Dem Fami­li­en­va­ter und enga­gier­ten Poli­ti­ker Tim­ar­chos wur­de im Jahr 345 v. Chr. das Bür­ger­recht von Athen aberkannt. Die Beschul­di­gung: Er habe sich in der Jugend pro­sti­tu­iert. Das Ver­fah­ren war for­mal eine „Über­prü­fung der Wür­de“ wie sie jeden tref­fen konn­te, der als Red­ner in der Volks­ver­samm­lung auf­trat. Der Anklä­ger, ein poli­ti­scher Geg­ner, ver­folg­te damit das Ziel, Tim­ar­chos kalt­zu­stel­len. Und er hat­te Erfolg. Mit der sehr pla­ka­ti­ven und skan­dal­hei­schen­den Argu­men­ta­ti­on konn­te er die Geschwo­re­nen über­zeu­gen. Tim­ar­chos habe sich in sei­ner Jugend pro­sti­tu­iert und damit das Recht ver­wirkt, in der Volks­ver­samm­lung Anträ­ge zu stellen.

Das Urteil bedeu­te­te den poli­ti­schen und sozia­len Tod des Tim­ar­chos. Ihm wur­den alle poli­ti­schen Rech­te aberkannt, an den Volks­ver­samm­lun­gen und Fes­ten der Stadt durf­te er nicht mehr teil­neh­men, den Markt­platz nicht mehr betre­ten. Dies war das Ende eines Lebens, das sich bis dahin aus­nimmt wie ein Mus­ter­bei­spiel der Bio­gra­phie eines männ­li­chen Bür­gers im anti­ken Athen zur Zeit der Demo­kra­tie. War­um nur konn­te das jugend­li­che Sexu­al­le­ben die Kar­rie­re eines Poli­ti­kers rui­nie­ren? Gegen wel­che gesell­schaft­li­chen Vor­ga­ben hat­te der jun­ge Mann verstoßen?

War­um konn­te das jugend­li­che Sexu­al­le­ben die Kar­rie­re eines Poli­ti­kers ruinieren?

Statue von Aischines (Archäologisches Nationalmuseum Neapel. Foto Paolo Monti, 1969). Von Aischines sind drei Reden erhalten, die er u.a. gegen seine Gegner Demosthenes und Timarchos vorbrachte.
Sta­tue von Aischi­nes (Archäo­lo­gi­sches Natio­nal­mu­se­um Nea­pel. Foto Pao­lo Mon­ti, 1969). Von Aischi­nes sind drei Reden erhal­ten, die er u.a. gegen sei­ne Geg­ner Demo­sthe­nes und Tim­ar­chos vorbrachte.

Die Gerichts­re­de aus der Feder des Aischi­nes, einem berühm­ten Reden­schrei­ber des 4. Jahr­hun­derts v. Chr., ist ein wert­vol­les Zeug­nis. Zwi­schen den Zei­len sagt es viel über idea­li­sier­te Männ­lich­keit, gesell­schaft­li­che Wer­te und die Sozia­li­sa­ti­on jun­ger Män­ner aus. Frei­lich geht es auch in die­sem Doku­ment – wie meis­tens in den über­lie­fer­ten Tex­ten – nicht um einen x‑beliebigen Bür­ger, son­dern um ein Mit­glied der Éli­te: den Sohn einer rei­chen Fami­lie, der seit sei­ner Jugend erfolg­reich nach gesell­schaft­li­chem Anse­hen und poli­ti­schem Ein­fluss gestrebt hat­te – bis der Pro­zess sei­ne glanz­vol­le Kar­rie­re beendete.

Lust und Status

Die alter­tums­wis­sen­schaft­li­che For­schung hat sich vor­wie­gend auf den poli­ti­schen Hin­ter­grund die­ser Gerichts­sze­ne kon­zen­triert und damit auf die Fra­ge, wie Athen auf die Bedro­hung durch die Make­do­nen reagier­te. Zu der eben­falls ver­han­del­ten Sexua­li­tät hat die For­schung lan­ge Zeit eher Wer­tun­gen als Ana­ly­sen bei­gesteu­ert. Unbe­strit­ten ist, dass im demo­kra­ti­schen Athen älte­re Män­ner mit jün­ge­ren Lie­bes­be­zie­hun­gen pfleg­ten. Deren Cha­rak­ter wur­de teils idea­li­sie­rend als ero­tisch gefärb­te Men­tor­schaft, teils abwer­tend als päd­ago­gisch ver­bräm­ter Kin­des­miss­brauch eingeordnet.

In sei­ner Stu­die Der Gebrauch der Lüs­te näher­te sich Michel Fou­cault (1984) auf neu­ar­ti­ge Wei­se dem anti­ken Begeh­ren. Die Grie­chen streb­ten, so Fou­cault, weni­ger eine Regu­lie­rung der Sexua­li­tät durch Ver­bo­te an. Es ging ihnen nicht um eine Mora­li­sie­rung und Patho­lo­gi­sie­rung einer ‚ver­werf­li­chen‘ Sexua­li­tät. Ihnen war viel­mehr am maß­vol­len Umgang mit der Lust gele­gen: Wer darf sich wie sexu­ell ver­aus­ga­ben? Aller­dings hing das rich­ti­ge Maß von etli­chen Fak­to­ren ab, dar­un­ter Alter, Geschlecht und sozia­ler Sta­tus. Stu­di­en im Anschluss an Fou­cault zeich­nen inzwi­schen ein sehr dif­fe­ren­zier­tes Bild der klas­si­schen Lust: Athen war kei­nes­wegs ein Ort unbe­schwer­ter Homo­se­xua­li­tät und sexu­el­ler Frei­zü­gig­keit. Viel­mehr exis­tier­ten kla­re Vor­stel­lun­gen, wel­che Hand­lun­gen und Hal­tun­gen für eine Per­son als ange­mes­sen galten.

Nicht jedem war alles erlaubt. Einem jun­gen Mann der Éli­te gereich­te es zur Ehre, wur­de er von älte­ren Bür­gern begehrt und ver­führt. Für einen Erwach­se­nen (etwa ab acht­zehn Jah­ren) hin­ge­gen war es eine Schan­de, ließ er sich von ande­ren Män­nern pene­trie­ren. Für jun­ge Män­ner war es ehren­voll, teu­re Geschen­ke als Zei­chen der Gunst zu erhal­ten. Doch als kor­rupt galt, wer Geld für sexu­el­le Gefäl­lig­kei­ten ent­ge­gen­nahm. Gab es über den Wohl­stand des Gelieb­ten Zwei­fel, droh­ten die fei­nen Unter­schie­de sol­cher Tausch­ge­schäf­te also schnell zu verwischen.

Trinkgeschirr (kylix) um 470 v. Chr. Ein älterer Mann (mit einem Geldsäckel in der Hand) macht einem jungen Mann Avancen.
Trink­ge­schirr (kylix) um 470 v. Chr. Ein älte­rer Mann (mit einem Geld­sä­ckel in der Hand) macht einem jun­gen Mann Avancen.

Wer einem ande­ren Böses woll­te, ver­such­te, den Blick der Zeit­ge­nos­sen auf sol­che Norm­ver­stö­ße zu len­ken und eine Ankla­ge vor dem Geschwo­re­nen­ge­richt zu plat­zie­ren. Der Vor­wurf der Käuf­lich­keit wog schwer in der demo­kra­ti­schen Kul­tur von Athen. Die meis­ten Sozi­al­be­zie­hun­gen waren durch den aus­ge­wo­ge­nen Tausch von Gütern und Leis­tun­gen geprägt. Emp­fing jemand Lohn in Form von Geld, weck­te das den Ver­dacht der Bestech­lich­keit: die Gegen­leis­tung erfolg­te, so die Mut­ma­ßung, nicht frei­wil­lig, son­dern nur durch Preis­ga­be der geis­ti­gen und kör­per­li­chen Auto­no­mie. Wer für Geld einer bestimm­ten Sache das Wort rede­te, galt als poli­tisch kor­rupt. Wer sei­nen Kör­per gegen Geld anbot, mach­te sich selbst zum Objekt und zur Hure. Das ent­spre­chen­de grie­chi­sche Wort por­ne, das auch in männ­li­cher Form vor­kommt, lei­tet sich von dem Verb „ver­kau­fen“ ab.

Der Vor­wurf der Käuf­lich­keit wog schwer in der demo­kra­ti­schen Kul­tur von Athen.

Jugend und Sport

Die Gerichts­re­de gegen Tim­ar­chos gibt Aus­kunft über die Sozia­li­sa­ti­on die­ses Spröss­lings aus rei­chem Hau­se. Sie erzählt leben­dig von der sowohl kri­ti­schen als auch bewun­dern­den Beob­ach­tung, unter der die Éli­te stand. Aller­dings ist dabei zu berück­sich­ti­gen, dass die Schil­de­rung in dif­fa­mie­ren­der Absicht erfolgt und vie­le gän­gi­ge Kli­schees über die dama­li­ge aris­to­kra­ti­sche Jugend aufgreift.

Die Kind­heit des Tim­ar­chos war, so lässt sich aus ver­schie­de­nen Quel­len rekon­stru­ie­ren, von Ritua­len beglei­tet, die den Jun­gen schritt­wei­se in immer grö­ße­re sozia­le Krei­se ein­führ­ten. Das ers­te Ritu­al bestand in der Aner­ken­nung des Kin­des durch den Vater. Nahm die­ser den Säug­ling auf, bestä­tig­te er nicht nur des­sen Her­kunft, son­dern über­trug ihm auch das Erb- und athe­ni­sche Bür­ger­recht. Weni­ge Tage spä­ter stell­ten die Eltern das Kind in einer Zere­mo­nie den Ver­wand­ten vor. Im Lau­fe der nächs­ten Jah­re wur­de Tim­ar­chos in immer grö­ße­re Kult­ver­bän­de ein­ge­führt. Mit etwa 18 Jah­ren gelang­te er schließ­lich in die Bür­ger­lis­te, die der zustän­di­ge Orts­ver­band (demos) führ­te.

Alle die­se Ritua­le waren geprägt von gemein­sa­men Fest­essen, deren Mit­glie­der den Neu­an­kömm­ling fort­wäh­rend prüf­ten: War der Jun­ge reif genug, bestimm­te (vor allem kul­ti­sche) Zere­mo­nien zu voll­zie­hen? Gelang es ihm, sei­ne Alters­ge­nos­sen in geis­ti­ger und kör­per­li­cher Hin­sicht zu über­tref­fen? Die Erwach­se­nen för­der­ten und for­der­ten den Nach­wuchs, hiel­ten ihn dazu an, „immer der bes­te zu sein und die ande­ren zu über­tref­fen“. Bereits Homer for­mu­lier­te die­sen Leis­tungs­an­spruch, der nach dem 7. Jahr­hun­dert v. Chr. die Aris­to­kra­ten zu sport­li­chen und geis­ti­gen Höchst­leis­tun­gen anspornte.

Trinkgeschirr (kylix) um 460 v. Chr. Ein Mentor überwacht das Training eines jungen Athleten im Gymnsium.
Trink­ge­schirr (kylix) um 460 v. Chr. Ein Men­tor über­wacht das Trai­ning eines jun­gen Ath­le­ten im Gymnasium.

Der Ort, um die­sen Anspruch unter Beweis zu stel­len, war das Gym­na­si­on, ein von Säu­len umstan­de­ner Sport­platz, auf dem die Jun­gen unbe­klei­det unter Anlei­tung trai­nier­ten. Die sport­li­che Ertüch­ti­gung in Form von Rin­gen, Lau­fen, Weit­sprung oder Faust­kampf hat­te auch eine para­mi­li­tä­ri­sche Funk­ti­on. Sie berei­te­te den jun­gen Mann auf den zwei­jäh­ri­gen Mili­tär­dienst vor.

Die­se Aus­bil­dung stand vor­wie­gend den Söh­nen der wohl­ha­ben­den Fami­li­en offen, die auf die Arbeits­kraft des Nach­wuch­ses zu Hau­se oder auf dem Land ver­zich­ten konn­ten. Die Rei­chen konn­ten sich zudem einen Skla­ven als Päd­ago­gen („Kna­ben­be­glei­ter“) leis­ten. Die­ser hüte­te nicht nur die abge­leg­ten Hab­se­lig­kei­ten, son­dern bewach­te auch den Spröss­ling vor Beläs­ti­gun­gen durch älte­re Män­ner, die auf dem Turn­platz nach jun­gen Gelieb­ten Aus­schau hiel­ten. Aischi­nes‘ Rede gegen Tim­ar­chos schil­dert die Gym­na­si­en als Tum­mel­plät­ze lüs­ter­ner erwach­se­ner Män­ner, die die wohl­ha­ben­den Kna­ben bedrängen.

Wan­del und Begehren

Homo­se­xu­el­le Bezie­hun­gen zwi­schen einem Erwach­se­nen und einem Jun­gen sind im anti­ken Grie­chen­land seit der archai­schen Zeit bezeugt. Sie gehör­ten zum distink­ten Habi­tus der Aris­to­kra­tie und waren durch Sit­ten und Bräu­che nor­miert. Gepflegt und insze­niert wur­den sie an gesel­li­gen Trink­ge­la­gen (Sym­po­si­on), die fes­ter Bestand­teil des aris­to­kra­ti­schen Lebens­stils waren. Hier trat der älte­re Lieb­ha­ber mit sei­nem jün­ge­ren Lieb­ling auf, prä­sen­tier­te den folg­sa­men und mög­lichst pas­si­ven Kna­ben der Män­ner­run­de. Die anwe­sen­den Män­ner buhl­ten um die Gunst des Schöns­ten mit Geschen­ken, die den Reich­tum des Buh­lers ver­an­schau­lich­ten, sowie mit Ver­sen, die in der Sym­po­si­ons­ly­rik bis heu­te erhal­ten sind.

Trinkgeschirr (kylix) um 430 v. Chr. Ein junger und älterer Mann beim Symposion.
Trink­ge­schirr (kylix) um 430 v. Chr. Ein jun­ger und älte­rer Mann beim Symposion.

Das Trink­ge­schirr, das bei die­sen Anläs­sen Ver­wen­dung fand, zeigt häu­fig sexu­el­le Annä­he­run­gen eines akti­ven, älte­ren Lieb­ha­bers an einen jun­gen, pas­si­ven Gelieb­ten. Schlä­ge­rei­en um begehr­te Kna­ben waren offen­bar kei­ne Sel­ten­heit. Nicht nur die Lieb­ha­ber riva­li­sier­ten mit­ein­an­der, auch die Jun­gen stan­den zuein­an­der in Konkurrenz.

So befremd­lich es aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve auch erscheint: Die­ses spe­zi­el­le Ver­hält­nis hat­te auch eine erzie­he­ri­sche Funk­ti­on. Ein älte­rer Mann, der weder der Vater war, noch zur Fami­lie gehör­te, nahm sich des Jun­gen an, wies ihn in gesell­schaft­li­che Erwar­tun­gen ein und dien­te ihm als Vorbild.

All die­se sexu­el­len und sozia­len Rol­len­wech­sel voll­zo­gen sich für den Ange­hö­ri­gen der Éli­te nicht im Pri­va­ten und Gehei­men, son­dern unter den Augen der brei­ten Gesell­schaft von Athen.

Begann der Bart zu wach­sen, war die Zeit been­det, in der sich der jun­ge Mann den Älte­ren als gefäl­lig erwei­sen soll­te. Nun galt es, selbst aktiv zu wer­den. Seit alter Zeit stan­den dem rei­chen Sohn dafür Hetä­ren („Gefähr­tin­nen“) als kul­ti­vier­te Gespie­lin­nen zur Ver­fü­gung, die für ihre gewähr­te Gunst wie­der­um Geschen­ke erhiel­ten. Aller­dings stan­den die Frau­en außer­halb der Bür­ger­ge­mein­schaft, sie hat­ten in Athen den Sta­tus von Frem­den und waren zudem häu­fig Skla­vin­nen. Sie kamen weder für eine Hei­rat noch gemein­sa­me Kin­der in Fra­ge. Die arran­gier­te Ehe hin­ge­gen voll­zog der Mann – inzwi­schen 30 Jah­re – mit der behü­te­ten Toch­ter eines Bür­gers. Mit ihr pfleg­te er eine eher spar­sa­me Sexua­li­tät, die meist mit der Geburt von Kin­dern auch erlosch. Spä­tes­tens jetzt war der Zeit­punkt gekom­men, selbst zum Lieb­ha­ber eines jun­gen Man­nes zu wer­den. All die­se sexu­el­len und sozia­len Rol­len­wech­sel voll­zo­gen sich für den Ange­hö­ri­gen der Éli­te nicht im Pri­va­ten und Gehei­men, son­dern unter den Augen der brei­ten Gesell­schaft von Athen.

Trinkgeschirr (kylix) um 480 v. Chr. Sexszene zwischen Frau und Mann. Die kurzen Haare der Frau deuten auf eine Hetäre bzw. Sklavin hin.
Trink­ge­schirr (kylix) um 480 v. Chr. Sex­sze­ne zwi­schen Frau und Mann. Die kur­zen Haa­re der Frau deu­ten auf eine Hetä­re bzw. Skla­vin hin.

Gericht und Urteil

Aischi­nes‘ Rede unter­stellt Tim­ar­chos, die Rol­le des „Lieb­lings“, des pas­si­ven jun­gen Man­nes, nicht recht­zei­tig auf­ge­ge­ben zu haben. Im Gegen­teil. Er habe die­se Rol­le pro­fes­sio­na­li­siert, indem er sich gera­de­zu gewerbs­mä­ßig ver­kauf­te. Er sei auf die schie­fe Bahn gera­ten, indem er sich über­mä­ßig an Gela­gen betei­lig­te und sein ererb­tes Ver­mö­gen ver­schleu­der­te. Ob die gegen ihn erho­be­nen Vor­wür­fe tat­säch­lich zutra­fen, lässt sich heu­te nicht mehr ent­schei­den. Jeden­falls konn­te eine Per­son ohne gute Leu­mund leicht von der poli­ti­schen Bild­flä­che weg­ge­fegt wer­den. Das Sexu­al­le­ben sei­ner Jugend mag den gän­gi­gen Sit­ten ent­spro­chen haben, doch Jahr­zehn­te spä­ter gelingt es sei­nem Geg­ner, die Rich­ter mit Schmutz­ge­schich­ten von der Pro­sti­tu­ti­on des Ange­klag­ten zu überzeugen.

Zu Zei­ten Tim­ar­chos‘ hat­te die Aris­to­kra­tie ihre poli­ti­sche Domi­nanz zwar ein­ge­büßt, den­noch bestan­den die alten For­men der Gesel­lig­keit wei­ter. Gegen­über der weni­ger pri­vi­le­gier­ten Bür­ger­schaft insze­nier­ten sich die adli­gen Wort­füh­rer in der Volks­ver­samm­lung immer noch als kul­ti­vier­te und gebil­de­te Éli­te: durch Klei­dung, Haar- und Bart­tracht, Kör­per­hal­tung, Lebens­stil wie auch durch Form und Inhalt der Rede­bei­trä­ge. Die unge­bil­de­ten Lai­en­rich­ter, die als Geschwo­re­ne ihr Urteil fäll­ten und über­wie­gend zu den ein­fa­chen Bür­gern zähl­ten, reagier­ten wie­der­um belei­digt, wenn ein Red­ner sie wie Bau­ernt­rot­tel ansprach und ihnen unter­stell­te, sie hät­ten von der Welt der Rei­chen und Schö­nen kei­ne Ahnung. Auch wenn die alte Aris­to­kra­tie ihre Macht ein­ge­büßt hat­te, von ihrem Glanz ging immer noch eine Fas­zi­na­ti­on aus. Des­halb konn­te ein mora­li­scher Appell wie jener von Aischi­nes die Geschwo­re­nen­rich­ter zu kon­ser­va­ti­ven Sit­ten­wäch­tern ummo­deln – ver­mut­lich, ohne dass die­se bemerk­ten, wie sehr sie im poli­ti­schen Rän­ke­spiel instru­men­ta­li­siert wurden.

Die Hel­le­nen waren unglück­li­cher, als die Meis­ten glauben“
August Boeckh

Zu Beginn sei­ner Grie­chi­schen Cul­tur­ge­schich­te zitiert Jacob Bur­ck­hardt (1898) den Alter­tums­for­scher August Boeckh: „Die Hel­le­nen waren unglück­li­cher, als die Meis­ten glau­ben“. Sowohl Boeck als auch Bur­ck­hardt heg­ten kei­ne Zwei­fel an den zivil­ge­sell­schaft­li­chen Errun­gen­schaf­ten der Grie­chen. Aller­dings wand­ten sich bei­de gegen eine Idea­li­sie­rung, wel­che die Fol­ge­kos­ten die­ser Ent­wick­lun­gen ausblendete.

Betrach­tet man die anti­ke Gesell­schaft aus einer post­mo­der­nen Per­spek­ti­ve und fragt, wie es um her­an­wach­sen­de jun­ge Män­ner, um deren sexu­el­le und sozia­le Ent­fal­tung bestellt war, so wird man Boeckh und Bur­ck­hardt wahr­schein­lich zustimmen.

Lite­ra­tur

Aeschi­nes. 1855 [346/​5 v. Chr.]. Rede gegen Tim­ar­chos. Über­setzt und her­aus­ge­ge­ben von Bens­e­ler, Gus­tav Edu­ard. Leipzig.

Bur­ck­hardt, Jacob. 2002–2013 [1898–1902]. Grie­chi­sche Cul­tur­ge­schich­te. 4 Bän­de (Kri­ti­sche Gesamt­aus­ga­be, Bd. 19–22). Aus dem Nach­lass her­aus­ge­ge­ben von Bur­ck­hardt, Leon­hard; Reib­nitz, Bar­ba­ra von; Schmid, Alfred und Ungern-Stern­berg, Jür­gen von. Basel und München.

Fou­cault, Michel. 1989 [1984]. Der Gebrauch der Lüs­te. Sexua­li­tät und Wahr­heit 2. Frank­furt am Main.

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt die stür­zen­de Sta­tue des Black Pan­ther, König von Wakan­da. Scan aus dem Comic­buch Black Pan­ther A Nati­on Under Our Feet Book 1. 2016. Geschrie­ben von Ta-Nehi­si Coa­tes, gezeich­net von Brain Stel­free­ze. © Marvel.

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