Das jähr­li­che Kunst­fes­ti­val stei­ri­scher herbst, gegrün­det 1968, war gedacht als jung­bür­ger­li­che Revol­te gegen das Gra­zer Spieß­bür­ger­tum und sei­ne muf­fi­ge Hei­mat­kunst. Da wur­de viel gepol­tert, von Wolf­gang Bau­ers Magic After­noon (1968) bis Wer­ner Schwabs Més­al­li­ance, aber wir ficken uns präch­tig (1992).

Die Kunst gab sich exis­ten­zia­lis­tisch (alles Schnaps und Dro­gen!) oder poli­tisch (alles faschis­tisch, von links nach rechts und über­haupt). Eine gro­ße Ver­zweif­lung ging um, ein schal­len­des Geläch­ter über den Men­schen­wurm. Man war Avantgarde!

Man war Avantgarde!

Auf einen Blick 

Anlass „Ich ken­ne kei­nen öffent­li­chen Platz, der es nicht ver­dien­te, gestal­tet zu werden.“ Abgren­zung gegen die post­mo­der­ne Pseudo-Avantgarde Ziel für eine Welt­be­hei­ma­tung des Menschen Mit­tel mit allen Medi­en der Kunst

Von 1990 bis 1995 war ich the­men­ge­ben­der Bei­rat im stei­ri­schen herbst. Als Quer­ein­stei­ger in die öffent­lich geför­der­te Kunst­sze­ne mach­te ich gleich auf der ers­ten Pres­se­kon­fe­renz mei­nen ers­ten kapi­ta­len Feh­ler. Ich sag­te, was ich dach­te. Man sol­le, sag­te ich, mit dem Avant­gar­de­ge­re­de und einem dümm­li­chen Pro­vo­ka­ti­ons­mo­dell auf­hö­ren, denn die­ses sei bloß noch his­to­ri­sches Zitat. Statt­des­sen möge man die ein­mal­jähr­li­che Fes­ti­vi­tät nut­zen,  um Zeit­zeu­gen­schaft zu demons­trie­ren und neue kul­tu­rel­le Ver­hal­tens­for­men zu erkun­den. Seit­her schwo­ren sich die Medi­en auf die For­mel ein, der stei­ri­sche herbst sei in die Jah­re gekom­men. Das war gar nicht gut.

In der Fol­ge nahm man uns sogar übel, dass wir den Begriff des Kunst­no­ma­den ver­wen­de­ten, indem wir eine Noma­do­lo­gie der Neun­zi­ger (Haberl und Stras­ser 1995) pro­kla­mier­ten. In einer Kul­tur­sen­dung des Öster­rei­chi­schen Rund­funks wur­de ich gefragt, war­um ich das schi­cke Wort „Noma­de“ statt des schlich­ten Begriffs „Zigeu­ner“ – damals noch kein Reiz­wort – gebrauch­te. Dabei stand hin­ter dem Kon­zept des Noma­di­schen in der Kunst eine Dia­gno­se, von der ich mei­ne, dass sie auch heu­te noch von Belang ist, ja heu­te mehr denn je.

Plakat zum <em>steirischen herbst</em> (1972). Foto: Fotogruppe Puchwerke mit Gruppe pool (H. G. Haberl, R. Kriesche, K. Neubacher)
Pla­kat zum stei­ri­schen herbst (1972). Foto: Foto­grup­pe Puch­wer­ke mit Grup­pe pool (H. G. Haberl, R. Krie­sche, K. Neubacher)

Die klas­si­sche Avant­gar­de hat­te sich eine Aura zunut­ze gemacht, die aus dem ursprüng­lich reli­giö­sen Bereich aus­ge­wan­dert war. Sie bewirk­te eine Sakra­li­sie­rung der Kunst gera­de dort, wo dem Ästhe­ti­schen der Lauf­pass gege­ben wur­de. Selbst einem Pla­kat, auf dem sich einer die Hosen rauf­zog – damals ver­schon­te man das Stra­ßen­pu­bli­kum noch mit dem nack­ten Hin­tern –, begeg­ne­te der Kul­tur­mensch nicht ohne Berührungsscheu.

Wozu noch Kunst?

Frei­lich hat­te der aggres­si­ve Umgang der Spät­avant­gar­dis­ten mit den tra­dier­ten bür­ger­li­chen Wer­ten, mit dem Wah­ren, Guten und Schö­nen, irgend­wann doch den Ver­lust der Aura zur Fol­ge. Wenn es nichts Hei­li­ges mehr gab: Wozu noch Kunst? Und die Ant­wor­ten dar­auf fie­len, so die Dia­gno­se damals, noma­di­sie­rend aus. Die Künst­ler ver­lie­ßen das Kunst­ter­rain, um Kunst zu machen:

  1. Es gab die „enga­gier­ten“ Künstler*innen, die ihre Ener­gie dar­auf ver­wen­de­ten, poli­ti­sche „State­ments“ zu set­zen oder gleich Sozi­al­pro­jek­te zu initiieren.
  2. Es gab die Metakünstler*innen, die Kunst mach­ten, indem ihre Pro­jek­te Kom­men­ta­re zur Kunst waren, oft rät­sel­haft, stets aber erfüllt von dem para­do­xen Bedürf­nis, die Lee­re und Belang­lo­sig­keit der Kunst durch „Refle­xi­on“ zu ersetzen.
  3. Schließ­lich gab es noch eine Frak­ti­on, die reak­tio­när agier­te. Denn sie woll­te, mit einem Mix aus Hyper­mo­der­ne und Archa­ik, der Kunst ihre Aura zurück­er­obern. Botho Strauß bei­spiel­wei­se ent­deck­te die christ­li­che Gno­sis ver­mischt mit aller­lei anti­ken Chi­mä­ren und post­mo­der­nen Nacht­mah­ren, wäh­rend Her­mann Nit­sch in Unmen­gen von Blut und Gedärm, streng cho­reo­gra­fiert, nach dem Abso­lu­ten suchte.

Das alles ist lan­ge her. Mitt­ler­wei­le wur­de, in fer­ner Anknüp­fung an Andy War­hols Kun­st­au­ra-Imi­tat aus Socie­ty, Gla­mour & Cash viel Iro­nie in den Vor­der­grund gerückt. Nach Dami­en Hirsts dia­mant­be­pack­tem Pla­tin­ab­guss eines Toten­schä­dels – das Objekt wur­de für 50 Mil­lio­nen Pfund zum Ver­kauf ange­bo­ten –, prä­sen­tiert nun der Öster­rei­cher Erwin Wurm hei­ter ver­blüf­fen­de „Eye­cat­cher“, die von den inter­na­tio­na­len Gale­ris­ten in hoch­be­zahl­te Kunst­ob­jek­te trans­for­miert werden.

Erwin Wurm. 2001. <em>Fat car</em>. Foto: rocor, Flickr
Erwin Wurm. 2001. Fat car. Foto: rocor, Flickr

Wie also soll­te sich ein mit­tel­städ­ti­sches Fes­ti­val wie der stei­ri­sche herbst ange­sichts der Groß­pro­duk­tio­nen in den Metro­po­len und dem Gewim­mel klei­ne­rer Events zur zeit­ge­nös­si­schen Kunst posi­tio­nie­ren? Statt den gro­ßen Kunst­ma­schi­nen hoff­nungs­los schlech­te Kon­kur­renz zu machen, ein quir­li­ger, schlau­er, jun­ger Mini­ma­lis­mus? Viel­leicht. Vie­le Grup­pen, vie­le Mit­spie­ler, ein Floh­zir­kus an Ambi­tio­nen, die – so die ins­ge­hei­me Hoff­nung vie­ler Protagonist*innen – eines Tages im Muse­ums­dom oder der Las-Vegas-Kir­che enden würden.

Nach der Iro­nie: die Umwelt?

Doch alles hat sei­ne Zeit, wie der Pre­di­ger sagt. Wenn ich an die Zukunft des stei­ri­schen herbs­tes den­ke, so den­ke ich dar­an, dass das „in die Jah­re gekom­me­ne Fes­ti­val“ eben­falls sei­ne Zeit hat­te, nun aber auch noch eine hat. Und was könn­te da dring­li­cher sein, als gegen die Ver­ödung und Zer­stö­rung der Umwelt alle Medi­en der Kunst zu mobi­li­sie­ren, um unse­re Lebens­räu­me wie­der leb- und erleb­bar zu gestal­ten? (Doch Ach­tung: „leb- und erleb­bar …“ – das ist auch eine Phra­se der Hochglanzkunstkataloge).

Und was könn­te da dring­li­cher sein, als gegen die Ver­ödung und Zer­stö­rung der Umwelt alle Medi­en der Kunst zu mobilisieren?

Statt monu­men­tal oder mini­ma­lis­tisch, dekon­struk­tiv, iro­nisch oder pla­ka­tiv­po­li­tisch, müss­te die öffent­li­che Kunst ernst­haft öko­lo­gisch zu den­ken begin­nen. Ich ken­ne kei­nen öffent­li­chen Platz, der es nicht ver­dien­te, gestal­tet zu wer­den, sodass die Men­schen dort ger­ne ver­wei­len wür­den, statt mit Denk­mä­lern, moder­nen Plas­ti­ken oder archi­tek­to­ni­schen Lecker­bis­sen sinn­lich zugleich über- und unter­for­dert zu werden.

Hartmut Skerbisch. 1992. Lichtschwert. Im Auftrag des steirischen herbsts. Foto: Norbert Eder, Flickr
Hart­mut Sker­bisch. 1992. Licht­schwert. Im Auf­trag des stei­ri­schen herbsts. Foto: Nor­bert Eder, Flickr

Es mag frem­den­ver­kehrs­tech­nisch als gelun­gen erschei­nen, wenn in unse­rem Stadt­fluss, der Mur, eine begeh­ba­re „Murin­sel“ schwimmt; und nichts ist dage­gen ein­zu­wen­den, dass das „Licht­schwert“, lei­der licht­los, vor der Gra­zer Oper seit sei­ner Errich­tung 1992 ste­hen gelas­sen wur­de. Noch ein Wahr­zei­chen mehr in der Kunstprovinz.

Wich­ti­ger aber wäre wohl, wenn Graz, die offi­zi­ell beglau­big­te City of Design und Men­schen­rechts­stadt, die ihre Bettler*innen „ver­wal­tet“, sich auf­grund der Inter­ven­tio­nen des stei­ri­schen herbs­tes in einen Ort ver­wan­del­te, des­sen Kunst dar­in bestün­de, sozia­le und öko­lo­gi­sche Wohn­lich­keit zu schaffen.

Statt spie­ßi­ger Hei­mat- und auf­ge­motz­ter Muse­ums­kunst mehr noma­di­sie­ren­de Behei­ma­tungs­kunst des Men­schen – und sei es des Men­schen aus der Pro­vinz, ja die­ses Men­schen ganz beson­ders! Auch das ist zunächst nur ein Slo­gan, aber viel­leicht einer, der sich mit Leben fül­len lässt, statt mit Proklamationen.

Lite­ra­tur

Haberl, Horst Ger­hard; Stras­ser, Peter [Hrsg.]. 1995. Noma­do­lo­gie der Neun­zi­ger. stei­ri­scher herbst 1990–1995. Ost­fil­dern.

Hin­weis

Die vor­lie­gen­de Text­fas­sung beruht auf einem Arti­kel, der 2017 in der öster­rei­chi­schen Klei­nen Zei­tung erschien.

Bild­nach­weis

Grü­ne, alte Sit­ze. Foto: karen­fo­ley­pho­to­gra­phy, Alamy.

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Peter Stras­ser

Prof. Dr. Peter Stras­ser lehr­te an der Uni­ver­si­tät Graz Phi­lo­so­phie. Von 1990 bis 1995 war er Bei­rat des Kunst­fes­ti­vals stei­ri­scher herbst, wofür er die Noma­do­lo­gie der Neun­zi­ger kon­zi­pier­te. Heu­te forscht er zu Fra­gen der theo­re­ti­schen Kri­mi­no­lo­gie. Er ver­fass­te mehr als 20 Bücher zu phi­lo­so­phi­schen und kunst­theo­re­ti­schen The­men. 2014 wur­de Stras­ser mit dem Öster­rei­chi­schen Staats­preis für Kul­tur­pu­bli­zis­tik geehrt.

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