All die Bewun­de­rung gegen das Gespenst des Alterns und Ster­bens. Ich set­ze mich auf den Bett­rand und stel­le mir vor, wie die Müdig­keit über mich hin­weg­rollt, wie ich unter ihr durch­tau­chen kann und mich die­sem Tag stel­len. Wenn der letz­te Gast weg ist und die neue Woche beginnt, wird Kurt sich der Wahr­heit stel­len müs­sen, näm­lich dass er dem Altern gegen­über nackt ist und unbe­hü­tet dage­gen antre­ten muss, kein Erfolg beschützt ihn nun und nichts hilft dage­gen, dass der Tag lang ist und man ihm ohne Berufs­tä­tig­keit und ohne Kin­der sehr wenig Erfolg abtrot­zen kann.“ (S. 89)


Immer­hin bekommt man eine Stun­de bedin­gungs­lo­se Auf­merk­sam­keit. Allein schon des­we­gen gehen Frau­en zur Kos­me­tik. Um ihre Ruhe zu haben und trotz­dem ange­fasst zu wer­den.“ (S. 103)


Ob es mich stört oder stö­ren soll, den Unter­schied habe ich nie eru­ie­ren kön­nen. Wo ich anfan­ge und die ande­ren auf­hö­ren.“ (S. 103)

Ob es mich stört oder stö­ren soll, den Unter­schied habe ich nie eru­ie­ren kön­nen. Wo ich anfan­ge und die ande­ren aufhören.


(…), sie könn­ten ein­an­der zuwin­ken, wenn sie die Hän­de frei hät­ten, eine rie­si­ge gut­bür­ger­li­che Insel­grup­pe der Betu­lich­kei­ten und dazwi­schen die berufs­tä­ti­gen Män­ner auf sanft schau­keln­den, bun­ten Boo­ten, wie schön das sein muss, um die­se Mut­­ter-Kind-Insel her­um zu leben, sie abends nach der Arbeit anzu­steu­ern, gefüt­tert, geliebt und sich fort­ge­pflanzt habend am Mor­gen wie­der in See zu ste­chen (…)“ (S. 146)


Das Ster­ben beginnt schon lan­ge vor dem Tod, es nagt sich von den Rän­dern des Lebens ins Zen­trum vor, es ver­ein­nahmt die Men­schen und ihre Häu­ser.“ (S. 152)


Aus­ser­dem wün­sche ich mir ein­mal Fran­zis­kas Hän­de in der Erde über mei­nen sterb­li­chen Über­res­ten, oder Eli­as’, wenn er zu Mut­ter­tag und Aller­hei­li­gen mit dem Enkel­kind kommt und ein paar selbst­ge­pflück­te Blu­men in die Vase steckt.“ (S. 154)


Sie spürt, wie fahr­läs­sig das Glück kon­stru­iert ist, aus Haus, Ehe, Gesund­heit des Kin­des, es ist lose zusam­men­ge­fügt, Lebens­in­hal­te, auf die sie kei­nen Ein­fluss hat, alles ist geborgt, nichts davon gehört einem wirk­lich, das Haus sowie­so nicht, aber auch die Kin­der nicht, weil sie sich jeden Moment in Gefahr brin­gen und aus dem Sys­tem neh­men kön­nen, oder weil sie vor der Geburt ster­ben müs­sen, Tom gehör­te der Fir­ma und sich selbst, und die Lie­be gehört der Ver­nunft, und die Ver­nunft gehört wie­der der Bank, es ist eine Art Kreis­lauf, in dem sich die Lie­be lächer­lich machen kann.“ (S. 165)


(…) in sei­ner gan­zen Gestört­heit fin­det sie das bewun­derns­wert, wie die­se Män­ner im Jetzt leben, mit allen Kon­se­quen­zen nie über den Moment hin­aus­den­ken, nicht die­se klein­li­che Ernst­haf­tig­keit der Bür­ger­li­chen, zu denen sie doch auch schon längst gehört, sie trinkt einen Schluck, sie muss mit der Den­ke­rei auf­hö­ren, alles Flau­sen, die nir­gend­wo­hin hin­füh­ren, und sie geht ein paar Schrit­te in den Gar­ten, der kein Gar­ten ist, son­dern ein Witz, ein Gar­ten­mo­dell bes­ten­falls, eine Unkraut­pla­ge, ein Nackt­schne­cken­ge­he­ge, ein Kat­zen­klo, sie ver­sucht sich pro­be­wei­se zu ver­ab­schie­den, wie es sich anfüh­len wür­de, das Haus zu ver­kau­fen, sie denkt, so geht viel­leicht allen, nach aus­sen spie­len sie das Glück vor und heim­lich rech­nen sie her­um, ob sich eine Tren­nung aus­geht, nur dass sich eine Tren­nung nie aus­geht, das ist das Natur­ge­setz der Vor­stadt­sied­lung, alles ist knapp genug kal­ku­liert, dass eine Tren­nung ein­fach nicht mehr ins Bud­get passt, sie wippt auf den Fuss­soh­len vor und zurück, Tom zu ver­las­sen, wie wäre das, ein böser Stich in der Brust, aber auch eine mini­ma­le Erleich­te­rung, das Gras ist kalt und nass, oder ist sie nur bos­haft, fragt sie sich, und dass man auf dem Boden blie­ben soll­te und jetzt Schluss sein muss mit die­sen Gedan­ken, abschlies­send stellt sie aber noch eines fest, von Manu­el (dem Sohn) könn­te sie sich nie­mals tren­nen, nie­mals, und sie trinkt schnell aus, stellt das Glas in den Geschirr­spü­ler und läuft hin­aus ins Schlaf­zim­mer, weil sie meint, Toms Auto vom ande­ren Ende der Sied­lung in die Tief­ga­ra­ge fah­ren zu hören.“ (S. 166)


Ob die­se Damen auf der Son­nen­ter­ras­se wis­sen, wie abhän­gig sie sind, ob ihnen das klar ist? Als Kurt sich mit sei­ner ers­ten klei­nen Gelieb­ten ein­ge­las­sen hat, hat­te ich kei­ne Ahnung, was genau pas­sie­ren wür­de, wenn Kurt sich ent­schei­den wür­de, noch­mal von vor­ne zu begin­nen. Ich hat­te geglaubt, es wäre klar, dass man ent­schä­digt wür­de, für die Kin­der­er­zie­hung, für die Schmach. Wis­sen Sie wie viel Ihr Mann ver­dient, hat­te die Anwäl­tin gefragt. Unge­fähr, habe ich gesagt. All die Ver­an­la­gun­gen oder Poli­cen, von denen ich nicht ein­mal wuss­te, wo Kurt sie auf­be­wahr­te. Ob er aus­län­di­sche Kon­ten hat? Ver­an­la­gun­gen? Natür­lich hät­te ich wei­ter­ar­bei­ten kön­nen, nach­dem die Kin­der da waren. Aber hat Kurt mich nicht beschützt vor der Schmach, unter gros­ser Kraft­an­stren­gung einen blos­sen Nasen­ram­mel zu ver­die­nen, mit dem ich nicht ein­mal ein Zehn­tel des Fami­li­en­ein­kom­mens bei­steu­ern hät­te können.

Ob die­se Damen auf der Son­nen­ter­ras­se wis­sen, wie abhän­gig sie sind, ob ihnen das klar ist?

Viel­leicht hat Kurt uns allen ein gros­ses Opfer erspart. Haben die Män­ner unse­rer Gene­ra­ti­on uns nicht unter­stützt? Heu­te heisst das Aus­beu­tung. Dabei haben sie uns bestärkt dar­in, uns zu ent­wi­ckeln, uns in die Mut­ter­rol­le oder in klas­si­sches Kos­tüm hin­ein­zu­wi­ckeln oder in ein Paar Pra­da­schu­he. Das Leben hat sich in sei­ne Form gefal­tet, und unser Glück muss dazwi­schen Platz haben.“ (S. 173)


(…) die Mut­ter­schaft ist eine Rut­sche, es geht flott berg­ab und du legst wahn­sin­ni­ge Distan­zen zurück, aber nach­her musst du alles wie­der hin­auf­ge­hen, und dabei musst du auf dich und dei­ne Plä­ne auf­pas­sen, damit sie nicht ersau­fen und von Last­wä­gen über­rollt wer­den, sieh mich an, wird sie nicht sagen, wie fett mei­ne Haa­re sind und wie unap­pe­tit­lich mein Haus­halt ist, im Spül­be­cken mei­ner Bult­haupt Küche kle­ben Nudeln und der Rest von der Fer­tig­piz­za, aber das ist der Preis, den du zahlst, damit du viel­leicht unab­hän­gig sein kannst, irgend­wann, wenn es viel­leicht sein muss, wenn es mit dem Posau­nis­ten doch nicht pas­sen soll­te, sie möch­te ihr zuru­fen, dass die Freund­schaf­ten mit den ande­ren Mut­tis nicht bestehen blei­ben, dass sie an gemein­sa­me Akti­vi­tä­ten gebun­den sind, an Baby­spiel­grup­pen und Baby­mas­sa­gen, an Baby­­­nah­rungs-Vor­­­trä­­ge, dass das Band zwi­schen ihr und den neu­en Baby­freun­din­nen immer nur so dick ist, wie die Kin­der es knüp­fen, aber Bea­tri­ce wird das schon machen, sie ist eine Spät­ge­bä­ren­de, die sich für einen Künst­ler ent­schie­den hat, das ist schon mal ein Wesens­zug, der sie von den ande­ren unter­schei­det, Kunst schützt viel­leicht vor Ver­blö­dung, und viel­leicht wird Fran­zis­ka Bea­tri­ce zur nächs­ten Lesung über­re­den müs­sen, um sie aus ihrem Fläsch­chen- und Win­­del-All­­tag zu erlö­sen, wie damals umge­kehrt. (S. 181f.)

(…) die Mut­ter­schaft ist eine Rut­sche, es geht flott berg­ab und du legst wahn­sin­ni­ge Distan­zen zurück, aber nach­her musst du alles wie­der hin­auf­ge­hen, und dabei musst du auf dich und dei­ne Plä­ne aufpassen (…)


Die Fest­lich­kei­ten sind Kno­ten­punk­te, an ihnen ver­här­ten sich Tra­di­tio­nen zu Geset­zen, nach denen wir inne­hal­ten und einen Schritt zurück­tre­ten, zurück­bli­cken, auf die Toch­ter­rol­le, Vater­rol­le, Mut­ter­rol­le, Opfer­rol­le. Es müss­te ein Fest geben, das man allei­ne fei­ert und vor­aus­fei­ert, ein Dok­­to­rin-Fran­­zis­­ka-Fest, das heu­te und hier sie mit sich selbst fei­ert, anstatt wie­der in der Grup­pe das zu tun, was alle tun, einen Abschluss fei­ern, das Ende der Frei­heit bei der Hoch­zeit, das Ende der reli­giö­sen Unge­bun­den­heit bei der Tau­fe, das Ende eines Lebens­jah­res, eines Kin­der­gar­ten­jah­res oder einer Arbeits­tä­tig­keit.“ (S. 182)


Es gäbe ihren Lieb­lings­wein und Kür­bis­creme­sup­pe zu Mit­ter­nacht, sie wür­de nur ein­la­den, wen sie woll­te, und sie wür­de auf einem Schiff fei­ern, und sie wird mit einem Mal ganz ruhig, als wür­de sie in Shava­sa­na, der Toten­stel­lung, ent­span­nen, aber im Ste­hen statt im Lie­gen, eine der schwie­rigs­ten Posi­tio­nen, sag­te die Yoga­leh­re­rin, weil wir immer agie­ren wol­len und müs­sen und nie ein­fach prä­sent sind im Jetzt, wie vor einem Mahn­mal steht sie vor der Küchen­ab­la­ge mit der Ein­la­dung da und ver­sinkt in ihrem Atem, und es wird noch ein biss­chen dau­ern, bis sie sich auf­ma­chen und das Haus ver­las­sen kann.“ (S. 183)

 

Ger­traud Klemm. Aber­land.
Dro­schl Ver­lag. 2015.