Es leuch­tet und macht zir­pen­de Geräu­sche. Es kann flie­gen und mit sei­nem gif­ti­gen Sta­chel Men­schen, Tie­ren und Bäu­men töd­li­che Wun­den zufü­gen. Es ist blind und mor­det daher wahl­los. Trotz sei­ner zehn Zen­ti­me­ter ist es ein Meis­ter der Tar­nung. Oben­drein kann es Fein­de durch sei­ne auf­fäl­li­ge Kör­per­form und ‑fär­bung erschre­cken und mit­hil­fe eines unan­ge­neh­men Geruchs in die Flucht schla­gen. Auch sei­ne zahl­rei­chen Namen geben Aus­kunft über sei­ne schwer fass­ba­re, aber immer fas­zi­nie­ren­de Natur: Erd­nuss­kopf­kä­fer, flie­gen­de Schlan­ge, Later­nen­trä­ger – oder schlicht Leucht­zir­pe.

Es leuch­tet und macht zir­pen­de Geräu­sche. Es kann flie­gen und mit sei­nem gif­ti­gen Sta­chel Men­schen, Tie­ren und Bäu­men töd­li­che Wun­den zufügen …

Das Insekt befeu­ert die ento­mo­lo­gi­sche Phan­ta­sie der Neu­zeit. Und doch bleibt es bis heu­te ein Geheim­nis für insek­ten­kund­li­che Samm­lun­gen. In den Natu­ra­li­en­kam­mern des 17. Jahr­hun­derts erhält es einen beson­de­ren Platz, da es in Euro­pa als das am hells­ten leuch­ten­de Tier der süd­ame­ri­ka­ni­schen Urwäl­der gilt. Gleich meh­re­re Fach­ge­sell­schaf­ten erklä­ren es zu ihrem leuch­ten­den Wap­pen­tier, als sich die Insek­ten­kun­de zur Dis­zi­plin der Ento­mo­lo­gie ent­wi­ckelt. Volks­glau­ben und Sam­meln­de schrei­ben ihm phan­tas­ti­sche Eigen­schaf­ten zu. Und auch sei­ne wis­sen­schaft­li­che Erfor­schung ist von vie­ler­lei Irri­ta­tio­nen, Ängs­ten, Ver­wechs­lun­gen und lei­den­schaft­li­chen Kon­tro­ver­sen beglei­tet. Selbst heu­te noch sind nur weni­ge der Lebens­ge­wohn­hei­ten des Tiers bekannt (Pori­on 1994; Cos­ta-Neto 2003).

Die­se merk­wür­di­ge Erschei­nung hat die Ima­gi­na­tio­nen von Sam­meln­den seit jeher gereizt. Ver­folgt man die ver­wor­re­ne Spur der Leucht­zir­pe durch die Samm­lungs­ge­schich­te, lässt sich ein Blick auf die ima­gi­nä­ren Antei­le von Samm­lungs­prak­ti­ken wer­fen – und zugleich danach fra­gen: Wie sam­melt man eigent­lich das Imaginäre?

Ein ver­hei­ßungs­vol­les Leuchten

Die Leucht­zir­pe fla­ckert erst­mals in der berühm­ten Sze­ne des Erst­kon­takts zwi­schen „Alter“ und „Neu­er Welt“ auf – damals, in der Nacht vom 11. Okto­ber 1492. Als die Schiffs­be­sat­zung nach Wochen auf offe­ner See mit Meu­te­rei droht, erspäht Chris­toph Kolum­bus plötz­lich Lich­ter in wei­ter Fer­ne: wie Ker­zen, die sich auf und ab bewe­gen. Ange­lockt vom ver­hei­ßungs­vol­len Leuch­ten gelan­gen die See­rei­sen­den am nächs­ten Tag ans Ufer der „Neu­en Welt“. Ento­mo­lo­gen wie Charles Hogue mei­nen noch heu­te, nicht Men­schen sand­ten Kolum­bus Licht­bot­schaf­ten, son­dern die arten­rei­che süd­ame­ri­ka­ni­sche Fau­na (Hogue 1993: 4). Mit phos­pho­res­zie­ren­dem Blin­ken und Blit­zen ver­sprach die­se, jedes kolo­nia­le Begeh­ren zu erfüllen.

Kolumbus landet auf San Salvador am 12. Oktober 1492. (Bild: Library of Congress)
Kolum­bus lan­det auf San Sal­va­dor am 12. Okto­ber 1492. (Bild: Libra­ry of Congress)

Das frem­de Leuch­ten, ob real oder ima­gi­niert, lässt bereits in die­ser Sze­ne die gie­ri­ge Erobe­rung des „ent­deck­ten“ Kon­ti­nents erah­nen. Aber­tau­sen­de exo­ti­sche Insek­ten soll­ten schon bald den Atlan­tik über­que­ren, um die Samm­lun­gen in Euro­pa zu fül­len. Dort ange­kom­men, ist vom pracht­vol­len Leuch­ten aller­dings bei den toten Exem­pla­ren nichts mehr zu sehen, und es bleibt den Sam­meln­den über­las­sen, die getrock­ne­ten Hül­len zu ord­nen, zu klas­si­fi­zie­ren und leben­dig zu ima­gi­nie­ren. So dringt nicht nur die Erkennt­nis des frem­den Leuch­tens in die Samm­lun­gen der „Alten Welt“ ein, son­dern auch ein grund­le­gen­der Zwei­fel: Leuch­tet die Leucht­zir­pe wirklich?

Leuch­tet die Leucht­zir­pe wirklich?

Spä­tes­tens im 19. Jahr­hun­dert kommt es zu ernst­haf­ten wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen über die Leucht­fä­hig­keit des Insekts, das Carl von Lin­né 1739 Ful­go­ra Latern­aria, blit­zen­de Later­ne, genannt hat. Schuld an der Legen­de vom Leuch­ten, erklärt ein Mit­glied des Lon­do­ner Ento­mo­lo­gi­cal Club, habe allein die hyper­ak­ti­ve Ima­gi­na­ti­on einer Frau.

Augen­zeu­gin des Leuchtens

Die Rede ist von Maria Sibyl­la Meri­an. Die Frank­fur­ter Kup­fer­ste­che­rin und Natur­for­sche­rin ist 1699 in die nie­der­län­di­sche Kolo­nie Suri­na­me gereist, hat dort Insek­ten gesam­melt und gezeich­net. In ihrem Haupt­werk von 1705 befin­det sich auch eine Bild­ta­fel mit der exak­ten Abbil­dung meh­re­rer Leucht­zir­pen. Im Begleit­text berich­tet sie, wie ihr die „India­ner“ eines Tages eini­ge Insek­ten brach­ten, die sie in einem Holz­kas­ten verwahrte.

Nachts mach­ten sie einen sol­chen Lärm, daß wir vol­ler Schre­cken erwach­ten […]. Bald wur­den wir gewahr, daß es in dem Kas­ten war, den wir mit Erstau­nen öff­ne­ten, aber mit noch grö­ße­rem Erstau­nen zu Boden war­fen, da beim Öff­nen des Kas­tens eine Feu­er­flam­me her­aus­kam.“ (Meri­an 1705: 107)

Die Feu­er­flam­men ent­pup­pen sich als Leucht­zir­pen, deren Licht so stark sei, „daß man dabei eine Zei­tung lesen könn­te.“ Meri­an hat also mit eige­nen Augen gese­hen, was sich Sam­meln­de in Euro­pa nur erschlie­ßen kön­nen. Sie kann das Tier auch nicht ver­wech­selt haben, da sich auf der Abbil­dung unzwei­fel­haft eine Leucht­zir­pe erken­nen lässt: Es sei die gro­ße, bla­sen­ar­ti­ge Ver­län­ge­rung ihres Kop­fes, die nachts hell leuchte.

„Gra­nat­ap­fel­blü­te und Later­nen­trä­ger“ In: Meri­an, Maria Sibyl­la. 1705. Meta­mor­pho­sis Insec­torum Suri­na­men­si­um 1705. (Digi­ta­li­sat: Gött­tin­ger Digitalisierungszentrum). 

Die Natur­for­sche­rin mag zwar die Ers­te sein, die das Leuch­ten aus eige­ner Erfah­rung bezeugt hat. Die ers­ten Abbil­dun­gen des Insekts aber las­sen sich bereits 80 Jah­re frü­her in Euro­pa nach­wei­sen (Papa­vero 2017). Selbst die vom Insekt erleuch­te­te Lek­tü­re sehnt bereits der Phy­sio­lo­ge Neh­emia Grew 1681 her­bei. Mit die­sem, ihren Lek­tü­ren ent­sprun­ge­nen Erwar­tungs­druck reist Meri­an nach Suri­na­me. Ihr Bericht vom flam­men­den Tier wird zusam­men mit ihrer Abbil­dung schnell berühmt, bis schließ­lich um 1800 der glei­ßen­de Licht­ke­gel der Auf­klä­rung auch das Fla­ckern der Leucht­zir­pe erfasst.

Leuch­ten oder Nichtleuchten?

"Lanthorne Flie". In: Grew, Nehemia. 1681. Musaeum Regalis Societatis, or, A catalogue & description of the natural and artificial rarities belonging to the Royal Society and preserved at Gresham Colledge
„Lant­hor­ne Flie“. In: Grew, Neh­emia. 1681. Mus­ae­um Rega­lis Societa­tis, or, A cata­lo­gue & descrip­ti­on of the natu­ral and arti­fi­ci­al rari­ties belon­ging to the Roy­al Socie­ty and pre­ser­ved at Gre­s­ham Colledge 

Die auf­kom­men­den Zwei­fel an der Leucht­fä­hig­keit erschüt­tern vor allem den Lon­do­ner Ento­mo­lo­gi­cal Club. Dort hat man das Insekt im Sin­ne der auf­klä­re­ri­schen Licht­me­ta­pho­rik zum Wap­pen­tier erko­ren, unter­schrie­ben mit dem Ovid ent­lie­he­nen Mot­to Sine me dare lumi­na ter­ris, „Laß mich die Erde erleuch­ten“. Die wach­sen­de Skep­sis an jenem Leuch­ten aus der „Neu­en Welt“ rührt folg­lich an die Grund­fes­ten des wis­sen­schaft­li­chen Selbst­ver­ständ­nis­ses. 1835 wid­met der Club der Fra­ge eine sechs­stün­di­ge Sit­zung, bei der sich die Teil­neh­mer in „lumi­nous spee­ches“ erge­hen, um Licht in die Sache zu brin­gen (Tipp­mann 1977). In den Pole­mi­ken wird vor allem Meri­an als Kern des Pro­blems aus­ge­macht: Ihre Sam­mel­tä­tig­keit sei eher der Fik­ti­on als der Wis­sen­schaft ver­pflich­tet – und doch feh­len der Ver­samm­lung die nöti­gen Bele­ge, um die unzu­ver­läs­si­ge Zeu­gin zwei­fels­frei zu widerlegen.

Leuch­ten oder Nicht­leuch­ten? Erst als der Fran­zo­se Raphaël Dubo­is Ende des 19. Jahr­hun­derts die zwei ent­schei­den­den Sub­stan­zen für das Phä­no­men der Bio­lu­mi­nes­zenz ent­deckt, lässt sich bewei­sen: Weder von Luci­fer­a­se noch Luci­fe­rin las­sen sich Rück­stän­de im Kopf der Leucht­zir­pe nach­wei­sen. Bei der Fra­ge nach dem Licht und den Irri­ta­tio­nen, die sie her­vor­bringt, geht es aller­dings nicht um die Leucht­zir­pe allein. Das Phan­tom­leuch­ten ist viel­mehr ein Zei­chen für das exo­ti­sche Begeh­ren, das Schil­lern der„Neuen Welt“ zu sam­meln. Entomolog*innen seh­nen sich einen eph­eme­ren Gegen­stand her­bei, der sich gera­de nicht in Insek­ten­käs­ten fest­pin­nen lässt (Didi-Huber­man 2012: 47).

Aus die­ser Per­spek­ti­ve lässt sich auch die Kon­tro­ver­se bes­ser begrei­fen, in der die Sit­zung in Lon­don gip­felt. In Erman­ge­lung trag­fä­hi­ger Fak­ten begin­nen die Club­mit­glie­der das ungreif­ba­re The­ma schließ­lich mit Ver­sen von Shake­speare bis Raci­ne poe­tisch zu umschwär­men, denn: „It is unknown except in fic­tion, the­r­e­fo­re let fic­tion alo­ne retain it.“ (Art. VII 1835: 49) Die natur­his­to­ri­schen Samm­lun­gen toter Exem­pla­re kom­men ange­sichts des begeh­rens­wer­ten Leuch­tens an ihre wis­sen­schaft­li­che Grenze.

Schau­er­ge­schich­ten vom Amazonas

Es kommt wie geru­fen, dass sich nur 13 Jah­re spä­ter der Hob­by-Insek­ten­samm­ler Hen­ry Wal­ter Bates auf den Weg in den Ama­zo­nas macht. Als er 1859 nach Eng­land zurück­kehrt, sprengt Charles Dar­win gera­de die Gren­zen natur­ge­schicht­li­cher Samm­lun­gen durch sei­ne Theo­rie der Evo­lu­ti­on. Der Heim­keh­rer Bates hat Bewei­se im Gepäck, die Dar­wins The­sen stüt­zen. Denn er hat im Ama­zo­nas die „Mimi­kry“ ent­deckt: Er kann nach­wei­sen, dass sich Arten in ihrer Ent­wick­lung an ihre Umwelt – in sei­nem Fall: an ande­re Arten – anähneln.

Bates’sche Mimi­kry: Die Fal­ter der Weiß­lin­ge (1. und 3. Rei­he) pas­sen ihr Aus­se­hen den für Vögel unge­nieß­ba­ren Edel­fal­tern an. Bates, Hen­ry Wal­ter. 1862. „Con­tri­bu­ti­ons to an insect fau­na of the Ama­zon Val­ley. Lepi­dop­te­ra: Heli­co­ni­dae“. Tran­sac­tions of the Lin­ne­an Socie­ty 23, Bild­ta­feln LV und LVI.

Ande­rer­seits ist Bates auch die Merian’sche Leucht­zir­pen­le­gen­de bekannt, und so hat er das Tier in Süd­ame­ri­ka mit beson­de­rer Auf­merk­sam­keit beob­ach­tet. Aber er sieht es nie leuch­ten, und die befrag­ten Indi­ge­nen haben eben­so wenig von sei­nem Licht gese­hen oder gehört. Sie erzäh­len ihm statt­des­sen von Schau­er­ge­schich­ten über das Insekt: Eines Tages sei das gif­ti­ge Tier aus dem Wald gekom­men und habe eine gan­ze Boots­be­sat­zung über­fal­len. Nur ein ein­zi­ger habe über­lebt, indem er sich ins Was­ser ret­te­te. Zeit­gleich kur­sie­ren Gerüch­te, indi­ge­ne Völ­ker des Ama­zo­nas­ge­bie­tes wür­den die Leucht­zir­pe als Fol­ter­in­stru­ment ein­set­zen (Cos­ta-Neto 2003: 37).

Eines Tages sei das gif­ti­ge Tier aus dem Wald gekom­men und habe eine gan­ze Boots­be­sat­zung überfallen.

Ver­hee­ren­de Unord­nung stif­tet die Jaqui­ran­a­bóia – so der aus dem Tupí-Gua­raní abge­lei­te­te Name – bei For­schen­den und Ein­hei­mi­schen. Zahl­rei­che Mythen ran­ken sich allein im bra­si­lia­ni­schen Volks­glau­ben noch heu­te um das Insekt. Da das Tier Ähn­lich­kei­ten mit gefähr­li­chen Schäd­lin­gen auf­wei­se, müs­se es auch über enor­me, teuf­li­sche Kräf­te ver­fü­gen, ganz ohne Luci­fer­a­se: Es habe einen Sta­chel, mit dem es Men­schen und Tie­ren töd­li­che Wun­den zufü­ge. Und es sau­ge Bäu­me aus, bis sie abstür­ben. Unklar ist vor allem, um was für ein Tier es sich han­delt: Eine flie­gen­de Schlan­ge, eine Zika­de mit Vipern­kopf? Statt Begeh­ren ruft das ima­gi­nä­re Tier im Ama­zo­nas nack­te Angst her­vor, obwohl, wenn man an Meri­an zurück­denkt, auch sie sich zunächst gefürch­tet hatte.

Cail­lois‘ uni­ver­sa­ler Schrecken

Roger Caillois (1913-1978) war zunächst Mitglied der Gruppe der Surrealisten. Mit Georges Bataille gründete er anschließend das College de Sociologie. Während des Zweiten Weltkriegs weilte er in Argentinien, von wo aus er intellektuellen Widerstand gegen den Faschismus leistete. Wissenschaftlich sprengte Caillois nahezu jede disziplinäre Grenze: Er arbeitete an einer Soziologie des Heiligen, schrieb ein viel beachtetes Buch über Spiele und verfasste philosophische Meditationen über Steine. Gemeinsamer Fluchtpunkt seiner Bemühungen war eine «Logik des Imaginären», die zwischen Natur und Kultur vermittelt.
Roger Cail­lois (1913–1978) war zunächst Mit­glied der Grup­pe der Sur­rea­lis­ten. Mit Geor­ges Batail­le und Michel Lei­ris grün­de­te er anschlie­ßend das Col­lege de Socio­lo­gie. Die Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs ver­brach­te er in Argen­ti­ni­en und arbei­te­te nach sei­ner Rück­kehr für die UNESCO sowie als Über­set­zer latein­ame­ri­ka­ni­scher Lite­ra­tur. Wis­sen­schaft­lich spreng­te Cail­lois nahe­zu jede dis­zi­pli­nä­re Gren­ze: Er ent­warf eine Sozio­lo­gie des Hei­li­gen, schrieb ein viel beach­te­tes Buch über Spie­le und ver­fass­te phi­lo­so­phi­sche Medi­ta­tio­nen über Stei­ne, die er auch selbst sam­mel­te. Gemein­sa­mer Flucht­punkt sei­ner Bemü­hun­gen war eine «Wis­sen­schaft vom Ima­gi­nä­ren», die zwi­schen Natur und Kul­tur vermittelt.

Den mons­trö­sen Ähn­lich­kei­ten der Leucht­zir­pe wid­met sich im 20. Jahr­hun­dert der Sozio­lo­ge und Ex-Sur­rea­list Roger Cail­lois. Erneut knüpft er an Meri­ans Legen­de an und fin­det eine neue Erklä­rung für ihre Fehl­wahr­neh­mung. Zunächst sam­melt er ver­schie­de­ne Legen­den zur Leucht­zir­pe, ver­gleicht die affek­ti­ven Reak­tio­nen auf das Insekt und ent­wi­ckelt dar­aus eine Theo­rie der Auf­merk­sam­keit. Das Ima­gi­nä­re zei­ge sei­ne Kraft anhand von mar­kan­ten Din­gen und For­men in der Welt, die in einer beson­de­ren Bezie­hung zur mensch­li­chen Ima­gi­na­ti­on stün­den: Ein­zelli­ge Strah­len­tier­chen (Radio­la­ri­en) gli­chen nicht zufäl­lig pla­to­ni­schen Körpern.

Mit­tels sol­cher Über­ein­stim­mun­gen übe das Ima­gi­nä­re eine zwang­haf­te Wir­kung auf Tie­re und Men­schen aus. Die fal­schen Augen auf wip­pen­den Insek­ten­flü­geln etwa sei­en in der Lage, ande­re Lebe­we­sen zu para­ly­sie­ren. Und ein solch ima­gi­nä­res Ding sei die Leucht­zir­pe auf­grund ihrer ver­stö­ren­den Ähn­lich­keit – und zwar mit einem Alligator.

Der „ima­gi­nä­re Schre­cken“ über die­se Ähn­lich­keit habe Meri­an, so fol­gert nun Cail­lois, zu einer Ver­schie­bung ihrer Auf­merk­sam­keit gezwun­gen – zuguns­ten der Wahr­neh­mung einer Ähn­lich­keit des Kopf­hö­ckers mit einer Later­ne. Das visu­el­le Erstau­nen dar­über habe den Kopf der Leucht­zir­pe schließ­lich zum Leuch­ten gebracht (Cail­lois 1960: 126).

Cail­lois sieht Ähn­lich­kei­ten: Ful­go­ra latern­aria und Alligator.

Dass die Leucht­zir­pe so enge Bezie­hun­gen zum Ima­gi­nä­ren unter­hält, liegt für Cail­lois zu guter Letzt dar­an, dass sie zur Tar­nung, zur Ver­klei­dung und zur Ein­schüch­te­rung glei­cher­ma­ßen fähig ist. Nicht nur der Alli­ga­to­ren­kopf, son­dern der gan­ze Kör­per beherr­sche das erschre­cken­de Spiel von stil­lem Ver­ber­gen und plötz­li­chem Zei­gen. Die meis­te Zeit ver­bringt die Leucht­zir­pe ver­ti­kal auf einem Baum sit­zend, von des­sen Phlo­em, dem Gewe­be unter der Rin­de, sie sich ernährt. Mit dem Wachs, das sie abson­dert, kann sie ihre Flü­gel der Far­be und Struk­tur des Bau­mes anpas­sen, bei Gefahr aber die hyp­no­ti­sie­ren­den Augen­fle­cken auf ihren Flü­geln enthüllen.

Ähn­lich wie der Bio­lo­ge Paul Vignon erkennt Cail­lois in die­ser auf­wän­di­gen Insze­nie­rung kei­nen evo­lu­tio­nä­ren Nut­zen. Letzt­lich sei sie zu inef­fi­zi­ent, um der Leucht­zir­pe einen Vor­teil im Kampf vom „sur­vi­val of the fit­test“ zu brin­gen. Vor allem ent­ste­he die „Schreck­mas­ke“ gera­de nicht aus der Nach­ah­mung einer ande­ren ein­schüch­tern­den Spe­zi­es. Statt um Ori­gi­nal und Kopie hand­le es sich um zwei Ori­gi­na­le: Denn um zu erschre­cken, grif­fen Alli­ga­tor wie Insekt auf einen „uni­ver­sa­len Vor­rat an Schreck­mas­ken“ zurück, der „begrenzt und gül­tig für alle Wesen“ sei (Cail­lois 1960: 130).

Fulgora laternaria im Schreckmodus

Lässt sich das Ima­gi­nä­re sammeln?

Folgt man Cail­lois, dann lässt sich das Ima­gi­nä­re durch­aus sam­meln. Er selbst führt  ein Sam­meln zwei­ter Ord­nung vor, in dem er die Berich­te der eigent­li­chen Sammler*innen zusam­men­trägt. Außer­dem ist für ihn das Ima­gi­nä­re schlicht real. Es exis­tiert als uni­ver­sa­le Struk­tur, die mensch­li­che Ima­gi­na­ti­on wie natür­li­che Phä­no­me­ne auf die glei­che Wei­se prägt und sich in Form teils bizar­rer Ähn­lich­kei­ten offen­bart. Und als sol­che kann das Ima­gi­nä­re gesam­melt und geord­net wer­den. Auch in Gestalt der Leuchtzirpe.

In der Samm­lungs­ge­schich­te der Leucht­zir­pe bil­det aller­dings auch Cail­lois‘ phi­lo­so­phi­sche Zuver­sicht nur ein ein­zel­nes Kapi­tel. An den Ähn­lich­kei­ten von Ful­go­ra latern­aria wird zwar deut­lich, wie ento­mo­lo­gi­sches Wis­sen, legen­dä­re Zuschrei­bun­gen und indi­ge­ne Taxo­no­mien glei­cher­ma­ßen vom Ima­gi­nä­ren durch­drun­gen sind. Doch sie ver­kör­pert auch das, was eben doch nicht gesam­melt wer­den kann: das Leuch­ten, der Geruch, das thea­tra­le, schre­cken­er­re­gen­de Spiel von Unsicht­bar­keit und plötz­li­cher Sicht­bar­keit. Die end­lo­sen Ver­su­che, gera­de die­se Din­ge zu sam­meln, för­dern schließ­lich den ima­gi­na­ti­ven, affekt­be­la­de­nen Über­schuss des Sam­melns an die Oberfläche.

Der Leucht­zir­pe ist das egal. Gift‑, laut- und licht­los sitzt sie am liebs­ten auf ihrem Wirts­baum, ist kaum von der Bor­ke unter­scheid­bar und ver­harrt, als sei sie mit dem Baum ver­wach­sen, oft noch lan­ge nach ihrem Tod an der glei­chen Stelle.

Lite­ra­tur

Art. IV., XII. 1835. „Dis­cus­sion on the Lumi­no­si­ty of Ful­go­ra Can­del­aria, &c., at the Nine­ty-ninth Month­ly Mee­ting of the Ento­mo­lo­gi­cal Club“, in: The Ento­mo­lo­gi­cal Maga­zi­ne 3, S. 45–57; 105–120.

Cail­lois, Roger. [1960] 2007. Médu­se & Cie. Hg. von Peter Geble. Berlin.

Didi-Huber­man, Geor­ges. 2012. Über­le­ben der Glüh­würm­chen. Übers. von Mar­kus Sedlac­zek. Paderborn.

Hogue, Charles L. 1993. Latin Ame­ri­can Insects and Ento­mo­lo­gy. Ber­ke­ley. Los Angeles.

Medei­ros Cos­ta-Neto, Eral­de und Josue Mar­ques Pach­eco. 2003. „‚Head of sna­ke, wings of but­ter­fly, and body of cica­da‘: Impres­si­ons of the lan­tern-fly (Hemipte­ra: Ful­go­ri­dae) in the vil­la­ge of Pedra Bran­ca, Bahia Sta­te, Bra­zil“, in: Jour­nal of Eth­nobio­lo­gy 23/​1, S. 23–46.

Papa­vero, Nel­son und Dan­te Mar­tins Teixei­ra. 2017. „Ear­ly (17th and 18th cen­tu­ries) dra­wings of lan­tern-flies and men­ti­ons of their bio­lu­mi­ne­s­cence (Ful­go­ra spp., Hemipte­ra, Hom­op­te­ra, Ful­go­ri­dae)“, in: Arqui­vos de Zoo­lo­gia 48/​3, S. 95–113.

Pori­on, Thier­ry. 1994. Ful­go­ri­dae 1. Illus­tra­ted Cata­lo­gue of the Ame­ri­can Fau­na. Venet­te.

Tipp­mann, Fried­rich F. 1977. „‚Gestat­tet mir, die Welt zu erleuch­ten‘. Geschich­te der Lite­ra­tur über eines der merk­wür­digs­ten Tie­re“, in: Zeit­schrift der Arbeits­ge­mein­schaft Österr. Ento­mo­lo­gen, 29, 3/​4, S. 123–139.

Bild­nach­weis

Beach­com­ber-Coll­ec­tion“ von Jim Gol­den, jim​gol​den​stu​dio​.com.

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Eli­sa­beth Heyne

Eli­sa­beth Hey­ne wur­de mit einer Arbeit zu den „Wis­sen­schaf­ten des Ima­gi­nä­ren. Vom Sam­meln, Sehen, Lesen und Expe­ri­men­tie­ren bei Roger Cail­lois und Eli­as Canet­ti“ pro­mo­viert. Sie stu­dier­te All­ge­mei­ne und Ver­glei­chen­de Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und Fran­zö­si­sche Phi­lo­lo­gie in Ber­lin, Cór­do­ba (Spa­ni­en) und Paris. Zu ihren For­schungs­in­ter­es­sen gehö­ren zudem die lite­ra­ri­sche Spiel­theo­rie, die Schnitt­stel­le zwi­schen Eth­no­lo­gie und Lite­ra­tur sowie die deut­sche und fran­zö­si­sche Gegenwartsliteratur.

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