Frucht­fleisch aus der Dose. Der letz­te Schrei in der vega­nen Sze­ne ist tat­säch­lich eine Frucht, die als Imi­tat für das so belieb­te Pul­led Pork die­nen soll. Letz­te­res dient seit eini­gen Jah­ren als das Zei­chen für unver­fälsch­te Bar­be­cues,  Gour­met­bur­ger und ech­te Män­ner. Dem so zele­brier­ten Fleisch­kon­sum begeg­net das vega­ne Frucht­fleisch wie eine semio­ti­sche Kampf­an­sa­ge, die Gesund­heit, Fit­ness und klu­ge Frau­en ins Feld führt. Und die erst noch das Argu­ment „zeit­ge­mäß“ auf ihrer Sei­te hat.

Wer nun fol­gert, vega­ne Ernäh­rung sei eine kuli­na­ri­sche Ant­wort auf neo­li­be­ra­le Bedin­gun­gen, die eine Fle­xi­bi­li­sie­rung und Fit­ness­ori­en­tie­rung des Lebens und Arbei­tens ein­for­dern, liegt so falsch nicht. Sie oder er ver­gisst höchs­tens, dass die Unter­schei­dung von ‘männ­li­cher’ und ‘weib­li­cher’ Nah­rung nicht nur vagen Geschlech­ter­ste­reo­ty­pen, son­dern der Geschich­te der Indus­tria­li­sie­rung ent­springt. Und mög­li­cher­wei­se ver­kennt sie oder er auch, wie sehr der Kapi­ta­lis­mus seit 150 Jah­ren bestimmt, wel­che Nah­rung für uns gut und rich­tig ist. Wer sich das alles merkt, weiß, dass es nicht nur nur unse­re indi­vi­du­el­le Ent­schei­dung ist, ob wir Schwei­ne­fleisch oder Jack­fruit auf unse­rem Bur­ger haben.

Fleisch, Indus­tria­li­sie­rung und Kostsätze

Mit der Indus­tria­li­sie­rung ver­än­dert sich die Fra­ge der Ernäh­rungs­ver­sor­gung grund­le­gend. Die Arbeit ver­la­gert sich vom Land in die Fabri­ken der Städ­te und vom ‚Gan­zen Haus‘ in die bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie. Wäh­rend in unte­ren Klas­sen die gesam­te Fami­lie arbei­ten muss, um der gänz­li­chen Ver­elen­dung zu ent­ge­hen, ent­steht in bür­ger­li­chen Schich­ten eine ver­ge­schlecht­lich­te Arbeits­tei­lung. Auf die­se ist der Kapi­ta­lis­mus fort­an ange­wie­sen. Män­nern wird die öffent­li­che Sphä­re, Frau­en die hei­mi­sche Sphä­re und damit die Repro­duk­ti­ons­ar­beit zuge­schrie­ben. Wie die His­to­ri­ke­rin Karin Hau­sen (1976) her­aus­ar­bei­tet, wur­de die­se Arbeits­tei­lung bio­lo­gisch begrün­det: Ange­bo­re­ne  „Geschlechts­cha­rak­te­re“ dif­fe­ren­zier­ten fort­an Mann und Frau in zwei kom­ple­men­tä­re, aber fun­da­men­tal unter­schied­li­che Geschlech­ter. Damit hat das natur­wis­sen­schaft­li­che Wis­sen auf Kos­ten der Reli­gi­on die Deu­tungs­ho­heit über all das errun­gen, was eine Frau zur Frau und was einen Mann zum Mann macht.

Wieviel Wärme steckt in einem Stoff? Kalorimeter messen die Wärme, die bei physikalischen, chemischen oder biologischen Prozessen freigesetzt oder aufgenommen wird. Im Bild: Berthelots Kalorimeter (2. Hälfte des 19. Jh.), der in überarbeiteter Form heute noch zum Einsatz kommt.
Wie­viel Wär­me steckt in einem Stoff? Kalo­ri­me­ter mes­sen die Wär­me, die bei phy­si­ka­li­schen, che­mi­schen oder bio­lo­gi­schen Pro­zes­sen frei­ge­setzt oder auf­ge­nom­men wird. Im Bild: Bert­he­lots Kalo­ri­me­ter (2. Hälf­te des 19. Jh.), der in über­ar­bei­te­ter Form heu­te noch zum Ein­satz kommt.

Fast zeit­gleich erklä­ren die Natur­wis­sen­schaf­ten auch die Ernäh­rung zu einem rein kör­per­li­chen Pro­zess. Mit der Erfin­dung der Kalo­rie schaf­fen sie einen engen Zusam­men­hang zwi­schen kör­per­li­cher Arbeits­kraft und Ernäh­rung. Der arbei­ten­de Mann „ver­bren­ne“, so das Para­dig­ma, wie eine Dampf­ma­schi­ne sei­ne Nah­rung. Der wis­sen­schaft­li­chen Berech­nung des Nah­rungs­be­darfs in Abhän­gig­keit der geleis­te­ten Arbeit stand nun nichts mehr im Wege. Ende des 19. Jahr­hun­derts leg­ten soge­nann­te „Kost­sät­ze“ fest, wie viel Nah­rung für einen Kran­ken, einen Gefan­ge­nen oder einen Arbei­ter not­wen­dig ist. Die Ratio­nen dien­ten zudem als Grund­la­ge für staat­li­che Maß­nah­men, eine „bedarfs­ge­rech­te“ Ernäh­rungs­wei­se und damit das „Exis­tenz­mi­ni­mum“ fest­zu­le­gen, um der Ver­elen­dung Ein­halt zu gebieten.

Auf der Grund­la­ge der Kost­sät­ze wur­de empi­risch über­prüft, ob pro­le­ta­ri­sche Fami­li­en ‚ratio­nell‘ haus­hal­ten oder ‚über­flüs­si­ge Aus­ga­ben‘ täti­gen und des­halb in Not gera­ten. Die­se Betrach­tungs­wei­se ver­la­ger­te die Grün­de von Man­gel- und Unter­ernäh­rung von den Ursa­chen, den schlech­ten Arbeits­be­din­gun­gen und der mate­ri­el­len Not, hin zur Kon­sum­sei­te: Die pro­le­ta­ri­schen Haus­hal­te kon­su­mier­ten falsch“ (Bar­lö­si­us 2011: 61)

Kostsätze aus: Engel, Ernst. 1895. Die Lebenskosten belgischer Arbeiter-Familien früher und jetzt, Dresden. 1. Klasse meint "Bedürftige", 2. Klasse "Auskommende", 3. Klasse "Sparfähige".
Kost­sät­ze aus: Engel, Ernst. 1895. Die Lebens­kos­ten bel­gi­scher Arbei­ter-Fami­li­en frü­her und jetzt, Dres­den. 1. Klas­se meint „Bedürf­ti­ge“, 2. Klas­se „Aus­kom­men­de“, 3. Klas­se „Spar­fä­hi­ge“.

Die Ernäh­rungs­wis­sen­schaf­ten tru­gen mit ihren Bedarfs­kal­ku­la­tio­nen zur Recht­fer­ti­gung nied­ri­ger Löh­ne und der Aus­beu­tung pro­le­ta­ri­scher Arbeits­kraft bei. Das Ver­hält­nis von Ernäh­rungs­kos­ten und Arbeits­er­trä­gen war in die­ser Vor­stel­lung nun exakt bere­chen- und somit optimierbar.

Doch nicht nur die Bere­chen­bar­keit der Men­ge, auch die Fra­ge, wer wel­che Art von Lebens­mit­teln kon­su­mie­ren sol­le, erhielt eine natur­wis­sen­schaft­li­che Begrün­dung. Hier­für war die zuvor bio­lo­gisch ‚bewie­se­ne‘ Dif­fe­ren­zie­rung der Geschlech­ter rele­vant: So ent­stan­den Ernäh­rungs­emp­feh­lun­gen, die dem Mann den Ver­zehr von Fleisch gera­de­zu nahe­leg­ten. In der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts setz­te sich die Annah­me durch, „dass es einen direk­ten Weg vom Fleisch­kon­sum, über den Mus­kel­auf­bau zur männ­lich inter­pre­tier­ten Ener­gie und Leis­tungs­fä­hig­keit gibt“ (Fischer 2015: 53). Der Mann braucht Fleisch – so die natur­wis­sen­schaft­lich gestütz­te Annah­me. Die Bio­lo­gi­sie­rung und Natu­ra­li­sie­rung von Geschlecht betrifft also nicht nur die Zuwei­sung von Tätig­keits­sphä­ren, son­dern auch die Ernäh­rungs­wei­se. Und bei­des ist eng mit der Klas­sen­la­ge und dem kapi­ta­lis­ti­schen Ver­wer­tungs­pro­zess verwoben.

Geschmack, Luxus und Notwendigkeit

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg kommt die Indus­trie­ge­sell­schaft im Wes­ten zur vol­len Blü­te und mit ihr der Mas­sen­kon­sum. In wei­ten Tei­len der Gesell­schaf­ten herrscht eine durch­ra­tio­na­li­sier­te Pro­duk­ti­ons­wei­se und ver­ge­schlecht­lich­te Arbeits­tei­lung vor – aller­dings mit neu­en Anfor­de­run­gen. Inso­fern Frau­en zuneh­mend den Brot­er­werb in Teil­zeit­ar­beit mit­be­strei­ten, sind sie sowohl in die Pro­duk­ti­ons- wie auch in die Repro­duk­ti­ons­sphä­re ein­ge­bun­den. Die Sozio­lo­gin und Geschlech­ter­for­sche­rin Regi­na Becker-Schmidt (2004) bezeich­net dies als die „dop­pel­te Ver­ge­sell­schaf­tung der Frau“. Inter­es­san­ter­wei­se gel­ten aber in der hete­ro­se­xu­el­len Kern­fa­mi­lie nun die Män­ner als „Fami­li­en­er­näh­rer“, da sie hier­zu die finan­zi­el­len Mit­tel durch die höher bewer­te­te Voll­zeit­ar­beit beschaffen.

Was sich im 19. Jahr­hun­dert abzeich­ne­te, sta­bi­li­siert sich in den angeb­li­chen Wun­der­jah­ren: Zwi­schen den sozia­len Klas­sen einer­seits, den Geschlech­tern ande­rer­seits bestehen erheb­li­che Ernäh­rungs­un­ter­schie­de. In sei­ner Stu­die Die fei­nen Unter­schie­de (1979) unter­schei­det der Sozio­lo­ge Pierre Bour­dieu zwei klas­sen­spe­zi­fi­sche Ernäh­rungs­sti­le: den Luxus- und den Not­wen­dig­keits­ge­schmack. Die Regu­la­ti­ve staat­li­cher und wis­sen­schaft­li­cher Insti­tu­tio­nen gehen, so Bour­dieu, den Men­schen so in Fleisch und Blut über, dass sich deren Geschmack an der sozia­len Posi­ti­on, sprich: der Klas­sen­la­ge ori­en­tiert. Bour­dieu kri­ti­siert daher die Annah­me, die Vor­lie­be für bestimm­te Spei­sen habe etwas mit frei­em Wil­len und indi­vi­du­el­ler Geschmacks­ent­wick­lung zu tun.

Män­ner pro­du­zie­ren, Frau­en repro­du­zie­ren; bür­ger­li­che Schich­ten spei­sen Form, pro­le­ta­ri­sche Funktion.

Als Resul­tat des Zwangs zur „kos­ten­spa­ren­den Repro­duk­ti­on der Arbeits­kraft“ rich­tet sich der Not­wen­dig­keits­ge­schmack auf „näh­ren­de und spar­sa­me Nah­rung“. Inso­fern die bür­ger­li­che Klas­se den pro­le­ta­ri­schen Geschmack aber als frei erwähl­ter inter­pre­tiert, wird er zum „Auf­hän­ger für Klas­sen­ras­sis­mus“. Die obe­ren unter­stel­len den unte­ren Schich­ten eine zwar trot­zi­ge, aber frei­wil­li­ge Vor­lie­be für Fet­tes und Unge­sun­des (Bour­dieu 1987: 290).

2014 speisen alle Schichten Fleisch - mit geringen Abweichungen: die reichsten Männer verzehren deutlich weniger Fleisch. Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung. 2014. Fleischatlas Extra: Abfall und Verschwendung.
2014 spei­sen alle Schich­ten Fleisch – mit gerin­gen Abwei­chun­gen: die reichs­ten Män­ner ver­zeh­ren deut­lich weni­ger. Quel­le: Hein­rich-Böll-Stif­tung. 2014. Fleisch­at­las Extra: Abfall und Verschwendung.

Die ent­ge­gen­ge­setz­ten Geschmä­cker gehen zusätz­lich mit einem „Kör­per­sche­ma“ ein­her. Das sind häu­fig unbe­wuss­te Annah­men dar­über, wel­che Kon­se­quen­zen Essen für den Kör­per habe und wie die­ser Kör­per über­haupt sein sol­le. Der pro­le­ta­ri­sche, kör­per­lich arbei­ten­de Mann braucht sein Fleisch. Damit schrei­ben sich die in Zei­ten der Indus­tria­li­sie­rung gereif­ten Unter­schie­de fort: Män­ner pro­du­zie­ren, Frau­en repro­du­zie­ren; bür­ger­li­che Schich­ten spei­sen Form, pro­le­ta­ri­sche Funktion.

Gesund­heit, Schön­heit und Selbstverantwortung

Mit der Auf­lö­sung der for­dis­tisch ratio­na­li­sier­ten Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on tre­ten wir in das Zeit­al­ter des Neo­li­be­ra­lis­mus ein. Der Über­gang von einem akti­ven Sozi­al- zu einem akti­vie­ren­den Manage­ment­staat macht sich auch in der Gesund­heits­po­li­tik bemerk­bar. Der Sozio­lo­ge Ste­phan Les­se­nich (2008) stellt u. a. am Bei­spiel der Kam­pa­gne Fit statt Fett der Deut­schen Bun­des­re­gie­rung eine staat­li­che Moti­va­ti­on zur indi­vi­du­el­len Selbst­ver­ant­wor­tung fest. Um Gesund­heits­kos­ten zu redu­zie­ren, haben die Bür­ger ihre Leis­tungs­fä­hig­keit und Gesund­heit selbst in die Hand zu neh­men. Zugleich bedro­hen Ein­kom­mens­un­si­cher­hei­ten und Real­lohn­ver­lus­te die Posi­ti­on der Män­ner als aus­schließ­li­che ‚Fami­li­en­er­näh­rer‘. Nicht nur das Fleisch, der gan­ze Spei­se­plan wird so zur kon­flikt­rei­chen Aushandlungssache.

2016 brach­te LEGO die Haus­mann-Figur auf den Markt.

Die Fle­xi­bi­li­sie­rung der Arbeit führt außer­dem zur Auf­lö­sung der Mahl­zeit im Krei­se der Fami­lie, im Zuge des­sen das Aus­wärts­es­sen eine neue sozia­le und ästhe­ti­sche Bedeu­tung erlangt. Das Spei­sen in unter­schied­li­chen Gemein­schaf­ten dient weni­ger der Ernäh­rung, mehr der Kom­mu­ni­ka­ti­on und Reprä­sen­ta­ti­on (vgl. Rück­ert-John et al. 2011: 43f.).

Die­se Ästhe­ti­sie­rung bestä­ti­gen Zeit­schrif­ten wie Beef!, die sich an „Män­ner mit Geschmack“ rich­ten. Bio- und Veggie-Sie­gel sor­gen nicht nur für Ver­trau­en, son­dern auch für einen ange­mes­se­nen food und life style. Von der Nah­rungs­auf­nah­me dehnt sich die Sti­li­sie­rung auf unse­re Kör­per aus. Mit Smart­phones über­wa­chen wir unse­ren Kör­per, erhal­ten dafür Bonus­punk­te bei der Kran­ken­kas­se und prä­sen­tie­ren unser fit­tes Selbst in sozia­len Medi­en. Im neo­li­be­ra­len Selbst­ver­ständ­nis akzep­tie­ren wir die selbst­ver­ant­wort­li­che Sor­ge um unse­ren Kör­per – als Sor­ge, die hof­fent­lich auch Spaß macht. Fit for fun.

Gerade in wertekonservativen, familienzentrierten Milieus scheint die neue Rollenverteilung wenig Reibung zu verursachen: Frauen als Hauptverdiener, Männer als Hausmänner (vgl. Koppetsch und Speck 2015).
Gera­de in wer­te­kon­ser­va­ti­ven, fami­li­en­zen­trier­ten Milieus scheint die neue Rol­len­ver­tei­lung wenig Rei­bung zu ver­ur­sa­chen: Frau­en als Haupt­ver­die­ner, Män­ner als Haus­män­ner (vgl. Kop­petsch und Speck 2015).

Bour­dieus Ana­ly­se der Nach­kriegs­ge­sell­schaft zeich­net den mensch­li­chen Kör­per noch als Ergeb­nis einer ver­ge­schlecht­li­chen und stra­ti­fi­zier­ten Ernäh­rungs­wei­se. Der Neo­li­be­ra­lis­mus legt den Men­schen hin­ge­gen ein Ver­ständ­nis nahe, das den Kör­per nicht mehr als Schick­sal, son­dern als zu bear­bei­ten­de Res­sour­ce begreift. Glei­ches gilt für die sozia­le Posi­ti­on. Auch sie soll nicht mehr ein Los, son­dern eine Chan­ce sein. Jede*r ist ihres Glü­ckes Schmied*in. Kör­per sind nicht mehr Schick­sal, son­dern zu einer pre­kä­ren Gestal­tungs­auf­ga­be gewor­den, die zugleich eine Res­sour­ce für sozia­len Erfolg dar­stellt (vgl. Vil­la 2013). Unter­las­sen wir die Arbeit am Selbst, droht der Ver­lust der Aner­ken­nung: als gesun­der, erfolg­rei­cher, jun­ger Mann – zum Beispiel.

Die­ses Manage­ment kommt einer „Kunst der klei­nen Arran­ge­ments“ (Kauf­mann 2006: 31) gleich, mit der wir unser Wis­sen und Gewis­sen und die Anfor­de­run­gen gegen­wär­ti­ger Ernäh­rungs- und Kör­per­kul­tu­ren auf einen Nen­ner zu brin­gen ver­su­chen, dar­an aber häu­fig schei­tern, viel­leicht sogar schei­tern müs­sen. Die­se Wider­sprü­che zei­gen sich auch in der fami­liä­ren Auf­tei­lung der Ernäh­rungs­ver­sor­gung – sei es, dass wir uns für ega­li­tä­rer ein­schät­zen, als wir wirk­lich sind; sei es, dass wir uns für tra­di­tio­nel­ler hal­ten, als es die Lebens­um­stän­de zulassen.

Das Erbe der Industrialisierung

Ob Fleisch oder nicht – was wir essen, hängt nicht von ange­bo­re­nen, son­dern sozi­al gepräg­ten Vor­lie­ben ab. Und sie sind eine Ant­wort auf die Bedin­gun­gen, die eine kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft in all ihren Facet­ten für uns mit sich gebracht hat. Die Indus­tria­li­sie­rung schuf das Modell von männ­lich domi­nier­ter Pro­duk­ti­on und weib­lich kon­no­tier­ter Repro­duk­ti­ons­ar­beit. Kost­sät­ze leg­ten das ali­men­tä­re Exis­tenz­mi­ni­mum fest, das zum Erhalt der Arbeiter*innenfamilie nötig war.

In der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ent­fal­tet sich das gezeich­ne­te Bild: Zum einen ver­fes­tigt sich die Unter­schei­dung zwi­schen männ­lich kraft­spen­den­den und weib­lich gesun­den Spei­sen, zum ande­ren hat sich die gesell­schaft­li­che Schich­tung tief in unse­re kuli­na­ri­schen Vor­lie­ben eingegraben.

Der Neo­li­be­ra­lis­mus hat mit der Ent­gren­zung von Leben und Arbeit, dem Appell an Selbst­ver­ant­wor­tung und der Dienst­leis­tungs­ori­en­tie­rung Bedin­gun­gen gesetzt, die sich kon­flikt- und wider­spruchs­reich zum Erbe der Indus­trie­ge­sell­schaft gesel­len. Nach wie vor wird ein Exis­tenz­mi­ni­mum – kon­kret das soge­nann­te „Hartz IV“ – mit einem Ernäh­rungs­be­darf begrün­det: zwar nicht mehr mit Kalo­rien­vor­ga­ben, wohl aber mit einem „übli­chen“, d.h. sta­tis­tisch errech­ne­ten Ein­kaufs­korb. Nach wie vor ist die Ori­en­tie­rung an einem Männ­lich­keits­kon­zept des „Ernäh­rers“, der nicht unbe­dingt viel mit der Ernäh­rung, außer dem essen selbst, zu tun hat, persistent.

Wir erle­ben folg­lich ein Neben­ein­an­der ver­schie­de­ner Anfor­de­run­gen an die Ernäh­rung, die wir in klei­nen und gro­ßen Arran­ge­ments unter einen Hut bekom­men müs­sen. Und wer dar­an schei­tert, ist, so das neo­li­be­ra­le Cre­do, sel­ber schuld.

Lite­ra­tur

Bar­lö­si­us, Eva. 2011. Sozio­lo­gie des Essens. Eine sozi­al- und kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Ein­füh­rung in die Ernäh­rungs­for­schung. Wein­heim.

Becker-Schmidt, Regi­na. 2004. „Dop­pel­te Ver­ge­sell­schaf­tung von Frau­en. Diver­gen­zen und Brü­cken­schlä­ge zwi­schen Pri­vat- und Erwerbs­le­ben“. In: Ruth Becker und Bea­te Kor­ten­diek (Hg.): Hand­buch Frau­en- und Geschlech­ter­for­schung. Wies­ba­den, S. 62–71.

Bour­dieu, Pierre. 1987. Die fei­nen Unter­schie­de. Kri­tik der gesell­schaft­li­chen Urteils­kraft. Frank­furt am Main.

Fischer, Ole. 2015. „Männ­lich­keit und Fleisch­kon­sum – his­to­ri­sche Annä­he­run­gen an eine gegen­wär­ti­ge Gesund­heits­the­ma­tik“. Medi­zin­his­to­ri­sches Jour­nal 50 (1): S. 42–65.

Hau­sen, Karin. 1976. „Die  Pola­ri­sie­rung  der  ’Geschlechts­cha­rak­te­re’  –  Eine Spie­ge­lung der Dis­so­zia­ti­on von Erwerbs- und Fami­li­en­le­ben“. In: Wer­ner Con­ze (Hg.): Sozi­al­ge­schich­te der Fami­lie in der Neu­zeit Euro­pas. Stutt­gart.

Kauf­mann, Jean-Clau­de. 2006. Kochen­de Lei­den­schaft. Sozio­lo­gie vom Kochen und Essen. Kon­stanz.

Kop­petsch, Cor­ne­lia; Speck, Sarah. 2015. Wenn der Mann kein Ernäh­rer mehr ist – Geschlech­ter­kon­flik­te in Kri­sen­zei­ten. Frank­furt am Main.

Les­se­nich, Ste­phan. 2008. Die Neu­erfin­dung des Sozia­len. Der Sozi­al­staat im fle­xi­blen Kapi­ta­lis­mus. Bie­le­feld.

Pau­litz, Tan­ja; Win­ter, Mar­tin (2017): „Ernäh­rung und (ver­ge­schlecht­lich­te) Kör­per dies­seits dicho­to­mer Kate­go­rien. Theo­re­ti­sche Son­die­run­gen zur Unter­su­chung des ‚Stoff­wech­sels‘ von Gesell­schaft und Natur.“ Levia­than. Ber­li­ner Zeit­schrift für Sozi­al­wis­sen­schaft 45 (3), S. 381–403.

Rück­ert-John, Jana; John, René; Nies­sen, Jan. 2011. „Nach­hal­ti­ge Ernäh­rung außer Haus – der Ess­all­tag von Mor­gen“. In: Ange­li­ka Ploe­ger; Hirfsch­fel­der, Gun­ther; Schön­ber­ger, Gesa (Hg.). Die Zukunft auf dem Tisch. Wies­ba­den, S. 41–55.

Vil­la, Pau­la-Ire­ne. 2013. „Pre­kä­re Kör­per in pre­kä­ren Zei­ten – Ambi­va­len­zen gegen­wär­ti­ger soma­ti­scher Tech­no­lo­gien des Selbst.” In: Ralf May­er, Chris­tia­ne Thomp­son, and Micha­el Wim­mer (Hg.), Insze­nie­rung und Opti­mie­rung des Selbst. Wies­ba­den, S. 57–73.

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt die bri­ti­sche Pre­mier­mi­nis­te­rin Mar­ga­ret That­cher zusam­men mit dem frü­he­ren US-Prä­si­den­ten Ronald Rea­gan beim Din­ner an der Dow­ning Street. 1989. Zwei Jah­re zuvor ver­kün­de­te die Iron Lady eine neue Ära mit mehr Selbst­ver­ant­wor­tung und weni­ger Staat. Ihr „The­re is no such thing as socie­ty“ setz­te den ver­ba­len Auf­takt zum neo­li­be­ra­len Zeit­al­ter (Get­ty Images).

uncode-pla­ce­hol­­der

Mar­tin Winter

Mar­tin Win­ter ist Sozio­lo­ge. Er hat in Graz stu­diert, war eini­ge Jah­re an der RWTH Aachen beschäf­tigt und ist der­zeit wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Insti­tut für Sozio­lo­gie an der TU Darm­stadt. Er inter­es­siert sich für die The­men Essen und Ernäh­rung, sowie Musik und Klang.

Erschie­nen in:

Pri­va­cy Pre­fe­rence Center