Lie­be und Roman­tik sei­en ohne Kapi­ta­lis­mus nicht zu begrei­fen. Das behaup­tet die Sozio­lo­gin Eva Ill­ouz in ihrem Buch Kon­sum der Roman­tik (2014). Die Logik des Kon­sums und öko­no­mi­schen Han­delns durch­drin­ge immer mehr die Lie­be, Part­ner­wahl und ‑wer­bung. Ein Phä­no­men, bei dem das deut­lich wird, sind die soge­nann­ten Pickup-Artists.

Neil Strauss, ein Rolling-Stone-Journalist, machte mit seinem Buch The Game (2005) die Öffentlichkeit mit der Pickup-Szene vertraut. Während zwei Jahren tauchte Strauss alias „Style“ in die Subkultur ein und wurde selbst zu einem der größ­ten Aufreisser, wie er selbst von sich behauptete.
Neil Strauss, ein Rol­ling-Stone-Jour­na­list, mach­te mit sei­nem Buch The Game (2005) die Öffent­lich­keit mit der Pick­up-Sze­ne ver­traut. Wäh­rend zwei Jah­ren tauch­te Strauss ali­as „Style“ in die Sub­kul­tur ein und wur­de selbst zu einem der größ­ten Auf­rei­ßer, wie er selbst von sich behauptete.

Mit dem Begriff Pick­up wird eine vor­wie­gend männ­lich gepräg­te Sub­kul­tur bezeich­net, die sich zum Ziel gesetzt hat, Wis­sen über erfolg­ver­spre­chen­des Flirt­ver­hal­ten zu sam­meln, ver­füg­bar zu machen und wei­ter­zu­ge­ben. Erfolg­rei­ches Flir­ten meint, einen ande­ren Men­schen ken­nen­zu­ler­nen und – je nach Absicht – mit ihm zu schla­fen, kurz: ihn „auf­zu­ga­beln“ (engl. to pick sb. up). Als Pick­up-Artists bezeich­net man Per­so­nen, die ver­meint­lich über das hier­für nöti­ge Wis­sen ver­fü­gen und ent­spre­chen­de Tech­ni­ken beherr­schen. Sie sind die Hohe­pries­ter einer omi­nö­sen Sze­ne, die sich vor­wie­gend über das Inter­net orga­ni­siert. Die­se besteht aus meist jun­gen Män­nern, die aus ver­schie­dens­ten Moti­ven ihren Weg zu Pick­up gefun­den haben und hof­fen, in die gehei­me Kunst der Ver­füh­rung ein­ge­weiht zu werden.

Die Kunst des Auf­rei­ßens prä­sen­tiert sich als Exper­ten­wis­sen. Selbst zer­ti­fi­zier­te Pro­fis bie­ten es in Büchern, Semi­na­ren oder indi­vi­du­el­len Bera­tun­gen an. Über Bloggs und You­tube-Kanä­le geben sie eine Mischung aus Tipps und Mei­nungs­stü­cken über das zeit­ge­nös­si­sche Lie­bes- und Sexu­al­le­ben zum Bes­ten. Die Ideen und Kon­zep­te rei­chen von harm­lo­sen Flirt­tipps bis zu einer poli­tisch bri­san­ten Mischung aus Neo­li­be­ra­lis­mus und Männerrechtsdiskursen.

Doch was moti­viert jun­ge Män­ner, sich Pick­up zuzu­wen­den? Vie­le Adep­ten ver­spre­chen sich eine Meta­mor­pho­se von einem Beta- zu einem Alpha-Mann. Betas wer­den in der Sze­ne Män­ner genannt, die die Idea­le der pro­gres­siv-moder­nen Gesell­schaft ver­in­ner­licht haben. Der­art zivi­li­siert und ver­weib­licht wer­den sie, so die Pick­up-Leh­re, hart von der Wirk­lich­keit bestraft. Und die bestehe eben dar­in, dass Frau­en und ande­re Män­ner zu den star­ken und auto­no­men Alphas hochschauten.

Der Begriff Alpha-Wolf taucht erst­mals in Rudolf Schen­kels Arbeit (1947) zum Ver­hal­ten von Wöl­fen in Gefan­gen­schaft (Bas­ler Zoo) auf. Schen­kel beob­ach­te­te die Her­aus­bil­dung einer Hack­ord­nung, deren Spit­ze sich eine Wöl­fin und ein Rüde tei­len. 1970 publi­zier­te David Mech, eben­falls Ver­hal­tens­for­scher, sei­ne Mono­gra­phie The Wolf: Eco­lo­gy and Beha­vi­or of an End­an­ge­red Spe­ci­es. Dar­in griff er auf Schen­kels Ter­mi­no­lo­gie und Befun­de zurück. Das Buch erschien 1981 als Taschen­buch und erreich­te eine Gesamt­auf­la­ge von 120’000 Exemplaren.

Lang­jäh­ri­ge Stu­di­en mit frei­le­ben­den Wöl­fen ver­an­lass­ten Mech in den spä­ten 1990er-Jah­ren, die Befun­de zu revi­die­ren. Die Alpha-Wöl­fe waren nichts ande­res als Eltern-Wöl­fe, die ihre Jun­gen anführten.

Gede­mü­tig­te Beta-Männer

Die jun­gen Män­ner, die sich an Pick­up wen­den, füh­len sich häu­fig ent­täuscht und gede­mü­tigt – von der Gesell­schaft, der Moder­ne, vor allem aber von Frau­en. Zuwei­len mischt sich unter den Frust eine gehö­ri­ge Por­ti­on Ver­schwö­rungs­theo­rie: Frau­en sei­en dabei, ein Matri­ar­chat zu errich­ten. Nur ihr gehei­mer Wunsch nach Unter­wer­fung brem­se ihre Herrsch­sucht. Trotz Eman­zi­pa­ti­on ver­fal­len sie, so der Pick­up-Mythos, in die ihnen vor­be­stimm­te Rol­le. Eigent­lich bevor­zug­ten sie Alpha-Män­ner, da sie selbst unter der Ero­si­on kla­rer Rol­len­ver­tei­lung und dem Auf­bre­chen der Hete­ro­nor­ma­ti­vi­tät litten.

Daryush Valizadeh alias Roosh V. schreibt u.a. Bücher, wie Frauen in unterschiedlichen Ländern ins Bett zu kriegen sind. Auf seiner Webseite Return of Kings veröffentlicht Valizadeh eigene und fremde Artikel mit frauenfeindlichen, antisemitischen und gewaltrelativierenden und -legitimierenden Inhalten.
Dary­ush Valiz­adeh ali­as Roosh V. schreibt u. a. Bücher, wie Frau­en in unter­schied­li­chen Län­dern ins Bett zu krie­gen sind. Auf sei­ner Web­sei­te Return of Kings ver­öf­fent­licht Valiz­adeh eige­ne und frem­de Arti­kel mit frau­en­feind­li­chen, anti­se­mi­ti­schen sowie Gewalt legi­ti­mie­ren­den Inhalten.

Die Krän­kungs­emp­fin­dun­gen inner­halb der Pick­up-Com­mu­ni­ty ver­lau­fen ana­log zu Degra­die­rungs­er­fah­run­gen, wie sie der­zeit in der poli­ti­schen Land­schaft zuhauf anzu­tref­fen sind. Fran­zis­ka Schutz­bach (2017) sieht Pick­up daher als eine Art Ein­stiegs­dro­ge in neu- und alter­na­tiv­rech­te Milieus. Ein deut­li­cher Beleg für die­se The­se ist vor allem der rechts­kon­ser­va­ti­ve Blog­ger und Mas­ku­list Dary­ush Valiz­adeh, der in der Sze­ne als Roosh V bekannt ist. Valiz­adeh for­dert die Rück­nah­me diver­ser Errun­gen­schaf­ten der Eman­zi­pa­ti­on. Auf­merk­sam­keit erreg­te er durch die For­de­rung, Ver­ge­wal­ti­gung straf­frei zu machen.

Im Dunst­kreis von Mas­ku­lis­mus, Anti-Femi­nis­mus, neu- und alter­na­tiv­rech­ter Dis­kur­se fin­det sich ein frucht­ba­res Milieu für die wach­sen­de Wut auf Errun­gen­schaf­ten der sozia­len Moder­ne – mit kla­ren Feindbildern.

Der Sozio­lo­ge und kri­ti­sche Männ­lich­keits­for­scher Micha­el Kim­mel hat in sei­nem Buch Angry White Men (2016) der­ar­ti­ge Gefühls­la­gen als „krän­ken­de Ent­eig­nung“ bezeich­net. Sein Bei­spiel sind die wei­ßen Män­ner in den USA. Die­se hät­ten ver­stärkt das „Gefühl, dass unsicht­ba­re Kräf­te, die grö­ßer und mäch­ti­ger sind als sie, ihnen Vor­tei­le weg­ge­schnappt haben, die ihnen zuste­hen“ (Kim­mel 2016: 35). Aus­ge­rech­net Donald Trump kam mit dem Ver­spre­chen an die Macht, die­se Vor­tei­le und die alte Welt wie­der­her­zu­stel­len. Damit spie­gelt die ame­ri­ka­ni­sche Par­kett­po­li­tik die Mikro­po­li­tik in vie­len Sub­kul­tu­ren: Von Flirt-Tech­ni­ken erhof­fen sich die jun­gen Män­ner nicht nur kurz­wei­li­gen Erfolg bei Frau­en, son­dern auch die Wie­der­erlan­gung einer gestoh­len geglaub­ten Sou­ve­rä­ni­tät. Die Erzäh­lung von Pick­up gibt den „unsicht­ba­ren Kräf­ten“ ein weib­li­ches Gesicht.

Von Flirt-Tech­ni­ken erhof­fen sich die jun­gen Män­ner nicht nur Erfolg bei Frau­en, son­dern auch die Wie­der­erlan­gung einer gestoh­len geglaub­ten Souveränität.

Neo­li­be­ra­le Ermächtigungsspiele

Der Rück­ge­winn an männ­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät bewerk­stel­ligt Pick­up mit Mit­teln, die zuhauf in neo­li­be­ra­len The­ra­pie­kon­tex­ten zur Anwen­dung kom­men: Selbst­über­win­dung, Selbst­op­ti­mie­rung und Rhe­to­rik­trai­ning. Zu Beginn eines Trai­nings müs­sen die Jün­ger ihre Ängs­te über­win­den, hier: Frau­en anzu­spre­chen. Dane­ben sol­len sie ler­nen, den öffent­li­chen Raum als ihr Jagd­re­vier zu begrei­fen. Denn die Öffent­lich­keit sei für den Beta ein rei­ner Tran­sit­raum, wo er in der Mas­se verschwindet.

In den Vide­os des eng­li­schen Pick­up-Artists Tom Tore­ro etwa wer­den jun­ge Män­ner mit ver­steck­ten Mikro­fo­nen und ihrem Lehr­meis­ter im Ohr auf die Stra­ße ent­sandt. Zunächst holp­rig und unbe­hol­fen gewin­nen sie schnell an Sicher­heit und haben auch bald die ers­ten Tele­fon­num­mern ein­ge­sam­melt. Wer mehr errei­chen will, muss Tore­ros Buch kaufen.

Pick­up funk­tio­niert im Gleich­klang mit den Idea­len des Neo­li­be­ra­lis­mus. Die Ant­wor­ten auf jed­we­de Kri­se sind Selbst­op­ti­mie­rung und Feh­ler­be­he­bung. Der Inter­net­pio­nier und Big-Data-Kri­ti­ker Evge­ny Morozov nennt das gesell­schaft­lich ver­an­ker­te wahn­haf­te Stre­ben nach Ver­bes­se­rung „Solu­ti­on­si­mus“ (2013: 25). Für alles gibt es eine Lösung oder eine App. Die neo­li­be­ra­le Gesell­schaft ist inso­fern smart, als sie alle Pro­ble­me – selbst sozia­le und poli­ti­sche – tech­nisch löst.

In zwei­fa­cher Hin­sicht basiert Pick­up dabei auf einer Vari­an­te der Spiel­theo­rie. Einer­seits sind Pro­ble­me kei­ne Pro­ble­me, son­dern Her­aus­for­de­run­gen, die sich im wort­wört­li­chen Sin­ne spie­le­risch lösen las­sen. Die Lösung ist nur eine Fra­ge nach der rich­ti­gen Kom­bi­na­ti­on von Regeln oder Algo­rith­men. Ande­rer­seits model­liert die Pick­up-Meta­pho­rik Frau­en zu Reiz-Reak­ti­ons-Maschi­nen. In den Wor­ten eines deutsch­spra­chi­gen Pickup-Artists:

Frau­en sind wie Spiel­au­to­ma­ten. Wenn du die rich­ti­gen Knöp­fe drückst, in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge und ganz genau weißt was du zu tun hast, was du machen muss… dann liebt sie dich… dann geht sie mit dir ne Bezie­hung ein, dann hast du Sex mit dir. Du kannst alles von ihr haben was du möch­test…“ (Mar­ko Polo [ab Min 5:40]).

In der Sze­ne wird das pro­fes­sio­nel­le, geplan­te und geüb­te Bezir­zen in Neu­deutsch auch als „jeman­den gamen“ bezeich­net. Und im über­tra­ge­nen Sin­ne zeigt sich die neo­li­be­ra­le Spiel­theo­rie auch im Bild des Flirt­mark­tes, das die Pick­up-Sze­ne immer wie­der bemüht.

Die Vor­aus­set­zun­gen erfolg­rei­chen Gamens sind die­sel­ben wie jene der Kon­sum- und Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft. In der Com­mu­ni­ty heißt der Schlüs­sel­be­griff hier­zu „Frame“. Sei­ne Bedeu­tung chan­giert zwi­schen „Aus­strah­lung“, „Selbst­be­wusst­sein“ und „Über­zeu­gungs­kraft“. Mal gilt er als äu­ße­re Mani­fes­ta­ti­on inne­rer Wer­te und Über­zeu­gun­gen, mal als Inbe­griff einer star­ken Welt­an­schau­ung. Einen guten Frame hat, wer selbst­be­wusst, einen schlech­ten, wer schüch­tern ist.

Die Vor­aus­set­zun­gen erfolg­rei­chen Gamens sind die­sel­ben wie jene der Kon­sum- und Dienstleistungsgesellschaft.

Die­sem Frame gilt die gan­ze neo­li­be­ra­le Opti­mie­rungs­ar­beit. Und wie für ande­re The­ra­pie­set­tings in der Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft typisch wird der Frame von außen nach innen umge­krem­pelt. Mode­tipps hel­fen den Schüch­ter­nen, „mehr“ aus sich zu machen. Ein lang­sa­mer Gang soll Betas leh­ren, „selbst­be­wusst“ auf­zu­tre­ten, eine gute Kör­per­hy­gie­ne soll die Angst neh­men, auf frem­de Men­schen zuzu­ge­hen, etc.. Die Regeln wir­ken für die Pick­up-Jün­ger ein­sich­tig: Je bes­ser der Frame, des­to bes­se­re Kar­ten im Spiel.

Egal wie aus­ge­fal­len das Äuße­re eines Pick­up-Artists schei­nen mag, die kon­stan­te Arbeit an sei­nem Frame könn­te kon­for­mis­ti­scher nicht sein: Jeder ein­stu­dier­te Anmach­spruch, jeder antrai­nier­te Bauch­mus­kel und jede über­wun­de­ne Angst zele­brie­ren den „Kult des star­ken Ichs“, wie der Sozio­lo­ge Heinz Bude (2017) den Neo­li­be­ra­lis­mus prä­gnant charakterisiert.

Serious games?

Geschlech­ter­po­li­tisch akti­ve Grup­pie­run­gen kri­ti­sie­ren Pick­up einer­seits für sei­ne Aggres­si­vi­tät, die den Ver­dacht sexua­li­sier­ter Gewalt erweckt, ande­rer­seits für sei­nen Ver­such, patri­ar­cha­le Struk­tu­ren zu ver­tei­di­gen oder wie­der­her­zu­stel­len. Bei­spiels­wei­se hat­ten zwei Arti­kel in der Zei­tung des All­ge­mei­nen Stu­die­ren­den­aus­schus­ses (Asta) der Uni­ver­si­tät Frank­furt vor Pick­up-Artists und Beläs­ti­gun­gen auf dem Cam­pus gewarnt. Die Ver­öf­fent­li­chun­gen zogen einen Rechts­streit nach sich, da sich ein Pick­up-Artist auf­grund des öffent­li­chen Pran­gers in sei­nen Per­sön­lich­keits­rech­ten ver­letzt sah (Schu­bert 2016).

Die­ser und ande­re Fäl­le wer­fen eine schwie­ri­ge Fra­ge auf: Nimmt die Kri­tik an Pick­up die­se ver­meint­li­che Kunst nicht zu ernst? Oder anders gefragt: Inwie­fern glaubt die Kri­tik selbst an die Effek­ti­vi­tät die­ser Tech­ni­ken? Wohl gemerkt: Bei der Fra­ge geht es nicht um Fäl­le wie Juli­en Blanc oder Roosh V; auch nicht um Fäl­le, die in irgend­ei­ner Form sexua­li­sier­te Gewalt gut­hei­ßen oder ver­harm­lo­sen. Zur Debat­te steht ledig­lich Pick­up als eine rhe­to­ri­sche Stra­te­gie des effek­ti­ven Flirtens.

Judith Butler anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises 2012 in der Paulskirche von Frankfurt
Judith But­ler anläss­lich der Ver­lei­hung des Ador­no-Prei­ses 2012 in der Pauls­kir­che von Frankfurt.

Die Phi­lo­so­phin Judith But­ler hat in ihrem viel­be­ach­te­ten Werk Exci­ta­ble Speech (2013) die The­se ver­tre­ten, dass auch Äuße­run­gen als Hand­lun­gen zu bewer­ten sei­en. Ent­spre­chend lässt sich argu­men­tie­ren, bei den sprach­li­chen Flirt­ver­su­chen der Pick­up-Anhän­ger han­de­le sich um Hand­lun­gen und somit um gewalt­tä­ti­ge Über­grif­fe. Indes ist But­lers Ein­schät­zung die­ser Sprach­hand­lun­gen etwas kom­pli­zier­ter. Einen Groß­teil des Buches ver­wen­det sie auf die Ana­ly­se der Sub­jek­te, die als Sprecher*innen und Empfänger*innen in sol­che Sprech­ak­te invol­viert sind. Sie kommt zum Schluss, dass hate speech – belei­di­gen­de oder ver­un­glimp­fen­de Äuße­run­gen – erst dann effek­tiv ist, wenn er öffent­lich oder juris­tisch unter­sagt wird.

Sobald der Staat Hass­re­de ver­bie­tet, steht unab­än­der­lich fest, an wen sich die Sprech­ak­te rich­ten und wie ver­let­zend sie sind. Erst in die­sem Moment erreicht Hass­re­de wirk­lich ihr Ziel: Es gibt, gleich­sam staat­lich aner­kannt, Ver­let­zun­gen und Ver­letz­te. Aus die­sem Grund plä­diert But­ler dafür, ver­un­glimp­fen­den Sprech­ak­ten mit der gan­zen Mün­dig­keit und Frei­heit eines unver­letz­ten Sub­jekts zu begeg­nen: sie las­sen sich zurück­wei­sen, unter­lau­fen, iro­ni­sie­ren, baga­tel­li­sie­ren, bloß­stel­len usw.

Sobald der Staat Hass­re­de ver­bie­tet, steht unab­än­der­lich fest, an wen sich die Sprech­ak­te rich­ten und wie ver­let­zend sie sind.

Judith But­ler greift in Exci­ta­ble Speech auf die Sprech­akt­theo­rie von John L. Aus­tin (1955) zurück. Dar­in unter­schei­det er zwi­schen illo­ku­tio­nä­ren und per­lo­ku­tio­nä­ren Sprachhandlungen.

Aus­sa­gen wie „Hier­mit erklä­re ich den Krieg.“ oder „Hier­mit ver­ur­tei­le ich Dich zu einer Stra­fe.“ sind illo­ku­tio­nä­re Akte, die etwas machen, indem sie es sagen. Die Aus­sa­ge und der Effekt der Aus­sa­ge fal­len zeit­lich zusam­men. Krieg herrscht in dem Augen­blick, in dem er erklärt wird. Eine Ver­ur­tei­lung erfolgt, wenn sie aus­ge­spro­chen wird.

Bei per­lo­ku­tio­nä­ren Akten hin­ge­gen fal­len Effekt und Aus­sa­ge aus­ein­an­der. „Bit­te schlie­ße das Fens­ter.“ ist eine Sprach­hand­lung, die erst dann erfüllt ist, wenn der Effekt nach einer gewis­sen Zeit (hof­fent­lich) auch eintritt.

Die ent­schei­den­de Fra­ge ist, wie etwa die Aus­sa­ge „Du bist häss­lich.“ zu inter­pre­tie­ren ist. Ver­steht man sie als einen illo­ku­tio­nä­ren Akt, wird die ange­spro­che­ne Per­son tat­säch­lich zu einer häss­li­chen Per­son degra­diert. Ver­steht man sie hin­ge­gen als per­lo­ku­tio­nä­ren Akt, steht es der so ange­spro­che­nen Per­son frei, sich zu die­sem Akt zu verhalten.

Die Beob­ach­tung, dass ver­un­glimp­fen­de Bezeich­nun­gen wie „nig­ger“, „bitch“ oder „gay“ von den so ange­spro­che­nen Men­schen etwa im Rap iro­nisch resi­gni­fi­ziert wor­den sind, moti­vie­ren But­ler dazu, eine Aus­sa­ge wie „Du bist häss­lich.“ als einen per­lo­ku­tio­nä­ren Akt mit offe­nem Ergeb­nis zu interpretieren.

Die Offen­heit geht hin­ge­gen ver­lo­ren, wenn eine Auto­ri­tät wie der Staat die Bedeu­tung einer sol­chen Aus­sa­ge festlegt.

Eine ähn­li­che Kon­stel­la­ti­on liegt beim Fall Asta ver­sus Pick­up vor. Denn der Mythos der dunk­len Ver­füh­rungs­künst­ler mit geheim­nis­vol­ler Macht über ande­re Men­schen wird mit der publi­zier­ten War­nung ein Stück weit unge­prüft bekräf­tigt. Zum einen bestä­tigt sie die Wirk­sam­keit der Flirt­tech­ni­ken, zum ande­ren unter­stellt sie hilf­los aus­ge­lie­fer­te Opfer. Ohne tat­säch­li­che Beläs­ti­gun­gen auf dem Frank­fur­ter Cam­pus rela­ti­vie­ren zu wol­len, ist kri­tisch zu prü­fen, ob die enor­me Auf­merk­sam­keit und die geschür­te Angst den Nim­bus der Pick­up-Artis­ten nicht zusätz­lich verstärkt.

Mit Pick­up spielen

Pick­up ver­sucht, mit teils pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen oder eso­te­ri­schen Mit­teln das Selbst­be­wusst­sein von Män­nern auf­zu­mö­beln. Dar­in unter­schei­det sich das Phä­no­men aber nicht von ande­ren neo­li­be­ra­len The­ra­pie- und Selbst­er­mäch­ti­gungs­kur­sen, die einem „Kult des star­ken Ichs“ (Bude 2017) hul­di­gen. Und da Pick­up so offen­sicht­lich mit den Idea­len einer Kon­sum- und Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft Hand in Hand geht, ist es alles ande­re, nur das nicht: subversiv.

Lite­ra­tur

Bude, Heinz. 2017. Das Gefühl in der Welt. Bonn.

But­ler, Judith. 1997. Exci­ta­ble Speech: A poli­tics of the Per­for­ma­ti­ve. Ber­lin.

Ill­ouz, Eva. 2007. Der Kon­sum der Roman­tik, Frank­furt am Main.

Kim­mel, Micha­el. 2016.  Angry White Men: Die USA und ihre zor­ni­gen Män­ner. Bonn.

Morozov, Evge­ny. 2013. Smar­te neue Welt. Digi­ta­le Tech­nik und die Frei­heit des Men­schen. Mün­chen.

Schutz­bach, Fran­zis­ka. 2017. „ ‚Ich kann euch alle haben.‘ Mas­ku­li­ni­täts­ideo­lo­gien und Rechts­na­tio­na­lis­mus“. In: geschicht​e​der​ge​gen​wart​.ch, 8.Oktober 2017. Online: http://​geschicht​e​der​ge​gen​wart​.ch/​i​c​h​-​k​a​n​n​-​e​u​c​h​-​a​l​l​e​-​h​a​b​en/

Schu­bert, Fran­zis­ka. 2016. „ ‚Pick-Up-Artist‘ ver­klagt Asta“. Frank­fur­ter Rund­schau, 15.01.2016. Online: http://​www​.fr​.de/​f​r​a​n​k​f​u​r​t​/​c​a​m​p​u​s​/​g​o​e​t​h​e​-​u​n​i​v​e​r​s​i​t​a​e​t​-​p​i​c​k​-​u​p​-​a​r​t​i​s​t​-​v​e​r​k​l​a​g​t​-​a​s​t​a​-​a​-​3​8​8​079

Bild­nach­weis

Das Titel­bild zeigt Dag­ger, wie sie einen schwer bewaff­ne­ten Wach­mann über­wäl­tigt. Scan aus dem Comic­buch Spi­der-Man – Von Shang­hai bis Paris. 2017. Geschrie­ben von Dan Slott, gezeich­net von Matteo Buf­fa­g­ni und Giu­sep­pe Camun­co­li. © Marvel.

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Jör­an Klatt

Jör­an Klatt ist Redak­teur bei INDES. Zeit­schrift für Poli­tik und Gesell­schaft und Mit­ar­bei­ter am Göt­tin­ger Insti­tut für Demo­kra­tie­for­schung. Er pro­mo­viert an der Uni­ver­si­tät Hil­des­heim. Zu sei­nen For­schungs­schwer­punk­ten gehö­ren poli­ti­sche Kul­tur­for­schung sowie Sprach- und Kommunikationswissenschaften.

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