies nach einem Kinobesuch tat. Die Romanverfilmung The Silence of the Lambs hatte 1992 die Big Five gewonnen, die wichtigsten Kategorien der Oscar-Verleihung. Das ist bis heute keinem anderen Film danach gelungen. Das Ausmaß dieser Ehrung erstaunt nicht zuletzt bei einem Film, der sich um einen Kannibalen dreht: Hannibal Lecter, Pressename ‚Hannibal the Cannibal‘. Dieser wurde 1981 vom Thrillerautor Thomas Harris in seinem Roman Red Dragon erfunden. Nach einer Verfilmung dieses Débuts durch Michael Mann (1988) wurde Hannibal Lecter in Silence of the Lambs erstmals durch Anthony Hopkins verkörpert. Hopkins Schauspielstil prägt bis heute das Hannibal-Bild. Allerdings inkarniert ihn mit Mads Mikkelsen in der 2015 zum Abschluss gekommenen TV-Serie auch nicht gerade ein zweitrangiger Schauspieler.

Die Hopkins-Trilogie besteht – sortiert nach der Handlungschronologie – aus Red Dragon (Ratner 2002), Silence of the Lambs (Demme 1991) und Hannibal (Scott 2001). Den vierten Teil Hannibal Rising von 2007 nehme ich aus meiner Analyse aus, da er in fast allen Punkten weder der Machart der anderen Filme noch dem Konzept der früheren Harris-Romane entspricht.
Erstes Thema
In den ersten drei Filmen wie auch in der TV-Serie (2013–2015) ist Hannibal Lecter der Inbegriff des Hochkultivierten: akademischer Titel, erfolgreicher Psychologe, distinguierte Sprache, gehobener Kunstverstand, Sponsor der Philharmoniker seiner Heimatstadt Baltimore und passionierter Koch – von Menschenfleisch. Sein Kannibalismus fügt sich lückenlos in die soziale Distinktion der Oberschicht. Wenn Lecter am Anfang von Red Dragon einen minderbegabten Flötisten an den Vorstand der Philharmoniker verfüttert, harmonieren seine verschiedenen Passionen bestens. Die Tischgespräche sind intellektuell und geprägt von der Erleichterung, dass aufgrund des Verschwindens des Mindertalentierten die musikalische Qualität steigt. Natürlich lobt jeder die Zartheit des Fleisches: Lecters Wirken ist ein Zugewinn für Kunst und feinen Geschmack in jeglicher Hinsicht. Der Sarkasmus trieft aus dieser Szene wie Bratenfett, denn Lecter hält wie ein zweiter Til Eulenspiegel, ebenfalls ein Trickster, der sozial-kannibalistischen Oberschicht den Spiegel vor.
In dieser Ouverture des Films werden wie bei Lévi-Strauss die verschiedenen, teils kontrapunktisch angelegten Motive des Mythos vorgeführt. Lecter selbst agiert als mythische Figur. Er ist der geschichtslose, oder vielmehr: geschichtsraubende Fremde, der aus dem Nichts in der High Society Baltimores auftaucht. Dort überführt er die mythische Opposition von Rohem und Gekochtem, von Fremdem und Eigenen, in die absolute Kultivierung des Gekochten. Er allein, der Trickster, verfügt über die Macht, das Eigene zum Fremden zu machen: den Flötisten zu Filet. Er allein aber kann aus dem fremden Eigenen über das Kochen auch wieder etwas Eigenes machen: eine köstliche Fleischmahlzeit, die sich die eigene Gesellschaft dann lobpreisend einverleibt. Nichts bleibt rohe Natur: Das Mord- geht als quasi-religiöses Opfer auf in den Mägen und Sphären der Hochkultur. Deren Dekadenz riecht so nicht nach Verwesung, sondern nach Sauce l’Hannibal.
Lecter ist also von Anfang an ein diabolischer Halbgott, der über die Teilhabe am gekochten und gemeinsam gegessenen Selbstopfer ein gemeinschaftliches Eigenes stiftet. Natürlich wird den Zuschauenden deutlich, dass dieses Menschenfleisch die Normalmenschheit an ihre Doppelmoral erinnert.
In der Folge häufen sich Motive, die für die halbgöttliche Tricksterhaftigkeit des Triebtäters sprechen. Das erste ist das Motiv des Marionetten-Spielers. In den handlungschronologisch ersten beiden Teilen, Red Dragon und Silence of the Lambs, sitzt Lecter fast das gesamte Geschehen über hinter Gittern, respektive: hinter einer Glasscheibe. Vor diese transparente und (mythemologisch ausgedeutet:) transzendente Grenze pilgern die FBI-Agenten, um das kannibalistische Orakel zu befragen. Wie Gläubige folgen die Ermittler seinen Hinweisen − und wie Gläubige werden sie von seiner unsichtbaren Macht verfolgt, falls sie gegen Gebote verstoßen. So schafft es Lecter in beiden Filmen, die FBI-Apostaten einerseits zu lenken, andererseits, bei Widerständen gegen diese Lenkung, ihnen den aktuellen Serienmörder ins Haus zu schicken. Letzterer setzt Lecters Willen wie die irdische Exekutive eines göttlichen Willens um. Lecter kann über seinen Handlanger jederzeit ins Leben der Ermittler eingreifen. Er bestraft sie zwar nicht mit dem Tod, verdammt sie jedoch zur gläubigen Paranoia. So verfügt er über die Macht, ohne Involvierung und lediglich über die Kontrolle der nach seinem Bild Gestalteten die Geschicke der ihm unterworfenen Welt zu bestimmen.

Überdies treten die von Lecter angeleiteten Serienmörder in Funktionsstellen des christlichen Mythos. Der Serienkiller des ersten Teils bringt sich durch seine Taten als apokalyptischen Drachen auf die Welt. Und Buffalo Bill in Silence of the Lambs schneidert sich aus seinen Opfern eine zweite Haut, in die verpuppt er sich als Mensch neu schöpfen und erlösen will.
Zweites Thema
Doch wehe, wenn dieser Halbgott auf Erden wandelt. In Hannibal, dem handlungslogisch dritten Teil der Roman- wie Filmreihe ist Lecter auf freiem Fuß. Inzwischen ist er in Florenz, wo er das Morden unterlässt und daran arbeitet, ein anerkannter florentinischer Intellektueller zu werden. Er akkulturiert sich über seine Forschung zu Dante, notabene dem Dichter von Himmel, Purgatorium und Hölle. Seinen Trieb kompensiert Lecter damit, sich mit dem Selbstmörder Pier delle Vigne zu beschäftigen, dessen Bestrafung die Commedia im 13. Inferno-Gesang beschreibt. Lecter parallelisiert in seiner Forschung diesen Suizid mit der Erhängung des Judas und überdies der des Francesco de’ Pazzi. Mit letzterer nähert sich Lecters Forschung der blutigen florentinischen Geschichte: Nach einer missglückten Verschwörung gegen die Medici 1478 wurde Francesco durch einen Sturz aus den Fenstern des Palazzo della Signoria erhängt.
Nun ist der Lecter in Venedig verfolgende Ermittler Inspector Rinaldo Pazzi ausgerechnet ein Nachfahre Francescos. Er bietet Lecter die Möglichkeit, wieder in seine eigentliche Bestimmung einzutreten: Lecter kopiert das Dante-Motiv mit der Erhängung des Judas und des Francesco de’ Pazzi – und stürzt den Ermittler gleich mit vom Balkon des Rathauses. Damit fallen jedoch vier Erhängungen auf einer mythischen Funktionsstelle zusammen, die (von ihrem Wesen her überzeitlich) sowohl am Rande des Passionsgeschehens, in der Commedia, der florentinischen Geschichte als eben auch in der Gegenwart der Filmhandlung präsent werden kann.
Der kochende Kannibale ist in dieser Sequenz nicht mehr lediglich ein gegenwärtiges Phänomen einer quasi-kannibalistischen Élite; Lecter ist hier ein aktiver Mythengenerator, der sich selbst tief aus der europäischen Geschichte und Literatur wiedergebiert. Er vergegenwärtigt die Geschichte (latent) als Forscher und (aktiv) in brachialer Tat. Damit wird der Kannibalismus als eine tief verwurzelte, mythische Eigenheit der sogenannten zivilisierten europäischen wie US-amerikanischen Kultur gezeichnet. Als deren sich selbst gebärender und sodann wiedergeborener Vertreter schreitet Lecter nun zur Tat.
Reprise
Am deutlichsten wird dies am Showdown und im Epilog des Films. Die Protagonistin Agent Clarice Starling erwacht aus einer Ohnmacht. Sie trägt ein Abendkleid. Als sie sich in den Salon begibt, findet sie Lecter und ihren bürokratischen Gegenspieler, FBI-Agent Paul Krendler vor. Krendler hatte zuvor versucht, Starling zu sabotieren. Schließlich waren dem männlich-rationalen Ermittler ihre gläubige Faszination für Lecter ebenso ein Dorn im Auge wie ihre intuitiven Ermittlungsmethoden. Als Starling an Lecters Tafel tritt, stammelt Krendler, das Haupt bedeckt von einer Baseballkappe, unkontrollierte Sätze. Lecter bittet Starling höflich, aber bestimmt, Platz zu nehmen. Er tritt hinter Krendler, entfernt dessen Kappe und öffnet seine Schädeldecke entlang eines zuvor gezogenen Einschnitts. Unter Ausführungen, welche Partien des Gehirns am entbehrlichsten seien, entnimmt er Krendlers geöffnetem Schädel einige Windungen und legt sie in eine erhitze Pfanne.
Mit der Schädelinzision beim archetypischen FBI-Agenten Krendler (WASP, Bürokrat, Chauvinist und vor allem: Rationalist) greift Lecter symbolisch in das Selbstverständnis eines sich als aufgeklärt begreifenden Patriarchats ein, das meint, sowohl Mythos wie Kannibalismus hinter sich gelassen zu haben. Er kultiviert deren rohes Fetischorgan, das Gehirn, und formt es zur gekochten Speise für sich und seine Gläubigen. Dass er Krendler selbst vom kultivierten Eigenhirn zu essen gibt, ist Höhepunkt dieser perversen Ritualreflexion, in der der mythisch agierende Trickster die Ratio sich selbst verschlingen lässt.
Auf symbolischer Ebene ist diese kannibalistische Eucharistie nicht weit entfernt von Lévi-Strauss’ Methode: So wie der Anthropologe in den Fundus der Eingeborenenmythen griff, um sie im Stil der strukturalistischen Rationalität zur ›höheren‹ Struktur zu formen, handelt auch Lecter als ein Strukturgeber, der in die rohe Ratio des US-amerikanischen Ermittlergehirns greift und sie zur höheren Struktur der Götternahrung macht. Beiden Griffen ist – jenseits aller moralischen Differenzen – gemein, dass sie sich unter Verkultung des eigenen kulturellen Status zur Wandlung der anderen, rohen Kultur berufen fühlen. Der große Gegensatz ist die Laufrichtung dieser Kochvorgänge: Der eine greift in die Mythen ein, die er rationalisiert; der andere in die symbolisierte Ratio, die er sich – selbst mythische Gestalt – einverleibt.
Coda
Beide, Anthropologe wie Kannibale, formen damit die Zukunft: Einerseits dominiert das strukturalistische Denken die weiteren Jahrzehnte nach den Mythologica und scheint auch heute noch – vor allem was die Mythenforschung angeht – alles andere als überwunden. Andererseits gelingt es Agent Starling, aus dem Ritual auszubrechen und ein Einsatzteam die Tafel stürmen zu lassen. Die Leiche der ermittelnden Ratio (Agent Krendler) ist zu diesem Zeitpunkt freilich schon kalt und Lecter nicht mehr anwesend. Im Epilog des Films sieht man ihn in einem Flugzeug. Statt eines Flugzeugmahls hat er sich französische Feinkost angerichtet und öffnet gerade eine selbst mitgebrachte Tupperware-Schale. Als er sich aus der Schale kleine gewundene Fleischstücke nimmt, schaut ihn ein Kind vom Nachbarsitz bittend an und fragt, ob es probieren dürfe. Unter lehrmeisterlichem Lob, dass man stets Neues probieren solle, gibt Lecter dem Kind von Krendlers Hirn zu essen. Und dem Kind schmeckt es.
In der letzten Aufnahme umspielt Lecters Lippen ein Lächeln: Es ist Stolz des Überirdischen, der ihn lächeln lässt, weil er weiß: Den kochenden Kannibalen gehört die Zukunft, in Lecters Fall die Zukunft einer kannibalistischen Neu-Mythisierung der Welt. Denn hier wurde Anfang des Jahres 2001 – der im Februar in den USA erschienene Film war am 11. September weltweit noch immer in einigen Kinos zu sehen – in einem Flugzeug die westliche Ratio vertilgt.
Literatur
Lévi-Strauss, Claude. 1977 (1955). „Die Struktur der Mythen“. In: Lévi-Strauss, Claude. Strukturale Anthropologie I. Frankfurt am Main.
Lévi-Strauss, Claude. 2000 (1964). Das Rohe und das Gekochte. Mythologica I. Frankfurt am Main.
Lévi-Strauss, Claude. 2017 (1993). „Wir sind alle Kannibalen“. In: Lévi-Strauss, Claude. Wir sind alle Kannibalen. Frankfurt am Main.
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Matthias Däumer
Matthias Däumer ist promovierter Literaturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Seine Forschungsinteressen gelten der mittelhochdeutschen Literatur, ihren Helden, Mythen und Jenseitsreisen. Mit der Gegenwart verbindet ihn ein Faible für Theorie und Fernsehserien.
Vielen Dank für diesen die mentale Verdauung anregenden Beitrag! Ich finde die Lesart des Kannibalen als göttliches Wesen sehr einleuchtend – Wer den kultivierten Menschen kocht, zeichnet sich dadurch als nochmals kultivierter bzw. mächtiger und damit göttlich aus, verbunden mit (dadurch erlangter?) göttlicher Lenkungsgewalt. Auf die Kompatibilität mit dem christlichen Mythos wurde hingewiesen. Was aber machen wir in dieser Argumentation mit der Eucharistie? Immerhin ist dies ein zentrales Element des christlichen Glaubens – Menschen, die ihren Gott verspeisen. Wird hier eine weitere sarkastische Opposition aufgemacht zwischen dem christlichen Gott, der von seinen Gläubigen verspeist wird, und Hannibal, der ungleich mächtiger diese Gläubigen selbst zur Speise macht? Oder müssten, dieser Logik folgend, nicht die Christ*innen die ultimativ Kultivierten sein, da sie sogar ihren Gott nochmals kultivieren?
Danke für diesen Kommentar, der in seinen Implikationen noch um Längen bösartiger ist als der Artikel selbst. Es stimmt schon: Das Kochen und der eucharistische Wandel sind eng miteinander verwandt. Nicht zuletzt auch aufgrund der oral konnotierten gemeinschaftsstiftenden Funktion. Ich würde es aber in diesem Fall so sehen, dass die Eucharistie gewissermaßen in die gegenläufige Richtung des Kochvorgangs führt: Aus der Hostie (kultuiviert) wird das Fleisch, aus dem Wein (kultiviert) das Blut. (Ich klammere hier jetzt die ganze Debatte um den symbolischen und den „wirklichen“ Wandel aus). Aber in dieser verkürzten Form erschiene die Eucharistie als ein Vorgang, der das kultivierende Kochen revidiert und dann erst das Produkt kannibalisiert… also als ein (man gönne mir die Polemik:) sowohl mythemologisch als auch moralisch unkultivierter Vorgang.
Lieber Matthias,
vielen Dank für den gänzlich unlangweiligen Artikel. Die Interpretation Lecters als gleichsam mythische Figur ist sehr spannend und hat mich zu folgenden spontanen Überlegungen angeregt: (Nicht nur) In der Eingangssequenz finde ich die Rolle des „Wissens“ bzw. des Beobachterstandpunkts bemerkenswert. Hannibal Lecter besitzt als einzige Figur das Wissen über das Wesen des Fleisches, das er serviert, und zugleich über die Dekadenz der Speisenden. Zwar partizipieren auch die Zuschauer*innen an diesem Wissen, im Gegensatz zum Protagonisten fehlen ihnen aber Möglichkeiten in das Geschehen einzugreifen. Dies unterstreicht Lecters gleichsam göttlichen Standpunkt.
Zugleich führen die Filme aber doch auch die Konstruktion eines solchen Standpunktes vor: Im Gefängnis erscheint Lecter nach wie vor als praktisch allwissend. Zugleich ist er auf die „Informationsopfergaben“ durch Starling angewiesen – nach denen er regelrecht hungert. Lecters Position hängt immer wieder nicht nur von seiner „animalischen“ Fähigkeit des Tötens zur Nahrungsgewinnung ab, sondern auch von seiner Teilhabe am Kunst- sowie am Wissenschaftsdiskurs. Die gleichsam transzendente Sphäre, in der Lecter situiert ist, wird also von der Gesellschaft selbst produziert und aufrechterhalten – konkret: insbesondere von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Staatsdiener*innen.
Eine Analyse der Machtzusammenhänge und der Bedeutung der Wissenschaft, insbesondere der Psychologie, wäre sicherlich spannend. Wobei in diesem Zusammenhang auch die TV-Serie (2013–2015), die du lediglich erwähnst, auf jeden Fall interessant wäre.
Liebe Nadine, du hast ganz Recht. Wissenschaft und Kunst sind die Systeme, die bei Lecter eng mit dem kochenden/göttlichen Kannibalismus verbunden sind. Und als Wissenschaftler ist man gezwungen, aufgrund seiner Taten auch in den (Eulen-)Spiegel sehen. Was die Psychologie angeht, wird das gerade in „Schweigen der Lämmer“ offensichtlich, da hier der Therapieerfolg titelgebend ist. Ebenso ist Lecter im dritten Teil kein übler Dante-Analytiker. Was das daraus resultierende Gottesbild ergibt (ein Göttlicher, der die menschliche Kunstfertigkeit braucht, um an der Welt teilhaben zu können), sind wir natürlich tief in einer kunstreligiösen-poetologischen Debatte drin, die vor allem für die Jahrhunderte vom Barock bis hin zu bspw. Hölderlin interessant sein dürfte. Diese Debatte sollten wir mal führen… aber am besten nicht hier, da wir sonst den Kommentarrahmen kannibalisieren.
Hannibal Lecter, der als Psychiater das Seelenleben seiner Patienten seziert, verspeist mit dem gleichen Genuss deren Innereien. Seine „Waffen“ dabei sind der Verstand und das Skalpell. Dabei machen ihn seine Distinguiertheit, literarische wie musikalische Bildung sozusagen zu einem Künstler, der mit seinen Figuren solange spielt, wie er es will. So wird ihm Clarice Starling vorgeführt wie die Jungfrau dem Drachen, damit er aus ihr begierig Informationen saugen kann. Gleichzeitig wird er seinem psychiatrischem Anspruch gerecht, ihr Trauma – die Schreie der Lämmer – zu ergründen.
Dem voraus geht der Rollentausch vom Psychiater zum Psychopathen, wobei eine trennscharfe Unterscheidung nicht mehr gelingt. Als Serienmörder und gleichzeitiger Unterstützer des FBI führt Lecter eine Art von Doppelleben – eingesperrt im verliesartigen Keller einer psychiatrischen Anstalt, ohne Fenster und Hoffnung auf Aussicht. Für seine möderischen Taten und für seinen Tabubruch, als Kannibale Teile seiner Opfer verspeist zu haben, soll er lebenslang eingekerkert werden. Doch genauso wenig, wie sich der Künstler von der Gesellschaft Vorschriften machen lässt, was er zu tun oder zu lassen hat, lässt sich Lecter disziplinieren: Schon bei seinem ersten Ausbruch drapiert er seine Wärter wie Aussellungsstücke am Gitter seines Käfigs. Der Serienmörder als Künstler, das will diese blutige Handschrift wohl sagen, ist moralisch frei und ungebunden.
Hannibal Lecter ist in der Gesellschaft nicht integriert. Der intellektuelle Feingeist, Gourmet und Kunstkenner sucht als Genussmensch sein Vergnügen auf Kosten anderer, ohne irgendwelche Schuldgefühle zu besitzen. Wie der Koch die Zutaten für ein Rezept sorgfältig auswählt, damit das Gericht gelingt, so entwickelt der Serienmörder einen ausgekügelten Plan, um sein Opfer in die Falle zu locken. Wer bei ihm zu Gast ist, muss somit selbst damit rechnen, ein Teil des Gastmahls zu werden – oder wie Lecter im Scherz über den ungeliebten Anstaltsleiter Chilton sagte: „I’m having an old friend for dinner.“ Bestimmten in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr moralische, sondern ästhetische Kriterien das Handeln, so seien auch die Morde von Serienkillern ästhetisierte Spektakel, die einem voyeuristischen Publikum dargeboten würden, das fasziniert sei vom medial vermittelten Eindringen in das Private, so der Medienwissenschaftler Rainer Winter (Faszination Serienkiller. Zur sozialen Konstruktion einer populären Figur, in: medien praktisch 2/2000, S.18–23). So wird der Zuschauer selbst zum Kannibalen, der die Bilder verschlingt. Doch sitzt das Monster erst im Kopf, ist es meistens schon zu spät – oder wie FBI-Chefermittler Jack Crawford zu Clarice Starling sagt: „Believe me, you don’t want Hannibal Lecter inside your head.“
Vielen Dank für die anregende Lektüre! Hannibal Lector verkörpert natürlich auch die Alte Welt gegenüber einer Neuen Welt, deren Geldadel wie Patrick Bateman in „American Psycho“ identitätslos und kannibalisch verroht ist. Wenn schon, dann mit Stil: Man gehört ja auch nicht zu jenem Pöbel, der in Süskinds „Parfum“ den Engel Grenouille mit Haut und Haaren verschlingt.
Gerade der Kontrast zu Bateman scheint mir besonders gewinnbringend, danke dafür. Hier wird ein Generationskonsflikt der Serienkiller deutlich, der weit über die Genrethematik hinausweist. Die alte Genereation (Lecter) agiert mythisch, mit Handlungen, die auf profaner Ebene zweckfrei, jedoch auf eine höhere, nicht-menschliche „Moral“ ausgerichtet sind. Die neue Generation (Bateman) agiert neolieberal, mit Handlungen, die eine profane Lustmaximierung garantieren, sich um das Höhere jedoch nicht scheren. Nicht umsonst tötet Batemann viele Prostitutierte, ohne dass dabei auch nur der Verdacht aufkäme, dass er es (wie sein mythischer Vorgänger Jack the Ripper aus der Alten Welt) aus höheren (in diesem Fall „adligen“) oder gar moralischen Gründen getan haben könnte. Bateman ist schlichtweg kein selbst-kochender Kannibale; eher die Lieferando-Version eines solchen.
Harris‘ hochgebildeter Serienmörder Hannibal Lecter ist in der Tat ein literarisches Faszinosum, dem dieser Artikel fundiert auf den Grund zu gehen versucht. Mit den perfekten Manieren und dem exklusiven Geschmack verkörpert der Kannibale augenscheinlich das genaue Gegenteil des Menschenfressers der frühen Neuzeit. Und das, obwohl er ganz genau wie dieser seine Artgenossen tötet, um mit Genuss ihr Fleisch zu verspeisen. Nur gibt es bei Thomas Harris statt über dem Lagerfeuer gebratenem Eroberer eben Menschenhirn an Trüffelsauce.
Die Interpretation Lecters als „Trickster“, der über bzw. zwischen den Dingen steht, erscheint mir schlüssig. Die These, dass sich der Kannibale mit dem Verzehr seiner Artgenossen selbst in eine Art göttliches Wesen verwandeln möchte, wird auch noch von anderen Aspekten der Erzählung unterstützt: Vor allem zu erwähnen wären da Lecters Beschäftigung mit unumstößlichen physikalischen Gesetzen und sein Wille, sie zu brechen, um seine verstorbene Schwester Mischa zurückzuholen, die ihrerseits einst von Kannibalen – über deren Primitivität sich der Halbgott Hannibal mit seiner Kultiviertheit selbst erhebt – gegessen wurde.
Allerdings möchte ich anmerken, dass es im Roman „Hannibal“ – im Gegensatz zur Verfilmung – nicht Krendler ist, der sein eigenes Hirn und damit das Element der Ratio verzehrt. Clarice Starling, durch Hypnose und Drogen beeinflusst, verspeist gleich zwei Portionen und durchläuft am Schluss der Erzählung, beginnend mit eben jenem Dinner, eine Transformation von der marionettenhaft agierenden Empfängerin göttlicher Nahrung zur selbstständigen Halbgöttin und Weggefährtin Hannibals. Bei Lecters Mord an Krendler geht es nicht um die Vereinigung von Essendem und Gegessenem, sondern um eine Verbrüderung der Speisenden im wahrsten Sinne des Wortes. Hannibal und Clarice haben beide an derselben Tafel gesessen und Paul Krendlers Hirn verzehrt. Die FBI-Agentin verwandelt sich so
nicht wirklich in Mischa, wird aber gewissermaßen zu Lecters Schwester im Geiste.
Liebe Frau Röttger, vielen Dank für diesen Kommentar, vor allem dafür, dass er mir einen Weg zeigt, „Hannibal Rising“ doch mit in das System zu denken. Denn die Deutung, dass Lecter seine Schwester symbolisch zurückholt und so die (recht lineare und langweilig psychoLogische) Vorgeschichte in den Kreis des Mythischen integriert, ist eine sehr gelungene Lösung des Problems. Hier ist es nur wichtig, wie Sie völlig zurecht betonen, von den Filmen auf die Romane umzuschwenken, da das nachgeschobene Prequel (so würde ich es werten) in seiner filmischen Version nicht in der Lage ist, diese Konnotation aufzubauen. Vor allem deshalb, weil der Film viel zu stark darauf fokussiert, unter Verwendung linearer und beinahe bildungsromanhafter Erzählmuster den mythischen Lecter der ersten Teile in eine entwicklungspsychologische Zwangsjacke zu stecken. Er wird so ja beinahe liebevoll in seinem Verhalten erklärt… Doch wer will schon einen Gott erklärt haben?
Die hier versuchten Inpretationsansätze – der Mensch macht Gott nach seinem Bilde – scheinen mir viel zu hoch gegriffen. Mit Hannibal Lecter, darin sind sich wohl allein einig, betritt ein neuer Typus des Serienkillers die Bühne, der im Vergleich zu seinen Vorgängern – ganz simpel gesagt – keine Kettensägen verwendet. Bekanntlich greift Thomas Harris dabei auf ein ganzel Bündel real existierender Serienmörder zurück – und soger Anthony Hopkins soll sich bei der Einübung seiner Gestik und Mimik an Charles Manson orientiert haben.
Darüber hinaus offenbart vor allem der Film von Anfang an eine – latent erotische – Beziehungsgeschichte zwischen Lecter und Clarice Starling, die nach dem Prinzip funktioniert: Quid pro quo! Dabei hilft Lecter der FBI-Ermittlerin, wie es jeder gute Psychiater täte, ihr Kindheits-Trauma zu lösen: die schreienden Lämmer zum Schweigen zu bringen und damit ihre Albträume zu beenden. Dass die Lämmer Opferlämmer sind und erst schweigen werden, wenn Jame Gump (oder auch Buffalo Bill) mit dem Schlachten seiner Opfer aufhören wird, gibt dem Roman und auch dem Film seinen Titel. Nicht umsonst beziehen sich die meisten Interpreten auf diese insgesamt gerade einmal 26 Minuten langen Dialogszenen zwischen Lecter und Starling. Dass Lecter auch ein Kannibale ist, interessiert gerade einmal am Rande.
Dann geschieht das, was bei kommerziell erfolgreichen Filmen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: Es werden Fortsetzungen gedreht! Als Prequel zum Schweigen der Lämmer kommt Roter Drache in die Kinos, chronologisch der erste Roman der Hannibal Lecter-Tetralogie. Müßig darauf hinzweisen, dass der mittlerweile zum weltweiten Filmstar avancierte Hopkins auch darin die Hauptrolle spielen muss. Zudem hat es der Serienkiller ja mittlerweile bis in die Feuilletons großer Zeitungen geschafft und ist zum Tagesgespräch geworden. Wie seinerzeit bei In Cold Blood von Truman Capote läuft die Werbemaschinerie auf Hochtouren: Man spricht bereits über den Film, lange bevor er auf die Leinwand kommt. Dass es sich dabei um ein Remake handelt, sollte auch nicht unerwähnt bleiben, denn bereits in den 80er Jahren wurde der Stoff schon einmal verfilmt, allerdings mit mäßigem Erfolg.
Bei Hannibal nun finden die beiden Seelenverwandten Lecter und Starling wieder zusammen. Die ehemalige Novizin wird nun die Befreierin Lecters, soll dieser doch – dem perfiden Rachfeldzug seines früheren Opfers Mason Verger selbst zum Opfer gefallen – von eigens dafür gezüchteten Schweinen gefressen werden. Diesen unappetitlichen Anblick erspart uns allerdings der Film – leider auch den von Jodie Foster, die für derlei Schweinereien offenbar nicht mehr zur Verfügung stand. Aber wenigstens Hannibal und Clarice finden ein Happy End und begeben sich auf Weltreise. Ob sie dabei noch einmal kannibalistisch tätig werden, bleibt unserer Fantasie überlassen.
Vielen Dank für diesen anregenden Text, Matthias. Dein mit viel Sachverstand zubereitetes Kannibalistenschnitzel bietet eine interessante Perspektive auf die Hybris eines menschlichen Geistes, dessen diätetische Präferenz zugleich eine Art Apotheose seiner selbst betreibt. Hannibal Lecter als mythisches/göttliches Zwischenwesen, als „trickster“, zu verstehen, ist schlüssig: „das Eigene zum Fremden zu machen: den Flötisten zum Filet“ – köstlich geradezu!
Eine kleine Frage drängt sich allerdings angesichts des Endes des Texts auf: War es Deine Absicht Dich selbst einmal in der Rolle des „tricksters“ zu versuchen? Irgendwie konnte ich nicht umhin, mich am Ende des Textes zu fühlen wie der Junge, der mit Genuss das Klümpchen Fleisch verdrückt, das er aus der Tupperschüssel gefischt hat, und erst nachdem es ihm in den Magen geplumpst ist bemerkt, dass ihm da gerade der sogenannte 11. September lakonisch als „Cannibal Holocaust“ (1980) des 21. Jahrhunderts angerichtet dargeboten wurde. So schaffst Du es, genau wie der allseits bekannte und beliebte Philanthrop und Feinschmecker Hannibal Lecter als „trickster“ „das Eigene zum Fremden zu machen“. Eine leckere Lektüre.
Bon appétit allen geneigten künftigen Lesern!
Lieber Jan,
ja, die 09/11-Dreingabe ist dann schon der Punkt, an dem ich ein wenig „trickstere“ und einen abschließenden Grenzgang zum Politischen andeute. Aber eigentlich nicht als neuer Lecter (hoffe ich zumindest). Denn letztendlich ist das der Punkt, an dem einem das Zuvorige doch ein wenig im Halse steckenbleiben sollte. Und das will Lecter ja eben nicht; er strebt (zumindest bevor er ertappt wird) die unwissende Schuld der von ihm Gefütteten an. Da man an dieser Stelle jedoch merken SOLL, dass man eben gerade auch als vermeintlich „aufgeklärter“ Mensch dazu ermutigt wurde, das Eigenfleisch westlich-weltpolitischen Narrative mitzuverspeisen, wasche ich meine Hände in Unschuld. Obwohl… Vielleicht bin ich ja doch Lecter und Du hast mich gerade eben ertappt? Wer weiß?
Sorry, aber für mich ist das meiste, was hier zu diesem Thema geschrieben wurde, absolutes Geschwafel. Was, wie es im vorigen Kommentar heißt, soll es bedeuten, dass die diätetische Präferenz des menschlichen Geistes zugleich eine Apotheose seiner selbst betreibt? Zum Glück habe ich heute schon gelacht; ansonsten ist Karneval ja erst nächste Woche. Mit solchen und ähnlichen Ergüssen, deren Vielzahl ich mir aus Zeitgründen aufzuzählen hier erspare, schafft man sich gewiss keine neuen Leser. Gerade zum Schweigen der Lämmer gibt es eine Menge von Publikation, die nicht nur verständlich, sondern auch geistanregend sind. Diese hier würde ich ganz gewiss nicht dazu zählen. Sie langweilt mich nur!
Leider muss ich mich dem Vorkommentator anschließen. Was ist das hier? Ein literaturwissenschaftliches Hauptseminar? Oder eine Art von Kolloquium, bei dem sich die Teilnehmer offenbar alle persönlich kennen und gegenseitig auf die Schulter klopfen? Dann mögen sie sich bitte auch nur dort austauschen und mich damit in Ruhe lassen. Ich will lediglich gut unterhalten und nicht in eine fachliche Diskussion einbezogen werden, die mich überhaupt nicht interessiert. Das kann an einem anderen Ort geschehen. Das hier ist, nach dem Bekunden der Herausgeber, ein populärwissenschaftliches und kein Fach-Magazin. Das sollte es, bitte schön, dann auch bleiben.
Liebe Frau Eberhard, lieber Herr Bergmann,
es tut mir leid, dass Sie sich gelangweilt fühlen. Vielleicht aber wäre Ihre Langeweile weniger umfassend, wenn Sie sich auf den Artikel eingelassen hätten? Oder aber auch der Geisteswissenschaft ein Anrecht auf eine eigene Sprache zusprächen, die hier populärwissenschaftlich vermittelt werden soll? Oder aber auch einfach, indem Sie mit einbeziehen würden, dass Langeweile oder Interesse letztendlich eine Sache ist, die in Ihrer eigenen Verantwortung liegt? Denn belustigendes FastFood oder Bildungsfernsehen wollte und will ich mit diesem Text eigentlich nicht abliefern. Wissen entsteht meines Erachtens nicht durch Präsentation und Konsum, sondern durch einen Austausch. Und genau der wird Ihnen hier angeboten.
Das Aufbrechen des wissenschaftlichen Sprachduktus habe ich sicherlich nicht ideal gelöst, keine Frage. Da kommt man manchmal nicht aus seiner stilistischen Haut; und es ging mit ja auch nicht nur um Hannibal Lecter, sondern ebenfalls um Levi-Strauss, was das Ganze nicht gerade vereinfacht hat. Aber dennoch offeriere ich Ihnen als Autor mit meinem Text und die Avenue mit der Bereitstellung der Kommentarfunktion ein Kommunikationsangebot.
In dieser Form kann ich jedoch schlecht auf Ihre Kommentare reagieren, weil Sie keine inhaltiche Kritik üben. Denn, ja, manche Kommentator_innen sind mir bekannt (wenn auch sicherlich keine Seminargänger_innen). Und ich würde es für unredlich halten, diese Bekanntschaft in den Antworten zu vertuschen. Was aber nicht heißt, dass Sie aus der Kommunikation ausgeschlossen sind.
Dass ich die hier Schreibenden teilweise kenne, holt natürlich Missverständnisse mit ins Boot. Der Satz, der Sie, Herr Bergmann, in Erwartung des Karnevalesken aufschreien lässt, habe ich zum Beispiel als eine Satire meiner (zugegeben) leicht manierierten Schreibweise wahrgenommen. Eigentlich greifen Sie hier einen Verbündeten an, weil Ihnen die Klartext-Meinungsverkündung so nah an der Galle liegt, dass Sie für die ironischen Feinheiten gänzlich unempfänglich sind. Zugegeben: Das liegt auch daran, dass ich Jan Dottermann und seinen Humor kenne, und wir an dieser Stelle vielleicht ein bisschen zu sehr unter uns witzeln. Aber warum Sie dieses doch recht natürliche Verhalten auf die anti-intellektualistischen Barrikaden treibt, verstehe ich nicht.
Denn dem Ganzen liegt kein Ausschluss zugrunde und ein Ingroup-Gehabe liegt mir wirklich fern. Deshalb ist es aber umso bedauerlicher, dass Sie solcherart die Möglichkleit einer Vermittlung von Vornherein verbauen. Denn ein Forum wie dieses setzt einen beidseitigen Willen zur Kommunikation voraus. Mit einer Enttäuschungsbekundung, dass man hier doch nur unterhalten werden wollte, ist da wohl niemandem gedient. Ich finde es selbst schade, dass Kommunikationsbereitschaft oder auch Freude am intellektuellen Spiel nur bei Freunden und Bekannten, nicht jedoch bei einer Öffentlichkeit vorausgesetzt werden kann. Aber anscheinend ist es halt so.
Liebe Kommentierende,
als Mitgründerin dieser Zeitschrift bin ich sehr an jeder freundlich und sachlich geführten Diskussion interessiert. Da die Artikel frisch aus der Forschung kommen, ist es sinnvoll, wenn sie diskutiert werden – und zwar von Fachfremden und auch von ‚peers‘ der Autor*innen. Wir sind der Überzeugung, dass nur die Diskussion die Gedanken schärft und wir finden auch nicht schlecht, wenn Kritik nett formuliert eingeleitet wird. Tatsächlich ist die Avenue populärwissenschaftlich. Wissen und Erkenntnisse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften sollten jedermann zugänglich sein. Doch wir wollen auch nicht so tun, als wäre dieses Wissen ‚fertig‘. Das heisst, zum Service der AVENUE gehört der Einblick darin, wie dieses Wissen diskursiv entsteht.
Sie sind also alle sehr herzlich eingeladen, Ihre Kritik und Ihre Kommentare direkt am Text anzubringen. Das können Sie übrigens auch Abschnitt für Abschnitt. Und hier haben Sie es mit einem Autor zu tun, der sich mit Ihnen und jedem Satz und Gedanken auseinandersetzt. Das wissen wir aus der Redaktion auch sehr zu schätzen.
Liebe Frau Virchow! Im Grunde genommen wollte ich mich hier überhaupt nicht melden, sondern sozusagen als stiller Genießer Teilhaber an einem Lesevergnügen sein, aber die obige Kritik verlangt wohl doch nach einem Wort. Sie haben recht, dass hier vermutlich der falsche Ton angeschlagen wurde, aber in der Sache liegen die Kritiker meines Erachtens nicht daneben. Was soll es z.B. bedeuten, wenn Herr Däumer in der Antwort auf einen Kommentar von einer „oral konnotierten gemeinschaftsstiftenden Funktion“ spricht? Also, ehrlich gesagt, ich kann damit nichts anfangen. Es ließen sich in der Tat noch beliebig weitere Beispiele hinzufügen. Ich meine, hier wird ein Jargon gepflegt, der eher vom Lesen abschreckt als dazu hinführt. Bedenken Sie, dass hier neue Tore geöffnet und nicht bestehende verbreitert werden sollen. Wenn ich mich wirklich so sehr in die Materie vertiefen will, kann ich mir ein Fachbuch kaufen. Hier will ich inspiriert werden und neue Entdeckungen machen, aber keine Worträtsel lösen.
Liebe Frau Schubert,
haben Sie lieben Dank für Ihren Einwand! Wir geben uns viel Mühe und es ist wirklich unser Anliegen, die Artikel als solche möglichst klar und arm an Fachsprache zu halten. Aber in den Kommentarspalten kann jede Diskussion stattfinden, solange sie höflich und sachlich geführt wird. Auch nutzen wir die Kommentare und Kritik für die gedruckte Ausgabe, teils werden sie (redigiert) mit abgedruckt; also wir sind total glücklich über das hier auch grosszügig geteilte Fachwissen.
Gleichzeitig ist Ihr Hinweis sehr wichtig für uns, weil er uns einen ganz neuen Blick auf unsere Kommentarspalten ermöglicht. Wir dachten, sie bieten auch Nichtwissenschaftler*innen die Möglichkeit, mit Wissenschaftler*innen ins Gespräch zu kommen, ihnen auf den Zahn zu fühlen und auch ein bisschen bei der Arbeit zuzuschauen. Wir haben so gehofft, dass gelegentlich eben Ihre Frage auftaucht: ‚Was heisst das überhaupt?‘
Also es ist wirklich unsere Absicht, ein Gespräch hinzubekommen, in dem sich wirklich alle willkommen fühlen – weil alle willkommen sind. Wir werden daran weiter darüber nachdenken. Und sind froh über Vorschläge!
Auf unserer Seite gibt es bei der Moderation eines Gesprächs ein kleines Problem insofern, als die Avenue eigentlich nur aus zwei Menschen besteht. Und wir stecken gerade über beider Ohren in der Endredaktion des hier entstehenden Hefts.
Mit herzlichen Grüssen und liebem Dank, Corinna Virchow
Leider glaube ich nicht, dass das auf diese Weise gelingt .…. weil die Gräben dazwischen viel zu tief sind. Ich könnte mir durchaus einen essayistischen Schreibstil vorstellen, wie er im Feuilleton großer Tages- oder Wochenzeitungen gepflegt wird. Die dortigen Artikel lassen sich flüssig lesen, gehen auch unter die Oberfläche, aber entfernen sich nie soweit vom Leser, dass sie ihn verlieren. Manieristische Stilübungen haben darin keinen Platz, auch keine übertriebenen theoretischen Anstrengungen. Der Wahlspruch lautet delectare et prodesse, also erfreuen und nutzen, wie er z.B. in der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts verwendet wurde. Wenn ich das in einem Text nicht finde, lasse ich ganz schnell die Finger davon. Dann noch mit dem Autor in eine zähflüssige Diskussion einzutreten, die Zeit und Geduld koste, käme für mich nicht in Frage.
Ich glaube, wir haben hier das Beispiel für einen Wissenschaftsbetrieb vor uns, der leerläuft, weil seine Mitglieder sich nur noch auf sich selbst beziehen. Da sie in ihrem eigenen System gefangen sind, wie eine Fliege im Netz der Spinne, muss alles für sie befremdlich wirken, was ihrem Denken und ihrem sprachlichen Code nicht entspricht. Für Außenstehende wie mich ist das in der Tat eher skurril, mich darauf einlassen zu müssen, was jedoch nicht bedeutet, dass ich keine Freude an einem intellektuellen Spiel hätte – nur eben nicht an diesem Spiel, dessen Regeln für mich nicht einsehbar sind. Man sollte sich doch einmal fragen, warum die Geisteswissenschaften im öffentlichen Leben keine Rolle mehr spielen, warum Intellektuelle völlig aus der Mode gekommen sind und stattdessen zweitklassige Schriftsteller vom Medienhype hochgejubelt werden. Vielleicht bleibt den derart Verlassenen wirklich nur der Rückzug in den Elfenbeinturm, wo sie sich mit sich beschäftigen und unter sich bleiben können. So erklärt sich wohl auch, dass das Bildungsbürgertum sich vorwiegend selbstbespiegelt, um davon abzulenken, dass es ständig an gesellschaftlicher Bedeutung verliert .…. immerhin bleibt ja noch der schöne Schein.
Liebe Frau Schubert, lieber Herr Bergmann,
herzlichen Dank für die Ernsthaftigkeit und auch die Hilfsbereitschaft, mit der Sie hier diskutieren.
Lieber Herr Bergmann, leider stimmen wir mit Ihrem letzten Kommentar in fast allem überein. Wir fragen uns auch, warum die Geisteswissenschaften im öffentlichen Leben so unsichtbar sind – obwohl die Journalistinnen, PR-Leute, Lehrer oder Literatinnen eben gerade so ein Fach studiert haben. Wir vermissen ebenfalls eine öffentliche Intellektualität und haben unsererseits die Nase voll von den wenigen und ewig gleichen alten Männern (sorry). Und wir wollen auch keinen Jargon und wir sind dezidiert gegen eine Schutzsprache, die ihren Gegenstand verdeckt. Wir kämpfen täglich gegen Wissenschaftler, die nicht bereit sind, ihre Gedanken zu Ende zu denken oder Sätze unter einer halben Seitenlänge zu produzieren und denen egal ist, für wen sie schreiben.
Nur: Den Wissenschaftler*innen, denen Sie hier begegnen, ist es allen ein Anliegen, das Wissen aus der Welt mit dem Wissen aus dem Elfenbeinturm in Verbindung zu bringen. Für den Matthias Däumer können Sie mir die Hand abhacken. Wir erleben krass beschäftigte Wissenschaftler, die sich für einen Kommentar zwei Stunden hinsetzen.
Aber wir begegnen auch ziemlich vielen Wissenschaftlern, die sich grundsätzlich zu schade sind, in einem populärwissenschaftlichen Projekt überhaupt (unter ihrem Namen) einen Kommentar zu hinterlassen.
Zur Sprache, liebe Frau Schubert: Vom Prinzip her funktioniert die Avenue ähnlich Spektrum der Wissenschaft für die Naturwissenschaften; Spezialisten schreiben über ihr Fachgebiet. Diese Leute hier sind genauso spezialisiert sind wie ein Computernerd oder eine durchgeknallte Physikerin. Und ja, sie sprechen eine oft verdichtete Fachsprache, wie andere Wissenschaftlerinnen auch. Wenn ich Spektrum lese, verstehe ich auch nicht auf Anhieb, wie ein schwarzes Loch funktioniert. Und manchmal versuchen Artikel auch zweierlei, nämlich einen Gegenstand mit einer Theorie und eine Theorie am Gegenstand zu erklären. Das ist manchmal viel. Einige Leserinnen lieben das, andere nicht. Und wir versuchen in der Redaktion unser bestes.
Und ja, natürlich finden wir das Feuilleton auch toll. Aber suchen Sie mal eine Edelfeder, die bereit ist, echte Erkenntnisse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften wirklich sauber aufzuarbeiten. In der Schweiz ist gerade der letzte festangestellte Aufrechte in dieser Sache aus der einzigen grossen Zeitung dieses Landes geflogen.
Also: Vielen Dank Ihnen für Ihre engagierte Diskussion. Es würde uns sehr freuen, wenn Sie uns in unserem Bemühen mit Ihrer Kritik gelegentlich unterstützen; auf jeden Fall hilft uns schon der Gedanke an Sie bei der Redaktion.
Wir gehen übermorgen mit diesem Heft in den Druck. Für die Einarbeitung dieser GrundsatzDiskussion in die Druckfassung ist es leider zu spät. Aber wir überlegen uns, wie wir sie an die Leserinnen des Hefts bringen. Vielleicht in einem Extra-Format im nächsten Heft.
Mit freundlichen Grüssen und liebem Dank
Corinna Virchow
PS: Und wenn Sir mir über e‑mail corinna.virchow@avenue.jetzt Ihre Adressen schreiben, dann freue ich mich sehr, Ihnen diese hier entstehende Ausgabe gleich druckfrisch zuzuschicken.