„Damals hatte ich mir das nicht vorstellen können, aber jetzt verstehe ich natürlich, dass man manchmal noch Orte sehen kann, an die kein Weg zurückführt. Selbst dann nicht, wenn sie direkt vor einem liegen.“ (S. 38)
„Als E geboren wurde und wir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen, war ich von Liebe so überwältigt, dass ich in einer anderen Sprache mit ihr reden wollte. Einer, die nichts mit dem alltäglichen Geplapper um uns herum zu tun hatte, das ich schon mein Leben lang hörte. Ich wollte eine Sprache nur für uns beide haben. So sehr liebte ich sie. Manchmal kann Liebe so sein, blind und fordernd, eine wunderbare Falle.“ (S. 51)
„Uns geht es hier doch gut, sagte ich. Und dass es so etwas wie Urlaub für Mütter oder Urlaub vom Muttersein nicht gab. Warum sollten wir also so tun, als könnten wir irgendwohin fahren und eine Auszeit nehmen? Ich wollte nicht mit anderen Müttern an den See fahren und andere bemuttern. Wir würden uns gegenseitig erdrücken. Wir würden wie die Robben unsere plumpen Mutterkörper übereinanderwuchten. Nein, danke, das war nichts für mich. Muttersein ist schwere Arbeit, man braucht genug Luft zum Atmen. Ehrlich gesagt, wollte ich nicht verreisen, ich wollte nur schlafen.“ (S. 53)
Und dass es so etwas wie Urlaub für Mütter oder Urlaub vom Muttersein nicht gab.
„Wir liessen die Beeren im Mund zerplatzen. Mit Kindern ist die Zukunft unvorstellbar, sie ist so ungewiss, als wäre sie nichts. Noch weniger als ein Nichts. Als Mutter musste ich lernen, dass es keine Garantien gibt; das einzig Schöne, das einem sicher ist, voll und ganz, ist das Jetzt, der Augenblick zwischen meinen Zähnen.“ (S. 56)
„Ich hatte schreckliche Geschichten von Müttern gehört, die so eingeschlafen waren und deren hilflose Babys auf die Kissen gerutscht waren. Wenn wir Mütter schliefen, schliefen wir Wange an Wange mit einer Katastrophe. So nah war der Schrecken, er berührte uns und sang zu uns in unseren Träumen.“ (S. 58)
„Unsere Spiele hatten viel Platz beansprucht. Schleichend hatten sie alles für sich eingenommen. Ich hatte es nicht bemerkt. Vielleicht doch, und ich hatte mich einfach treiben lassen oder es wenigstens versucht, als wäre ich ein schimmerndes grünes Blatt auf dem Wasser und könnte schön und zart sein, hin und her getrieben, hier und da von einem Lichtstrahl getroffen. Aber als ich jetzt aufräumte, sah ich es deutlich. Das Chaos, die Spielsachen, wie wichtig es war, nicht davonzutreiben.“ (S. 59)
„Ich hätte meiner Mutter gerne gesagt, dass ich mich manchmal wie dieser Teppich fühlte, als würde ich alles in mich aufnehmen, ohne zu unterscheiden, und manchmal wie die Flasche, aufgefangen und heil. Dass ich mich manchmal wie diese Dinge fühlte, wie der Teppich und die Flasche, und nicht wie jemand, der den Teppich und die Flasche besass, so wie früher.“ (S. 64)
Dass ich mich manchmal wie diese Dinge fühlte, wie der Teppich und die Flasche, und nicht wie jemand, der den Teppich und die Flasche besass, so wie früher.
Manchmal schien es mir, als käme es als gute, als beste Mutter vor allem darauf an, sich ein immerwährendes Lächeln überzustülpen. Es gab nichts zu überlegen, nur die Aufgabe, den Moment, den man gerade durchlebte, genau richtig zu gestalten. Eine endlose glückliche Gegenwart, Finger, die ins Wasser getaucht werden, siehst du? Nass. Wasser. Gurken und Brot ohne Kruste, das ganze Glück baute auf tausend Kleinigkeiten auf. (S. 110)
Es tut mir wirklich leid, aber ich muss aufhören, sagte er. Ich liebe dich. Er sagte genau das Richtige, nur von mir war es dumm gewesen, anzurufen. Ja, antwortete ich, natürlich. Ich war so wütend auf mich, weil ich mich so benommen hatte. Weil ich mich gezeigt hatte, wie ich war. (S. 142)
Alles an ihr war ein Geschenk vor mir, von meinem Körper. Ich hatte sie aus dem Nichts erschaffen. Als sie älter wurde, merkte ich allerdings, wie ich schon in Einzelteile zerlegt wurde. Und dass nicht ich bestimmen würde, welche Teile von mir nützlich waren. Meine Hände, die ihr vor ein paar Monaten noch die ganze Welt vermittelt, die Welt für E geformt und überhaupt ermöglicht hatten, waren plötzlich nur noch gut genug, um Wäsche zu sortieren und die eingetrockneten Reste von einem vergessenen Teller zu kratzen. Und warum sollte es auch anders sein? Mütter waren Mütter, ob wir zu kleinen Fetzen zerrissen am Boden lagen oder aufrecht und unversehrt da standen. So oder so wurde jeder eingetrocknete Teller mit Liebe geschrubbt. (S. 144f.)
Gute Mutter. Schlechte Mutter. Gut. Schlecht. Eine Münze, die sich in der Luft dreht, immer höher und höher. (S. 148)
Könnten wir doch so sein, wie wir auf andere Menschen wirkten. Könnten wir doch wie Fotos sein, nur von Licht beschienene Oberfläche ohne etwas darunter. Ausgehöhlt und makellos. M und ich könnten hundert Jahre lang jeden Samstag Händchen halten, ohne uns zu verändern. Wir könnten jeden Schritt gemeinsam tun, ohne dass etwas zwischen uns stand, und vielleicht würden wir uns auch gar nicht bewegen. (S. 169)
In meinem beruhigenden Singsang konnte ich sagen, was ich wollte. Seine Haare fühlten sich auf meinem Gesicht ganz weich an. Im Dunkeln konnte ich alles an ihm spüren und riechen. Es gibt kein Wort, um unsere Verbindung zu beschreiben, sie war etwas Eigenes, allumfassend, und nur für uns. (S. 220)
Es gibt kein Wort, um unsere Verbindung zu beschreiben, sie war etwas Eigenes, allumfassend, und nur für uns.
Jetzt ging es vor allem darum, schnell zu sein. Es ging darum, schneller zu sein als das, was kam, was in die Wohnung drang, wie böse Gedanken, immer so beschäftigt zu sein, dass es mich nicht erwischen konnte, was auch immer es war. Die Dunkelheit, das Kind, die Augen aus Staub. Schneller zu sein, gebraucht zu werden, unersetzlich und erfüllt von Liebe zu sein. Immer in Bewegung zu bleiben, all die Stunden hindurch, bis die Kinder aufwachten und spielen wollten und mich davor bewahrten, von einem Moment auf den anderen nicht mehr zu existieren. Was ist eine Mutter, wenn ihre Kinder schlafen? Was könnte sie überhaupt sein? Wenn im Wald ein Baum umfällt. So ist es doch, oder? (S. 224)
Was ist eine Mutter, wenn ihre Kinder schlafen?
Kyra Wilder. Das brennende Haus.
Fischer Verlag. 2020.
Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.