Niemand kennt die Wirkungen der Kunst besser als ihre Kritiker*innen. Je verderblicher sie den Einfluss auf die Jugend und die Gesellschaft überhaupt ausmalen, desto markanter tritt ihr Kunstverständnis zu Tage. Die Erwägungen beruhen dabei oft auf Horaz’ Lehre – respektive deren Umkehrung: Statt zu nützen oder zu unterhalten, macht sich die Kunst verdächtig, zu unterhalten und zu schaden. Delectare et nocere – dieses Muster lässt sich beim Verriss der Historia von D. Johann Fausten um 1600 genauso wie bei der aktuellen Kritik der HBO-Serie Euphoria beobachten.
Historia
1587. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erreicht die Hexenverfolgung einen Höhepunkt. Just in diesem Jahr erscheint in Frankfurt die anonyme Historia von D. Johann Fausten. Sie wird sich als Best- und Longseller bis ins 18. Jahrhundert erweisen. Der Prosaroman erzählt die Geschichte des Magiers und promovierten Theologen Johann Faustus, der mit dem Teufel einen Pakt eingeht. Dieser endet nach 24 Jahren mit Faustus’ gewaltsamen Tod. Bis dahin aber darf er zahlreiche Abenteuer erleben: Mit seinem Dämon Mephostophiles fliegt er nachts durch die Luft und zaubert im Winter einen paradiesischen Garten herbei. Er beschwört für eine Gruppe Studenten die schöne Helena und unterhält Fürsten mit nekromantischen Kunststücken.
„ein schrecklich Exempel deß Teuffelischen Betrugs“
Die Historia, die bereits im Titel Wahrhaftigkeit beansprucht, verfolgt ein moralisches Ziel: Sie soll als „ein schrecklich Exempel deß Teuffelischen Betrugs“ dienen, „allen Christen zur Warnung“ (Historia 1587: Vorrede).
Die frühe Neuzeit erlebt dämonische Mächte, Zauberer und Hexen als weitaus bedrohlicher als das angeblich finstere Mittelalter. Allein im deutschsprachigen Raum ermorden weltliche und kirchliche Obrigkeiten zwischen ca. 1550 und 1650 über 25‘000 vermeintliche Hexen und Zauberer. Papst Sixtus V. erlässt 1585 sogar eine Bulle, die den Besitz von Büchern mit magischen und astrologischen Themen unter Strafe stellt. Angesichts dieser Bedrohungslage ist der Erfolg der Historia erstaunlich: Was ermutigt die Leute, das Buch zu kaufen, zu besitzen und zu lesen? Rückblickend war es die ambivalente Mischung aus Faszination und Abscheu, Identifikation und Ablehnung, echtem Dämonenglauben und Genuss am Verwerflichen, welche den Roman zu einem unwiderstehlichen Leseerlebnis machten.
Mit dem Erfolg kam die Kritik. Besonders stark echauffierte sich der Jesuit Jeremias Drexel (1581–1638) über den Fausten und andere populäre Prosawerke: Indem das Publikum solche Bücher lese, entscheide es sich gegen eine christlich schickliche Lektüre und richte seine ganze Aufmerksamkeit ungebührlich auf „den Frantzoͤsischen Amadiß … vnd Doctor Fausten.“ (Drexel 1639: 49). Die beschriebenen Ausschweifungen – etwa in Form sexueller Promiskuität – führten laut Drexel zum Sittenverfall beim Publikum. Zudem könnte der Text zur Nachahmung reizen statt zu einer gottesfürchtigen Lebensführung anleiten. Besonders verdächtig erscheint Drexel, dem Hofprediger Maximilians I. und glühenden Verfechter der Hexenverfolgungen, die literarische Qualität dieser Werke. Die Irrlehren würden in einem goldenen Becher kredenzt, in dem jedoch eine fette Spinne schwimme:
„die gezierte bluͤende Wolredenheit …, die kurtzweilige[n] Fabeln vn laͤcherliche[n] geschichten“ glichen einem „guldine[n] Credentzbecher“, in dem allerdings „ein faiste bauchete Spinn … umbschwimme.“ (ibid.: 46).
‚Mit Erasmus gegen Horaz‘
Grundsätzlich fußt Drexels Kritik auf der Überzeugung, dass Kunst eine tiefgreifende Wirkung auf ihr Publikum ausübe. Für ihn gibt es einen direkten Weg vom Text zur Wirklichkeit, wenn er in seiner Nicetas schreibt: „Nach der Lektüre beginnen wir so zu sein, wie das Buch es lehrt“ (1639: 181f.).
Mit diesem moralischen Bildungsgedanken bezieht sich der Jesuit auch auf eine Wirkungsästhetik, die der Humanist Erasmus von Rotterdam auf den Punkt brachte: Lectio transit in mores. „Die Lektüre beeinflusst den Charakter.“ So formuliert klingt das wie der fromme Wunsch eine*r Pädagog*in. Wendet sich die Auffassung, wonach Kunst den Charakter und damit die Moral beeinflusse, aber gegen die Kunst selbst, gewinnt sie merklich an Kontur. Nun gelingt es den Kritiker*innen mühelos, die verderblichsten Wirkungen von künstlerischen Werken auf die Jugend, ja auf die ganze Gesellschaft auszumalen. Und je mehr Menschen an unbotmäßiger Kunst Gefallen finden, desto wütender und ausgreifender schlägt die Kritik zu. Schließlich gilt ihr die Popularität eines Werks als Gradmesser für seinen Einflussbereich.
Zwei Ziele benannte der römische Dichter Horaz in seiner Ars poetica (Vers 333) für die Dichtung: den Nutzen und/oder die Unterhaltung: aut prodesse volunt aut delectare poetae | aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. „Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter | oder gleichzeitig Erfreuliches und für das Leben Nützliches sagen.“ Die freundliche Gelassenheit der römischen Literaturtheorie verkehrt sich bei Drexel ins rigorose Gegenteil: Statt zu nützen oder zu gefallen, steht die Kunst im Verdacht, zu gefallen und zu schaden.
Statt zu nützen oder zu gefallen, steht die Kunst im Verdacht, zu gefallen und zu schaden.
Delectare et nocere – die beiden Wirkungen bilden gleichsam die dunkle Seite einer humanistisch inspirierten Wirkungsästhetik. Ihre misstrauische Kraft verkehrt sogar die Lehre eines Lukrez’ ins Gegenteil. Dieser vergleicht in seiner De rerum natura die Dichtkunst mit dem Vorgehen eines Arztes. Wie der Mediziner die bittere Arznei in einem mit Honig bestrichenen Becher verabreicht, will Lukrez die epikureische Philosophie in Form eines ansprechenden Lehrgedichts darstellen. Drexels finstere Kunstkritik bastelt daraus einen goldenen Kredenzbecher, in dem eine fette Spinne schwimmt.
Euphoria
Der Sender HBO veröffentlicht 2019 die erste Staffel der Serie Euphoria. Sie erzählt aus dem Leben der 17-jährigen Rue und ihrer Klassenkamerad*innen. Rue beschäftigen vor allem zwei Themen – Drogen einerseits, die Liebe zum Transmädchen Jules andererseits. Diese wiederum sucht Bestätigung durch sexuelle Beziehungen mit älteren Männern, verliebt sich aber auch in Rue. Daneben kämpft Kat mit ihrer Figur und macht als Webcam-Domina ihren Körper zur Waffe. Die Jungs dealen mit Drogen, haben aggressiven Sex und sind doch stets verunsichert. Zahlreiche sexuell explizite Szenen treffen auf offen gezeigten Substanzmissbrauch. Die Geschichten der Teenager kommen in dunklen und rauschhaften Bildern daher. Am aufwändigen Makeup der Figuren – exzentrisch, kreativ, mit Tränen aus Glitzer – lässt sich deren seelische Verfassung ablesen.
Mit der Anerkennung kam auch die Kritik. Die explizite und unkritische Darstellung von Sexualität, sexualisierter Gewalt und Rauschmittelkonsum erhitzte Feuilletons und rief Organisationen wie das Drogenpräventionsprogramm D.A.R.E. oder den PTC auf den Plan. D.A.R.E., das sich seit den 1980er Jahren für eine Null-Toleranz-Politik einsetzt, warnte in verschiedenen Onlinezeitungen wie NBC News oder TMZ vor der zweiten Staffel:
„Euphoria chooses to misguidedly glorify … high school student drug use, addiction, anonymous sex, violence, and other destructive behaviors as common and widespread in today’s world.“
Das Programm bot in der Folge gar an, die Produzent*innen dabei zu unterstützen, eine in ihren Augen geeignetere Botschaft für die Serie umzusetzen. Auch der Parents Television and Media Council (PTC) kritisiert auf seiner Homepage die Serie als „dark, depraved, degenerate and nihilistic“. Euphoria normalisiere Pornographie und ermutige Minderjährige zum Trinken, Rauchen, Drogenkonsum und anderen gefährlichen Verhaltensweisen. Um diesen Verfehlungen zu begegnen, motiviert der PTC Eltern, eine Petition zu unterzeichnen, die es HBO verbieten soll, Minderjährige zu sexualisieren.
„dark, depraved, degenerate and nihilistic“
Die Parallelen zur Kritik an der Historia sind nicht zu übersehen – im Beitrag „The Problem with Euphoria“ in der amerikanischen Vogue werden sie indes noch deutlicher. Der junge Verfasser, Samuel Getachew, selbst Teil der Generation Z und damit im Alter der Euphoria-Protagonist*innen, führt aus, was bei der Kritik von D.A.R.E und PTC nur implizit mitschwingt: Die Serie sei deshalb so problematisch, weil sie so gut sei: Die Hauptdarsteller*innen sind „stunningly beautiful“, sie erzeugen mithilfe von „glitter, immaculate makeup, and over-the-top outfits“ eine fingierte und hochgradig inszenierte Version ihrer selbst. Die Beleuchtung, „moody, glowing“ sowie der verträumte Soundtrack des Künstlers Labrinth tragen zu einer Ästhetisierung des Furchtbaren und Traumatischen bei. Und ausgerechnet für diese Ästhetisierung sei seine Generation besonders empfänglich.
D.A.R.E. und der PTC verurteilen die Serie wegen ihrer Inhalte: Statt vor selbstzerstörerischen Verhaltensweisen zu warnen, glorifiziere Euphoria diese und ermutige Jugendliche, es den Protagonist*innen gleichzutun. Für die Vogue hingegen geht die Gefahr von der einnehmenden Ästhetik aus – sie sei „ein Vehikel, um unseren Hang zur Selbstzerstörung zu romantisieren“. Diese Kritik wiederholt semantisch nahezu verlustfrei Drexels Verdacht, schöne Worte seien der goldene Kredenzbecher, darin eine fette Spinne schwimme.
Fazit
Die antihorazische Kunst- und Kulturkritik von delectare et nocere basiert auf drei Prämissen:
- Kunst besitzt die Macht, unsere Verhaltensweisen, unseren Charakter oder unser moralisches Empfinden zu verändern.
- Je populärer und gefälliger ein Werk ist, desto grösser ist die Gefahr einer schädlichen Wirkung.
- Die ansprechende Form wiederum ist das reizvolle Vehikel oder der goldene Becher, mit oder in dem fragwürdige Inhalte vermittelt werden.
Diese Überzeugungen entwerfen eine Art Misstrauensästhetik, die sich im langen Schatten breitmacht, den ein humanistisches Kunstverständnis von Lectio transit in mores wirft.
Freilich vermag das Gros des menschlichen Kulturschaffens dieses Kunstverständnis nicht zu wecken. Virulent wird es erst, wenn ein Werk wie die Historia gestern, Euphoria heute stark kontextualisiert ist: Wenn es die Ängste, Unsicherheiten und Erwartungen einer Generation oder einer Gesellschaft reflektiert. Zendaya, Hauptdarstellerin und Koproduzentin von Euphoria, betont genau diese Kontextualisierung und die damit einhergehende Hoffnung, wenn sie der Kritik entgegenhält:
Euphoria „is to hopefully help people feel a little bit less alone in their experience and their pain.“
Literatur
Drexel, Jeremias. 1639. Nicetas. Das ist: Unerhörte Gschicht vom Streit und Sig wider die Laster. München. Digitalisat.
Füssel, Stephan; Kreutzer, Hans Joachim [Hrsg.].2012. Historia von D. Johann Fausten: Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Stuttgart.
Getachew, Samuel. 2022. „The Problem With Euphoria“. Vogue Online (7. Januar 2022). Online.
Bildnachweis
Leere Ränge in der Oper. Foto: Cavan Images, Alamy.
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Paula Furrer
Paula Furrer hat in Zürich und Tübingen Germanistik, Latinistik und Philosophie studiert. Aktuell ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Andere Ästhetik an der Universität Tübingen beschäftigt. In diesem Rahmen schreibt sie ihre Doktorarbeit zur dämonologischen Traktatliteratur (‚Hexentheorie‘) der Frühen Neuzeit und zur Historia von D. Johann Fausten (1587).
Ich finde es interessant, dass auch Drechsels Spinnenvergleich eine letztlich ästhetische Reaktion einfordert: Unabhängig von seiner verführerischen Rahmung soll der schädliche Inhalt nicht nur verstandesmäßig als solcher erkannt werden, sondern auch Ekel und Abscheu hervorrufen.
Die Spinne wird zunächst als „heßlich abscheuliche“ (S. 45), dann als „faiste bauchete“ beschrieben, d.h. ganz im Hinblick auf den Ekel, den ihre Präsenz hervorruft; ihre Giftigkeit erschließt sich hingegen erst im Nachhinein.
(Nimmt „bauchet“ im Sinne von „schwanger“ bereits das Vermehrungspotenzial der schädlichen Inhalte in den Blick? Oder verstärkt es nur „faist“?)
Witzig, dass in all den Jahren, die Vorgehensweisen der Kritiker sich nicht geändert haben.
Das heisst durch das Aussagen und kritisieren „wie schlimm“ die Werke sind bildet sich der Raum der Aufmerksamkeit auf und der Konsument kommt erst recht auf den Geschmack es zu probieren.
Es war eine interessante Lektüre. Danke.