Er hat es wie­der getan: Kevin Fei­ge gelingt mit Doc­tor Stran­ge in the Mul­ti­ver­se of Mad­ness ein wei­te­rer glo­ba­ler Box Office Erfolg und droht, mit Thor: Love and Thun­der das­sel­be zu tun. Fei­ge gilt als der erfolg­reichs­te Film­pro­du­zent der Welt und orches­triert seit 2019 das Mar­vel Cine­ma­tic Uni­ver­se (MCU) – die erfolg­reichs­te Film­rei­he der Kino­ge­schich­te. Über­ra­schen­der als der Tri­umph des MCUs aber ist das Nase­rümp­fen renom­mier­ter Film­jour­na­le und ‑publizist*innen. Die Fil­me sei­en ein­falls­los, da stets die­sel­ben Cha­rak­te­re vor­kä­men, sie sei­en über­la­den, zu kom­pli­ziert und wür­den das, was Block­bus­ter sehens­wert mache, ver­ra­ten – und über­haupt: Das sei doch kei­ne Kunst!

Die Mar­vel-Fil­me sind eine neue Kunst im Zeit­al­ter der Medienkonvergenz.

Die­se Stim­men haben etwas nicht ver­stan­den. Sie ver­ken­nen das künst­le­ri­sche und ästhe­ti­sche Poten­zi­al die­ser Fil­me genau­so wie das Talent der Filmemacher*innen und die Intel­li­genz des Film­pu­bli­kums. Der Erfolg der Fil­me ver­dankt sich nicht irgend­wel­chen Mar­ke­ting­stra­te­gien, die die ver­meint­lich ver­lo­re­ne Gene­ra­ti­on Z zum Gang ins Kino mani­pu­lie­ren. Nein, er geht auf die bemer­kens­wer­te Leis­tung zurück, den Kunst­be­griff neu zu den­ken: Die Mar­vel-Fil­me sind eine neue Kunst im Zeit­al­ter der Medi­en­kon­ver­genz. Kunst also, die auf die Wis­sens­kul­tu­ren des Inter­nets und auf diver­se neue media­le Platt­for­men reagiert. Sie nutzt die­se, um die Kunst­er­fah­rung sowohl zu inten­si­vie­ren als auch zu diver­si­fi­zie­ren. Und obwohl die Geld­ma­schi­ne Kevin Fei­ge kaum ein huma­ni­tä­res Pro­gramm ver­folgt, so steckt den­noch ein sol­ches im Kern sei­ner Pro­duk­tio­nen. Man braucht es nur zu erkennen.

Hulk, Thor, Iron Man, Doc­tor Stran­ge, Spi­der-Man – die­se und noch eini­ge wei­te­re Superheld*innen (und ‑schurk*innen) begrün­de­ten den Erfolg des Comic Ver­lags Mar­vel in den 1960er Jah­ren. Zusam­men mit Ste­ve Dit­ko und Jack Kir­by ersann der Her­aus­ge­ber Stan Lee Figu­ren mit mensch­li­chen und all­zu mensch­li­chen Zügen. Sie mar­kier­ten einen Gegen­satz zu den über­le­bens­gro­ßen Arche­ty­pen von DC Comics wie Super­man, Won­der Women und Bat­man und spra­chen ein jün­ge­res Publi­kum an.

Die Comics wur­den viel­fach ver­filmt. Doch erst 2008 ent­stand das Mar­vel Cine­ma­tic Uni­ver­se mit dem Ziel, die Mar­vel-Figu­ren in einem geschlos­se­nen Erzähl­uni­ver­sum zusammenzuführen.

Stan Lee, der 2018 ver­starb, hat­te in etli­chen Mar­vel-Fil­men einen Cameo-Auf­tritt, hier in: Doc­tor Stran­ge (2016).

Trans­me­dia­les Storytelling

Tat­säch­lich hat kaum jemals eine Film-Fran­chise der­ma­ßen viel von sei­nem Publi­kum abver­langt. Die MCU-Produzent*innen haben per­fek­tio­niert, was 1999 mit der Matrix-Serie begann: trans­me­dia­les Sto­rytel­ling. So nennt der Medi­en­wis­sen­schaft­ler Hen­ry Jenk­ins (2006) die­sen Kunst­kniff. Mit ihm las­sen sich so kom­ple­xe Geschich­ten erzäh­len, dass sie weder in einem Medi­um allein erfasst noch von einer Per­son allein ver­stan­den wer­den kön­nen. Eine trans­me­dia­le Erzäh­lung ent­wi­ckelt sich par­al­lel auf diver­sen Kanä­len und ergießt sich über mul­ti­ple media­len Platt­for­men – Games, Comics, Man­gas, Ani­mes, Seri­en, Fil­me, Shorts. Alle tra­gen sie einen inhalt­lich sowie ästhe­tisch distink­ten und essen­zi­el­len Teil zur Gesamt­sto­ry bei. Die MCU-Skrip­te sind nach die­sem Duk­tus gestal­tet: voll­ge­packt mit Geheim­tü­ren, eas­ter eggs, Film­zi­ta­ten und Ver­wei­se auf vor­her­ge­hen­de oder wei­ter­füh­ren­de Erzählstränge.

Wenn man sei­ne Haus­auf­ga­ben nicht gemacht hat, kann das einen durch­aus kon­fus machen. Wer aber Ver­gnü­gen an Viel­schich­tig­keit fin­det, ist hier am rich­ti­gen Ort: Je mehr die Zuschauer*innen in die Ent­schlüs­se­lung die­ses Uni­ver­sums inves­tie­ren, sich dar­über aus­tau­schen, spe­ku­lie­ren und fabu­lie­ren, des­to reich­hal­ti­ger erfah­ren sie die Sto­ry. Die Enga­gier­tes­ten pflü­cken die diver­sen Plot­li­nes aus ihren unter­schied­li­chen media­len Gefä­ßen her­aus, ord­nen, glie­dern und kom­men­tie­ren sie, um sie dann in kom­pak­ten You­Tube Vide­os, Blogs oder Foren mit den ande­ren Fans zu tei­len. Die­se kon­sul­tie­ren die Bei­trä­ge, bevor sie den neus­ten Film anschau­en gehen – und upda­ten sie, sobald sie das Kino ver­las­sen haben.

Screenshot des YouTube Beitrags "Film Theory: You're WRONG About the Multiverse of Madness! (Doctor Strange in the Multiverse of Madness)” von <em>The Film Theorists</em>, gepostet am 15.01.2022 und mehr als 6000 Mal kommentiert.
Screen­shot des You­Tube Bei­trags „Film Theo­ry: You’­re WRONG About the Mul­ti­ver­se of Mad­ness! (Doc­tor Stran­ge in the Mul­ti­ver­se of Mad­ness)” von The Film Theo­rists, gepos­tet am 15.01.2022 und knapp 7’000 Mal kommentiert.

So ent­steht eine neue Erzähl­form, die mit­hil­fe media­ler Viel­falt nar­ra­ti­ve Kom­ple­xi­tät kre­iert und sich von tra­di­tio­nel­len Struk­tu­ren mit einem Anfang, einer Mit­te und einem Ende, ver­ab­schie­det. Die Zei­ten sind vor­bei, in denen Fil­me so erzählt wur­den, dass auch jene noch mit­kom­men, die zu spät ins Kino plat­zen. Das neue Sto­rytel­ling folgt dem Mot­to «eyes on the road!». Wer das ers­te Mal einen MCU Film sieht, begibt sich auf eine aben­teu­er­li­che Rei­se ins Unbe­kann­te, die viel­leicht erst im Nach­hin­ein Sinn ergibt  –  wenn Freund*innen beim gemein­sa­men Bier die ver­pass­ten Anspie­lun­gen, Zita­te und Hin­wei­se erklären.

Das Geni­us die­ser Erzäh­lun­gen ent­fal­tet sich also im Aus­tausch und der kol­lek­ti­ven Erfah­rung der Fil­me. Das steht im Kon­trast zum euro­päi­schen Kunst­film: Der rich­tet sich exklu­siv an (mehr oder weni­ger) hoch gebil­de­te Indi­vi­du­en und basiert auf einer soli­tä­ren Denk­wei­se „Ich urtei­le, also bin ich“. Da geht es weni­ger um den Genuss, eher um die Kri­tik des Werks.

Das ist Kunst im Zeit­al­ter kol­lek­ti­ver Intelligenz.

Das Mar­vel Fran­chise impli­ziert etwas ganz anders – näm­lich „ler­nen wir uns ken­nen, um mit­ein­an­der zu den­ken“. Damit wird ein neu­er Kunst­be­griff geschaf­fen. Einer, der das kol­la­bo­ra­ti­ve und künst­le­ri­sche Poten­zi­al die­ser Wer­ke erkennt, anstatt es als Mas­sen­wa­re zu denun­zie­ren. Einer, der die Rol­le des Publi­kums im Werk ernst nimmt. Ein Kunst­be­griff, der den Mög­lich­kei­ten des Inter­nets und den diver­sen Wis­sens­kul­tu­ren groß­zü­gig Platz ein­räumt. Das ist Kunst im Zeit­al­ter kol­lek­ti­ver Intel­li­genz (vgl. Lévy 1997).

Kol­la­bo­ra­ti­ve Autorschaft

Hen­ry Jenk­ins stützt die­se The­se. Kunst, so meint er, die unse­rer Zeit gerecht wer­den will, beru­he auf kol­la­bo­ra­ti­ver Autor­schaft. Ganz so wie die Geschich­ten, die im MCU erzählt wer­den. Sie wer­den von Expert*innen für unter­schied­li­che Medi­en und für die unter­schied­lichs­ten Platt­for­men co-kre­iert: Ein Game Desi­gner co-designt mit einer Autorin eine Sto­ry­line, die Anime-Künstler*innen wei­ter­ent­wi­ckeln. In die­ser kol­la­bo­ra­ti­ven Autor­schaft geht es um die Aner­ken­nung der Exper­ti­se des ande­ren – und um das Zusam­men­wir­ken der unter­schied­li­chen Wissensgebiete.

In die­ser kol­la­bo­ra­ti­ven Autor­schaft geht es um die Aner­ken­nung der Exper­ti­se des anderen.

Marvel setzt auf Teamarbeit.
Mar­vel setzt auf Team­ar­beit. Und ist damit erfolg­rei­cher als DCs solo Helden.

Auch die Fans wir­ken mit. Deren Lie­be für einen Cha­rak­ter wie Miles Mora­les, der Peter Par­ker als Spi­der-Man ablöst, führt etwa zur Erwei­te­rung von Miles‘ Sto­ry­line. Dane­ben ent­wi­ckelt Mar­vel expe­ri­men­tel­le For­ma­te, die mit der Fan­ba­se künf­ti­ge Erzähl­stof­fe tes­ten. Die ani­mier­te Serie What if…? etwa erprobt die Akzep­tanz alter­na­ti­ver Erzähl­ver­läu­fe im soge­nann­ten Mul­ti­ver­sum. Die beson­ders belieb­ten Erzähl­strän­ge fin­den dann Ein­gang in neu pro­du­zier­te Blockbuster.

Kol­lek­tiv kreativ

Die pro­fes­sio­nel­le Pro­duk­ti­on eines Wer­kes steht damit auf der­sel­ben Ebe­ne wie die Dis­se­mi­na­ti­on, Rezep­ti­on und Ver­tei­lung des Werks. Im heu­ti­gen Zeit­al­ter ist das Kom­men­tie­ren, Ergän­zen, Bear­bei­ten und Tei­len eines künst­le­ri­schen Werks genau­so Teil des krea­ti­ven Pro­zes­ses wie der eigent­li­che Pro­duk­ti­ons­ab­lauf. Die Fil­me­ma­che­rin, Autorin und Theo­re­ti­ke­rin Hito Stey­erl nennt das „crowd creativity“.

Die­se Krea­ti­vi­tät hebt die Gren­zen zwi­schen Autor­schaft und Rezep­ti­on, Pro­duk­ti­on, Publi­kum und Inter­pre­ta­ti­on auf. Die­se Ele­men­te bil­den einen Kreis­lauf um das Werk her­um. Die­ses ver­bin­det kul­tu­rell diver­se Gemein­schaf­ten und ani­miert sie, das Kunst­werk zu ent­zif­fern, zu inter­pre­tie­ren und wei­ter aus­zu­ar­bei­ten. Kunst im Zeit­al­ter kol­lek­ti­ver Intel­li­genz ist also eine zir­ku­lä­re Bewe­gung des Ver­ste­hens, Spe­ku­lie­rens und Ergänzens.

Es ist klar, die Produzent*innen des MCU ver­fol­gen pri­mär öko­no­mi­sche Inter­es­sen  – und kei­ne Revol­te gegen einen ver­al­te­ten, exklu­si­ven Kunst­be­griff. Das trans­me­dia­le Sto­rytel­ling wird hier bewusst als Stra­te­gie genutzt, um mög­lichst vie­le, mög­lichst diver­se Per­so­nen­grup­pen für das­sel­be Pro­dukt zu begeis­tern und zum Kauf zu moti­vie­ren. Dazu wird das vir­tu­el­le Wis­sens­uni­ver­sum, das im und wegen dem Inter­net exis­tiert, mobi­li­siert. Das Netz wird so zu einem Raum der Inter­ak­ti­on zwi­schen Wis­sen­den, die sich zu intel­li­gen­ten Kol­lek­ti­ven zusammenschließen.

Und doch ent­wi­ckeln die Erzähler*innen des MCU einen neu­en Kunst­be­griff. Wer den Superheld*innen-Filmen wei­ter­hin ihren künst­le­ri­schen Wert abspre­chen will, der hängt an einer eli­tä­ren Idee von Kunst fest – und bleibt so aus­ge­schlos­sen vom Genuss, den die­se Fil­me ihrem Publi­kum bieten.

Lite­ra­tur

Jenk­ins, Hen­ry. 2006. Con­ver­gence Cul­tu­re. Whe­re Old and New Media Col­l­i­de. New York.

Lévy, Pierre. 1997. Die kol­lek­ti­ve Intel­li­genz. Für eine Anthro­po­lo­gie des Cyber­space. Mann­heim.

Stey­erl, Hito. 2013. „Too Much World: Is The Inter­net Dead?“ e‑Flux Jour­nal #49, Novem­ber.

Bild­nach­weis

Lee­re Kino­ses­sel. Foto: Tha­na­sak Boon­cho­ong, Alamy.

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