Wir erle­ben, sagen Exper­ten, eine Kata­stro­phe in Zeit­lu­pe, ein slow-moti­on dis­as­ter. Wir erle­ben, ent­geg­nen Exper­ten, einen high-speed col­lap­se und blitz­krieg­ar­ti­gen Über­fall. Natur­ge­mäß haben bei­de Recht. Von außen gese­hen ist die gegen­wär­ti­ge Pan­de­mie ein rasen­der Viren­sturm, von innen der War­te­saal einer sich deh­nen­den Gegen­wart. Der Denk­feh­ler besteht dar­in, dass nichts und nie­mand drau­ßen sitzt. Alle sit­zen in der vira­len Gegen­warts­bla­se und die Zeit ist dar­in an ihr Ende gekom­men. Ich weiß, wie es dazu gekom­men ist. Ich habe die Zeit zur Stre­cke gebracht.

Längs­tens schon woll­te ich die Zeit ver­trei­ben, wie man Flie­gen ver­treibt. Aus Lan­ge­wei­le, Spaß, Lebens­freu­de, lebens­be­ja­hen­der Pro­duk­ti­vi­tät. Weil sie mir aber im Jah­res­takt Kata­stro­phen sand­te, beschloss ich vol­ler Ingrimm, sie tot­zu­schla­gen. Sie rann­te davon.  Bewaff­net nur mit Dra­chen­zei­ger und Repe­ti­ti­ons­schlag­werk konn­te ich mit ihr kaum Schritt hal­ten. Sie dehn­te sich abwech­selnd in die Äonen und ver­knapp­te sich in Fem­to­se­kun­den. Bald blen­de­te mich ihr geld­glei­cher Anschein, bald nag­te ihr Zahn an mir. Sie wuchs zu höchs­ten Höhen und beschimpf­te mich unchrist­lich, nur um sich plötz­lich als Gute und Alte zu geben und ein Kind zu gebä­ren. End­lich war ich ihr vor­aus und erwisch­te ihren emp­find­lichs­ten Nerv. Ich leg­te zwei Fin­ger an den Puls der Zeit und spür­te, wie blei­ern sie dar­nie­der­lag. Ich schin­de­te sie in grau­sa­mer Lust im Schlag­werk, kurz über mich selbst erschre­ckend. Ich ver­kürz­te sie end­lich ohne Hem­mung mit Hooke’s Haken um ihren Kopf.

Robert Hooke, der die Experimente der <em>Royal Society</em> kuratierte, erfand vermutlich die Ankerhemmung. Wahrscheinlich entdeckte Hooke auch die Unruh – diese kleine Spiralfeder, welche die Gewichte für Uhren überflüssig machte.
Robert Hoo­ke, der die Expe­ri­men­te der Roy­al Socie­ty kura­tier­te, erfand ver­mut­lich die Anker­hem­mung. Wahr­schein­lich ent­deck­te Hoo­ke auch die Unruh – die­se klei­ne Spi­ral­fe­der, wel­che die Gewich­te für Uhren über­flüs­sig machte.

Man braucht kei­ne Patho­lo­gin, um zu erken­nen, dass die Zeit an Kopf­lo­sig­keit lei­det. Nach­dem die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on end­gül­tig mit der Ver­gan­gen­heit gebro­chen und die Frei­heit in die offe­ne Zukunft ent­las­sen hat, ist die Moder­ne mit der Ent­haup­tung der Schlan­ge aus­ge­blu­tet. Die Zeit geht nicht mehr, sie steht still, wir bewe­gen uns in ihr, im ihrem gebläh­ten Kada­ver, der Bla­se der Gegen­wart. Lang­sam und tas­tend wie Käth­chen, scher­zend und fres­send wie Fall­staff, wild und wei­nend wie Kas­san­dra, trau­rig und fieb­rig wie Leon­ce. Vier Bla­sen­him­mels­rich­tun­gen. In den Bla­sen­wän­den ticken die letz­ten Toten­uh­ren, glei­tet das Eis her­un­ter, kle­ben die Flie­gen – ver­stor­ben die Fau­na, ver­schwun­den die Luft, ver­dampft das Was­ser, ver­trock­net die Erde. Ich lege den Dra­chen­zei­ger aus der Hand und set­ze mich in die­se Stil­le unter die sanf­ten Flü­gel der Ver­blö­dung. Gerüm­pel. Ragnarök.

Sakaar, der Müllplanet des Marvel-Universums. Filmstill aus Thor: Ragnarok (Waititi 2017)
Saka­ar, der Müll­pla­net des Mar­vel-Uni­ver­sums. Film­still aus Thor: Rag­na­rok (Wai­ti­ti 2017)

In der Büch­nerpreis­re­de mein­te Tho­mas Bern­hard (1970) «über die gan­ze Geschich­te», es sei alles eine Fra­ge «der Mono­to­nie… der Uto­pie… der Idio­tie…». Die­ser Drei­schritt ist ein deut­li­ches Echo von Franz Grill­par­zers Drei­klang «Von Huma­ni­tät durch Natio­na­li­tät zur Bes­tia­li­tät.» Grill­par­zer nimmt mit der «Huma­ni­tät» den Auf­bruch der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on in die zukunfts­of­fe­ne Zeit auf. Die­se ver­wirk­licht sich in der Uto­pie selbst­be­stimm­ter Natio­nal­völ­ker. Was danach kommt, bestimmt die dia­lek­ti­sche Auf­he­bung von Huma­ni­tät und Natio­na­li­tät in Bes­tia­li­tät oder, wie bei Bern­hard von Mono­to­mie und Uto­pie in voll­kom­me­ne Idio­tie. Jetzt und heu­te, in der glo­ba­li­sier­ten Welt, in der Bla­se der aus­ge­lau­fe­nen und zur blo­ßen Gegen­wart geron­ne­nen Zeit, war­tet alles welt­weit gegen das Virus, singt und rech­net soli­da­risch. Alles, was in die­ser Hül­le aus Bes­tia­li­tät und Idio­tie pas­siert, ist nach­voll­zieh­bar, mensch­lich, not­wen­dig, alter­na­tiv­los, unge­wollt, zer­mür­bend, zer­stö­re­risch, dys­pno­isch, stu­po­rös, kata­ton und letal.

Über­trie­ben? Nein. Wir schaf­fen seit Jah­ren idio­ti­sche Kon­takt­zo­nen zwi­schen ille­gal gehan­del­ten Wild­tie­ren, die wir mit bes­tia­lisch gehal­te­nen Nutz­tie­ren zusam­men­brin­gen, weil wir uns die natür­li­chen Lebens­räu­me bru­tal und hem­mungs­los vom Nutel­la­glas in den Schlund stop­fen. Wir ver­bin­den die­se bes­tia­li­schen Kon­takt­zo­nen mit stumpf­sin­ni­gen Flug­li­ni­en und ver­kno­ten sie mit den aller­stu­pi­des­ten Orten wie Ski­re­gio­nen und Fuss­ball­sta­di­en. Damit haben wir den Men­schen in Wuhan – oder irgend­wo sonst auf der Erde – ein gigan­ti­sches Rus­si­sches Rou­lette in die Hand gedrückt, eine ticken­de Zeit­bom­be mit Brand­be­schleu­ni­ger. Jetzt fegt sie über den Glo­bus in nie erleb­ter inne­rer Lang­sam­keit. Und unse­re Sor­gen sind Schutz­mas­kenob­li­ga­to­ri­en, Som­mer­ur­laubs­grill und Wat­te­stäb­chen. Nein, es ist nicht über­trie­ben. Bes­tia­li­tät und Idio­tie ste­hen als Epi­zoo­tidio­tie auf dem Höchst­stand. Auch ich habe die Zeit in der eben­so idio­ti­schen wie bes­tia­li­schen Hoff­nung erschla­gen, damit das und das und das und das aufhört.

 

Eine Totenuhr. Das Klopfen des Gescheckten Nagekäfers in Holzwänden kündigte den nahenden Tod an.
Eine Toten­uhr. Das Klop­fen des Gescheck­ten Nage­kä­fers in Holz­wän­den kün­dig­te den nahen­den Tod an.

Bild­nach­weis

© Ave­nue.

uncode-pla­ce­hol­­der

Mar­kus Wild

Mar­kus Wild ist Phi­lo­soph, lehrt und arbei­tet an der Uni­ver­si­tät Basel. Zu sei­nen For­schungs­schwer­punk­ten zäh­len die Tier­phi­lo­so­phie, Phi­lo­so­phie des Geis­tes sowie Geschich­te der Phi­lo­so­phie. Von 2012 bis 2019 war er Mit­glied der Eid­ge­nös­si­schen Ethik­kom­mis­si­on EKAH. Seit 2016 gehört er zum Natio­na­len For­schungs­rat beim SNF.

Die­ser Arti­kel erscheint mit vie­len wei­te­ren in der ach­ten Ave­nue zum The­ma „Knap­pe Zeit“. Jetzt im Abo bestellen.

Pri­va­cy Pre­fe­rence Center