«Das Verblüffendste daran ist, und zwar für sie selbst, dass sie sich in diesem Moment völlig hingibt, auch wenn nicht klar ist, ob diese Hingabe ihrer Rolle oder dem kleinen Geschöpf gilt, das sich an sie schmiegt. Sie würde gerne glauben, dass sie sich auf ihr gesundes Inventar an Werten und Normen zurückführen lässt, ihr starkes seelisches Rückgrat und vor allem auf ihre Liebe überhaupt zum menschlichen Geschlecht, dessen ganze Existenz vom mütterlichen Verantwortungsgefühl abhängt. Wenn es nur so einfach wäre. Aber sie kennt die Wahrheit.
Sie ist voller Hingabe für die Kleine, weil niemand sonst sich ihrem Baby so bedingungslos hingibt. Die Bevorzugung ist nur natürlich. Was anderes gibt es nicht. Wen anderes gibt es nicht. Wenn sie jetzt zusammenbricht, sich auflöst, wie sie es so gerne tut, und sei es auch nur kurz, dann wird das Konsequenzen haben. Und was für Konsequenzen.
Ja, sie kennt die schäbige Wahrheit: Sie erfüllt ihre Rolle mit Hingabe, weil da jemand ist, der sie beobachtet.
Sie ist so voller Hingabe, weil das eine Art Energie in ihr erzeugt, die den ganzen Körper erfasst; eine Energie, die in den Händen kribbelt und die man unmöglich als negativ empfinden kann.
Doch wenn man an der oberen Schicht kratzt, dann wartet darunter eine weitere kleine Wahrheit. Sie ist so voller Hingabe, weil das eine Art Energie in ihr erzeugt, die den ganzen Körper erfasst; eine Energie, die in den Händen kribbelt und die man unmöglich als negativ empfinden kann. Das passiert nur selten. Jedenfalls ihr. Die meiste Zeit der Schwangerschaft wie auch die meiste Zeit ihres Lebens sind die stärksten, am längsten anhaltenden Emotionen, die sie erlebt hatte, stets negativ gewesen, die positiven dagegen waren selten und kurz. Aber tatsächlich, jetzt wallen die Gefühle in ihr auf und beruhigen sich auch nicht. Sie ist sich absolut im Klaren darüber, dass dieses Empfinden nichts anderes als ein biologischer Überlebensmechanismus ist: Drogen powered by Mutter Natur. Aber wie bei einem Junkie, ob clean oder noch mitten drin, kratzt sie das nicht im Geringsten, solange die Drogen ihre Wirkung tun.» (S. 98f.)
«Die Neonatologische Intensivstation hat einen Rahmen, das sind die Zeiten und Regeln; aber die Regeln werden einem nicht systematisch und korrekt dargelegt. Ausserdem ist es wie in jedem System: Was man vorfindet, ist nicht das, was angekündigt war. Es ist vertrackter. Der Grossteil der entscheidenden Information ist nirgendwo schriftlich festgelegt und in Stein eingemeisselt, sondern eine mündliche Lehre. Man muss warten, bis diese zur Weitergabe für würdig befunden wird. Das ist der Grund dafür, warum der komplizierteste Parameter in der Neonatologischen Intensivstation natürlich der menschliche ist.» (S. 120)
Das ist der Grund dafür, warum der komplizierteste Parameter in der Neonatologischen Intensivstation natürlich der menschliche ist.
«‚Wir haben alle Schuldgefühle’, wispert ihr Nachumi ins Ohr, ‚ist doch klar: Warum konnte mein Körper das Kind nicht halten? Was hab ich falsch gemacht?‘ Und sie beruhigt sich. Nicht, weil sie wie alle anderen wäre, sondern eher, weil da jemand ist, der sie sieht in ihrer Not und Erbarmen zeigt. Erbarmen zählt nicht zu den beliebtesten Tugenden. Jedenfalls nicht, wenn es um Erbarmen mit sich selbst geht. So erregt die eine, die streng zu sich ist, das Erbarmen der anderen, und die Umarmung vereint beides: Tadel wandelt sich in Gnade.» (S. 138)
Wir haben alle Schuldgefühle.
«Schneider starrt auf Schneider, endlich kehrt Ruhe ein. Wie sehr hat sie sich nach diesem innigen Kontakt gesehnt – hatte keine Vorstellung davon, wie gross diese Sehnsucht sein kann.» (S. 145)
«In der Badewanne auf dem Rücken liegend, begutachtet sie ihre Fettfalten, die Naht am Bauch, während der heisse Dampf den Spiegel beschlägt, und begreift: Es ist egal, wie viel Kraft sie in diese Sache investiert. Aber wenn es nichts mehr zu bekämpfen gibt, das Leben sich nicht mehr um diesen Kampf dreht und sie ohnehin nichts mehr ausrichten kann, darf sie es getrost geschehen lassen, dass ihr Körper vom trüben Strom der Wirklichkeit abgetrieben wird; sie wird zurückbleiben und sich ausruhen. Ohnehin scheinen die viele Energie und die Gedanken, sie sie ins Stillen investiert, das aktuelle oder endgültige Ergebnis nicht zu beeinflussen.» (S. 171)
«Vielleicht weil sie schon seit einigen Tagen meint, keinen fleischlichen Körper mehr zu haben, nur noch telekinetische Kräfte, um allein mit den Gedanken Dinge zu lenken und zu verrücken.» (S. 173)
«Bei ihr mangelt es nicht an Verbindung zu ihrem Baby. Das Gefühl für die Kleine ist sogar sehr tief. Das Gefühl für sich selbst dagegen hat sie völlig verloren.» (S. 181)
Das Gefühl für sich selbst dagegen hat sie völlig verloren.
«Man kann sich beinahe in alles fügen. Um dieser einzigen Stunde willen. Wenn sie das Frühchen im Arm hat.
Diese Stunde vergeht wie im Flug. In tiefem Glück» (S. 186)
«Während der Schwangerschaft zog es Schneider in zwei gegensätzliche Richtungen. Einerseits sollte sie eine Bindung zu ihrem Baby herstellen, was ihrem instinktiven Wunsch folgte und im Grunde nur natürlich war, so natürlich, dass es wunderte, warum es überhaupt ausgesprochen werden musste. Experten haben verschiedene Wege aufgezeigt, wie man am besten eine Bindung zu seinem Baby aufbaut. Ihre Ratschläge kamen ihr zugleich auch seltsam vor, denn schliesslich war sie ja bereits so eng mit dem Baby verbunden, wie ein Mensch gar nicht enger mit einem anderen Wesen verbunden sein kann. Aber die Nabelschnur und ihr dehnbarer, aufgeblasener Bauchraum allein reichten dafür offenbar nicht aus. Das Wohlergehen des Babys hing davon ab, wie viel Energie bewusst in diese Verbindung floss. Sie war angehalten, dem Embryo etwas vorzusingen, es zu umarmen (wie bitte sollte sie etwas umarmen, das sich in ihrem Bauch befand?), laut mit ihm zu reden und ihm etwas zu erzählen, über sie selbst zum Beispiel. Studien haben bewiesen, dass es den Embryo beruhigt, wenn er immer wieder dieselbe Melodie hört, sodass er sich später daran erinnert wie schön es im Mutterleib war. Diese Anweisung war nicht nur völlig absurd, sondern auch stur, wie alle Anweisungen. Du musst eine vielschichtige, positive Beziehung zu diesem Embryo in deinem Bauch aufbauen.
Alles klar?
Gleichzeitig sollte sie, im Fall einer Missbildung, darauf gefasst sein, den Embryo oder später das Baby zu verlieren. Es gab unzählige Untersuchungen, fast unendlich viele. Keine Woche verging ohne irgendeine: Gentest, Blut, Zucker, Hormone, 2‑D‑Ultraschall, 3‑D‑Ultraschall (in der Warteschlange hörte sie gleich von drei Eltern hintereinander eine Anspielung auf «Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt») und so weiter. Es waren nicht die Ergebnisse, die sie wahnsinnig machten. Zwar beschäftigte sie sich pausenlos und obsessiv mit ihnen, aber auf einer tieferen Ebene gab es etwas, das sie noch viel wahnsinniger machte. Indirekt, notwendiger- und logischerweise legten die auffällig vielen Untersuchungen eine verdrängte, vergrabene innere Stimme frei, die deutlich und inständig die Botschaft vorbrachte, dass sie sich im Fall einer Missbildung darauf gefasst machen sollte, auf die Schwangerschaft zu verzichten. Und Missbildungen waren an der Tagesordnung! Bestimmte Untersuchungen konnte sie nur bis zu einem bestimmten Termin machen lassen, mit Blick auf die Entwicklung des Embryos, sodass gegebenenfalls noch ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden konnte.
Die Stimme flüsterte nicht. Sie war stumm, wortlos, aber kristallklar. Sie verbot ihr, eine zu innige Beziehung mit dem Ungeborenen aufzubauen. Es war zwar möglich, aber absolut nicht empfehlenswert, eine Bindung zu einer potenziellen Bestie in deinem Bach zu pflegen, das du zu ermorden, aufgerufen sein könntest.
Als Reaktion auf die beiden entgegengesetzten Haltungen vermied sie es einerseits, sich zu früh an ihr Baby zu binden, und andererseits, sich auszumalen, wie es wäre, wenn sie alles verlöre.
Als Reaktion auf die beiden entgegengesetzten Haltungen vermied sie es einerseits, sich zu früh an ihr Baby zu binden, und andererseits, sich auszumalen, wie es wäre, wenn sie alles verlöre. So vergass sie absichtlich, in welcher Woche sie war, wusste nur, in welchem Monat; auch wollte sie nichts davon wissen, was in jeder einzelnen Phase der Schwangerschaft in ihrem Bauch gerade vor sich ging (das hatte ohnehin etwas Dümmliches: Heute beginnen sich die Fingernägel des Embryos zu entwickeln. Wie spannend!).» (S. 192ff.)
«Da sieht sie aus dem Augenwinkel die Japanerin, deren Mädchen mit seinen knapp fünfhundert Gramm fast gestorben wäre. Und in diesem Moment wird ihr plötzlich klar: Mit ihrem Mädchen wird, wie es aussieht, alles gut gehen. Mit ihr wird alles gut gehen. Und mit einem Mal begreift sie, was es heisst, Mutter zu sein: Du willst etwas tun und kannst nicht.» (S. 200)
Und mit einem Mal begreift sie, was es heisst, Mutter zu sein: Du willst etwas tun und kannst nicht.
«Wo also genau das Problem liege? Er begreift nicht, dass sie rauswill es aber nicht kann. Die Frühchen-Station ist zu ihrem eigenen Inkubator geworden, die kollektive Mutterschaft hier drin ist die einzige Form von Mutterschaft, die sie kennt. Sie hat nichts anderes. Vielleicht ist es nicht normal, dass sie hierbleiben will, aber was ist schon normal: zwei Menschen in einer sechzig Quadratmeter-Wohnung etwa, die sich um ihren Zwei-Kilo-Nachwuchs kümmern?» (S. 202f.)
Die Frühchen-Station ist zu ihrem eigenen Inkubator geworden, die kollektive Mutterschaft hier drin ist die einzige Form von Mutterschaft, die sie kennt.
«Du bist nichts Besonderes. Dein Leid ist nichts Besonderes. Alle Familien hier sind auf ihre Weise arm dran und bezahlen genau dasselbe». (S. 209)
«Warum für solche Unsinn Geld rauswerfen? Zweihundertfünfzig Schekel für ein Kleid, das keine zwei Wochen lang hält. Warum begreift er es nicht? Worauf hofft sie im Grunde? Darauf, eine bessere Mutter zu sein. Und diese Hoffnung erfüllt sie, schäumt über und ergiesst sich in einer Kaskade von Geldscheinen.
Die Sachen selbst sind nur Werkzeuge.» (S. 216)
«Das Stillen macht unser Geschlecht aus: Wir sind Säugetiere. Dieses grundlegende Wissen, diese Selbstdefinition ist es, die uns durch die Maschine genommen und ersetzt wird. Wir lassen es zu, dass sich Stahl und Daten zwischen Mutter und Baby schieben. Inzwischen muss man uns wieder beibringen, echte Säuger zu sein; das zu sein, was wir in Wahrheit sind, denn wir selbst haben es längst vergessen. Wie Tiere in Gefangenschaft.» (S. 226)
Liat Elkayam. 2012. Aber die Nacht ist noch jung.
Antja Kunstmann Verlag. 2020
Christine Hock
Christine hat das Sprach- und Lernzentrum academia mitgegründet, das sie jahrelang geleitet hat. Seit einem Jahr schreibt sie eine Doktorarbeit über Evaluationen an Hochschulen. Christine ist Mutter von drei Kindern und liest viel.