Woran erkennt man, dass man wirk­lich etwas Neu­es anfängt? Dass man sich wie ein Hoch­stap­ler vor­kommt. Das Jahr war 1990, glau­be ich. Ich war ein schüch­ter­ner Dok­to­rand und hat­te mich bewor­ben, an einer Tagung über Riten und Ritua­le im Mit­tel­al­ter teil­zu­neh­men, als Zuhö­rer. Es spra­chen berühm­te Spe­zia­lis­ten aus Paris, Flo­renz und New York, und genau­so auf­re­gend und exo­tisch war der Ort: Eri­ce auf Sizi­li­en, eine mit­tel­al­ter­li­che Stadt auf einem Berg­gip­fel hoch über dem Meer. Getagt wur­de in einem luxu­ri­ös reno­vier­ten Klos­ter aus dem 13. Jahr­hun­dert, das dem Ver­an­stal­ter gehör­te, einer etwas geheim­nis­vol­len Stif­tung für den Frieden.

Erice (© Szczepan Janus, Flickr)
Eri­ce (© Szc­ze­pan Janus, Flickr)

Die Stif­tung bezah­le auch alles, wur­de uns am ers­ten Abend mit­ge­teilt, nicht nur den berühm­ten Pro­fes­so­ren, son­dern auch den Dok­to­ran­den: Kos­ten­lo­ses Abend­essen in allen Restau­rants der Stadt, wenn wir nur unse­ren Teil­neh­mer­aus­weis vor­zeig­ten. Ich hat­te vor­her nie genü­gend Geld gehabt für so etwas im Urlaub. Weis­se Tisch­tü­cher, polier­te Wein­glä­ser, und das Essen war fabel­haft. „Weißt Du, wie ich mir vor­kom­me?“ flüs­ter­te der net­te israe­li­sche Kol­le­ge, der neben mir sass. „Wie ein Hoch­stap­ler. Ich den­ke dau­ernd, gleich legt mir jemand die Hand auf die Schul­ter und sagt: Sie kom­men jetzt bes­ser unauf­fäl­lig mit. Es ist alles herausgekommen.“

Gefälsch­te Zeichen

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Sar­ko­phag von Fried­rich II. (1194–1250) in der Kathe­dra­le von Paler­mo (© José Luiz Ber­nar­des Ribeiro)

Die Figur des Hoch­stap­lers passt gut zu Riten und Ritua­len, und zum Mit­tel­al­ter sowie­so, denn da tauch­ten die ers­ten Berich­te von erfolg­rei­chen Hoch­stap­lern auf. 1225 gab sich in Flan­dern ein Spiel­mann und Gauk­ler mit gros­sem Erfolg als König Bal­du­in IV. von Jeru­sa­lem aus, wun­der­ba­rer­wei­se wie­der auf­er­stan­den und von der Lepra geheilt; ähn­lich der Mann mit dem schö­nen Namen Diet­rich Holz­schuh, der 60 Jah­re spä­ter als wie­der­ge­kehr­ter Kai­ser Fried­rich II. von Hohen­stau­fen auftrat.

Dass das jewei­li­ge Ori­gi­nal zu die­sem Zeit­punkt schon über 30 Jah­re tot war, hat die zahl­rei­chen Anhän­ger bei­der Wie­der­gän­ger wei­ter nicht gestört: Schliess­lich konn­ten sie signa verisi­mi­la vor­zei­gen, wah­re Zei­chen, dass sie tat­säch­lich der wun­der­bar von den Toten auf­er­stan­de­ne Herr­scher sei­en – ver­mut­lich Herr­scher­insi­gni­en oder Kör­per­zei­chen wie Narben.

In einer Welt ohne Zen­tral­ver­wal­tung, in der sich jeder in einer neu­en Stadt eine neu­en Namen und – genü­gend Bar­geld vor­aus­ge­setzt – eine neu­en Stand zule­gen konn­te, müs­sen der­ar­ti­ge Fäl­le ziem­lich häu­fig gewe­sen sein. Um Betrug vor­zu­beu­gen, wur­den des­halb im 15. und 16. Jahr­hun­dert die ers­ten Aus­wei­se obli­ga­to­risch: Zuerst für Diplo­ma­ten, dann für Sol­da­ten, Bett­ler und Pil­ger aus­ge­stellt, wur­den sol­che offi­zi­ell besie­gel­te Doku­men­te dann rasch allen Rei­sen­den zu Pflicht gemacht – wenigs­tens auf dem Papier.

Gefälsch­te Papiere

Am Beginn der Neu­zeit begann der Staat, mög­lichst viel über sei­ne Unter­ta­nen auf­zu­schrei­ben und sie mit Hil­fe von Sie­geln, For­mu­la­ren und Papier – sehr viel Papier! – zu erfas­sen und zu kon­trol­lie­ren. Man kann es auch anders sagen. In den­sel­ben Jahr­zehn­ten, in denen die ers­ten Auto­bio­gra­fien in der ers­ten Per­son Sin­gu­lar geschrie­ben und die ältes­ten Selbst­por­träts gemalt wur­den, die viel zitier­te (und noch häu­fi­ger ver­kitsch­te) „Ent­de­ckung des Ich“ im Euro­pa der Renais­sance, ging es nicht nur um Erfor­schung, son­dern auch um Erfin­dung des eige­nen Selbst. Und zwar mit Hil­fe von Papier.

Im Euro­pa der Renais­sance ging es nicht nur um Erfor­schung, son­dern auch um Erfin­dung des eige­nen Selbst. Und zwar mit Hil­fe von Papier.

Im 16. Jahr­hun­dert wur­de in Euro­pa jene Ver­wal­tungs­uto­pie for­mu­liert, die von nun an Indi­vi­dua­li­tät und Iden­ti­fi­ka­ti­on bestim­men soll­te: „Alles Auf­schrei­ben“. Das Kon­zil von Tri­ent hat­te 1563 das Decre­tum Tamet­si ver­ab­schie­det, das allen Pfar­rei­en Tauf- und Hei­rats­re­gis­ter vor­schrieb: Damit soll­ten damit heim­li­che Namens­wech­sel, Biga­mie und Dop­pel­le­ben ver­hin­dert wer­den. Der fran­zö­si­sche Jurist Jean Bodin schlug 1576 sogar vor, alle Unter­ta­nen von Amts wegen mit Namen, Stand und Wohn­ort zu erfas­sen, um Betrü­ger, Bett­ler und Müs­sig­gän­ger end­lich zu iden­ti­fi­zie­ren, die „sich unter den Anstän­di­gen auf­füh­ren wie Wöl­fe unter Scha­fen“ (Bodin 1583/​1986, S. 311)

In die­ser neu­en Welt, in der die Staa­ten beschlos­sen hat­ten, an ihre eige­nen büro­kra­ti­sche Beschei­ni­gun­gen auf Papier zu glau­ben, ent­stan­den eben auch für die Wöl­fe wun­der­vol­le neue Mög­lich­kei­ten: Das gol­de­ne Zeit­al­ter der Hoch­stap­ler brach an. Denn wie ihre Zwil­lings­brü­der, die Spio­ne, hat­ten die immer ein­drucks­vol­le Papie­re. Das Ech­te an all den neu­en obrig­keit­li­chen Per­so­nal­do­ku­men­ten war Pro­dukt von Ver­viel­fäl­ti­gungs­tech­ni­ken im Wort­sinn: Stem­pel, Sie­gel und gedruck­te For­mu­la­re. Die­se repro­du­zier­ten Zei­chen der Echt­heit wur­den aber im Zeit­al­ter der Ver­viel­fäl­ti­gung, das mit Holz­schnitt und Buch­druck ange­bro­chen war, von tech­nisch begab­ten Indi­vi­du­en selbst wie­der reproduziert.

Das gol­de­ne Zeit­al­ter der Hochstapelei

Max Brod hat 1925 die Geschichte von David Reuveni aufgearbeitet
Max Brod hat 1925 die Geschich­te von David Reu­veni aufgearbeitet.

Ein­drucks­vol­le Emp­feh­lungs­schrei­ben und Doku­men­te konn­te des­halb schon jener David Reu­veni vor­zei­gen, der 1524 zuerst in Vene­dig, dann in Lis­sa­bon und schliess­lich in Man­tua auf­trat: Er sei der Bru­der eines mäch­ti­gen jüdi­schen Königs, gab er an, Herr­scher über ein sagen­haf­tes Reich namens „Hab­or“ weit im Osten, und sei bereit, mit 300,000 Mann sofort das Osma­ni­sche Reich anzu­grei­fen und Jeru­sa­lem zu befrei­en. Alles, was er dafür brau­che, sei ein wenig Geld, um neue Kano­nen zu kaufen.

Ori­gi­nal­do­ku­men­te konn­te auch der Mann prä­sen­tie­ren, der 1555 als König Edward VI. von Eng­land von sich reden mach­te: Er sei nicht gestor­ben, son­dern nur schwer erkrankt und jetzt eben wun­der­ba­rer­wei­se wie­der geheilt. In den 1580er und 1590er Jah­ren erschie­nen gleich meh­re­re Wie­der­gän­ger des 1578 auf dem Schlacht­feld gefal­le­nen Sebas­ti­an von Por­tu­gal. 1605/​06 ergriff in Russ­land jener Deme­tri­os die Macht, der behaup­te­te, der 1591 von Boris Godun­ov ermor­de­te Zare­witsch zu sein.

Der falsche Dimitri war für kurze Zeit russischer Zar (Bild: Die letzten Minuten des falschen Dimitri von Carl Bogdanovich Wenig 1879) Carl Bogdanovich Wenig
Der fal­sche Dimi­t­ri war für kur­ze Zeit rus­si­scher Zar (Bild: Die letz­ten Minu­ten des fal­schen Dimi­t­ri von Carl Bog­d­a­no­vich Wenig 1879)

Wech­sel­vol­ler ver­lief die Kar­rie­re von Jean All­ard: In Frank­reich gebo­ren, stieg er in den 1570er Jah­ren in Schwe­den zum Gärt­ner am Königs­hof und wur­de schliess­lich mit dem Amt des schwe­di­schen Bot­schaf­ters in Vene­dig betraut. Mit Beschei­ni­gun­gen über gro­ße Sum­men, die hoch­ge­stell­te Per­so­nen ihm angeb­lich schul­de­ten, und Papie­ren über den angeb­li­chen Ver­kauf schwe­di­scher Schif­fe und Artil­le­rie konn­te All­ard in Vene­dig und Mai­land umfang­rei­che Kre­di­te auf­neh­men. Der Mann muss char­mant gewe­sen sein: Von der Inqui­si­ti­on wegen kri­ti­scher Bemer­kun­gen über den Hei­li­gen Stuhl inhaf­tiert, schaff­te er es in Rom, nicht nur frei­ge­las­sen zu wer­den, son­dern zum per­sön­li­chen Pro­te­gé des Papsts aufzusteigen.

Nach einer unter skan­da­lö­sen Umstän­den geschei­ter­ten Ver­lo­bung mit einer rei­chen Erbin muss­te All­ard dann aller­dings rasch wei­ter. Er schaff­te es, mit Beschei­ni­gun­gen über Geld­sum­men, die ihm angeb­lich von Hei­li­gen Stuhl zustün­den, am Hof des pro­tes­tan­ti­schen Her­zogs Hein­richs von Navar­ra in Süd­frank­reich zu einer ein­fluss­rei­chen Figur zu wer­den. Als ihn dort Nach­rich­ten über sei­ne schwe­di­sche Ver­gan­gen­heit ein­hol­ten, wech­sel­te er 1582 zu den katho­li­schen Erz­fein­den des Her­zogs, an den Pari­ser Hof von König Hein­rich III. Von dort ging All­ard in die Schweiz. In Genf und Basel gab er sich als fran­zö­si­scher Diplo­mat aus und nahm unter Beru­fung auf sei­ne Ver­bin­dun­gen in höchs­te poli­ti­sche Krei­se wei­te­re Kre­di­te auf: Luzern ver­lieh die­sem wich­ti­gen Mann sogar das Bür­ger­recht. Anstel­le die dafür ver­spro­che­nen 20 000 Gold­stü­cke zu bezah­len, ver­ließ All­ard die Stadt über Nacht, sicher­te sich in Bern unter Vor­zei­gung ein­drucks­vol­ler Emp­feh­lungs­schrei­ben und Schuld­schei­ne erneut Vor­schüs­se und wur­de auf Betrei­ben ech­ter fran­zö­si­scher Diplo­ma­ten in Neu­châ­tel fest­ge­nom­men. Beim Ver­such, dort aus dem Fens­ter sei­nes Gefäng­nis­ses zu klet­tern, glitt er aus und stürz­te töd­lich ab.

Das mas­kier­te Ich

Ein direk­ter Zeit­ge­nos­se von All­ard, der Diplo­mat und Phi­lo­soph Michel de Mon­tai­gne, hat in den­sel­ben Jah­ren in sei­nen Essais die gründ­li­che Selbst­er­kun­dung zum Pro­gramm erho­ben: „Ich sel­ber, Leser,“ so sei­ne Vor­re­de, „bin also der Gegen­stand die­ses Buches.“ Und bemerk­te wei­ter hin­ten tro­cken: „Die Ver­stel­lung ist eines der auf­fäl­ligs­ten Kenn­zei­chen unse­res Jahr­hun­derts.“ Das erscheint als Fazit in jenem Abschnitt, der vom Reden über sich selbst handelte.

War also in jedes Reden über sich selbst Betrug und Hoch­sta­pe­lei immer schon ein­ge­schrie­ben? Im Zeit­al­ter erbit­ter­ter blu­ti­ger Kämp­fe um reli­giö­sen Wahr­heits­an­spruch, rich­ti­ge See­l­en­er­for­schung und Selbst­aus­kunft war das beun­ru­hi­gen­der Stoff. Unter Mon­tai­gnes gelehr­ten Kol­le­gen kur­sier­ten Gerüch­te über ein Buch, das Von den drei Hoch­stap­lern (lat. De tri­bus imposto­ri­bus) heis­se und Moses, Jesus Chris­tus und Moham­med als die gröss­ten aller Betrü­ger ent­lar­ve. Poli­ti­sche Geg­ner war­fen ein­an­der gegen­sei­tig vor, die­se teuf­li­sche Schrift zu besit­zen und zu ver­brei­ten; so unter­schied­li­che Autoren wie Boc­c­ac­cio, Are­ti­no, Rabelais, Giord­a­no Bru­no und Tom­ma­so Cam­pa­nella wur­den als Ver­fas­ser ver­däch­tigt. Exis­tiert hat das Buch wirk­lich. Ver­fasst wor­den ist es aber erst nach­träg­lich, um 1680, nach­dem Ver­stel­lung und Simu­la­ti­on über mehr als hun­dert Jah­re zum belieb­ten The­men für Debat­ten unter Gelehr­ten gewor­den waren.

Mani­pu­la­ti­on, Täu­schung und Ver­stel­lung sind in jede sol­che Selbst­dar­stel­lung immer buch­stäb­lich mit eingeschrieben.

Einer der berühm­tes­ten Natur­for­scher und Phi­lo­so­phen der Frü­hen Neu­zeit, René Des­car­tes, führ­te selbst­be­wusst das latei­ni­sche Mot­to Lar­vat­us pro­deo – „Mas­kiert kom­me ich vor­an“. Anwei­sun­gen wie das Hand­ora­kel des Jesui­ten Bal­ta­sar Gra­ciàn von 1647 lehr­ten, wie man mehr­deu­tig rede, sich geän­der­ten Situa­ti­on am bes­ten anpas­se und am geschick­tes­ten simu­lie­re (vgl. dazu Groeb­ner 2004). 

Die „ers­te Dame Euro­pas“. Maria The­re­sia, Erz­her­zo­gin von Öster­reich, Köni­gin von Ungarn und Böh­men, dar­ge­stellt mit Mas­ke (gemalt von Mar­tin van Mey­tens ca. 1744)

Wenn jeder unun­ter­bro­chen Aus­kunft geben muss, wer er ist, wo er her­kommt, wor­an er wirk­lich glaubt, und wenn gros­se Appa­ra­te von Inqui­si­to­ren, Kon­trol­leu­ren und Inspek­to­ren, geschaf­fen wer­den, um her­aus­zu­fin­den, ob das auch wirk­lich stimmt, dann ist das Reden über Wahr­heit von Poli­tik und Macht eben nicht zu tren­nen – Mon­tai­gne, Des­car­tes, Gra­ciàn und ihre Kol­le­gen waren ja nicht weni­ger kom­pli­ziert als wir. Und getraut haben sich die Leu­te im 16. und 17. Jahr­hun­der­ten auch min­des­tens so viel wie heu­te, wie die Hoch­stap­ler­kar­rie­ren von All­ard und ande­ren zei­gen. Das eige­ne „Ich“ doku­men­tie­ren und her­zei­gen ist nie nicht nur Pri­vat­sa­che. Mani­pu­la­ti­on, Täu­schung und Ver­stel­lung sind in jede sol­che Selbst­dar­stel­lung immer buch­stäb­lich mit ein­ge­schrie­ben. Aber kommt einem das im Zeit­al­ter des gehack­ten Por­tals MySpace, von „Don’t Be Evil“-Google und „Nur Klarnamen!“-Facebook nicht irgend­wie bekannt vor?

Hoch­ge­sta­pel­te Kontrolle

Der Auf­stieg des Hoch­stap­lers in Euro­pa vor fünf Jahr­hun­der­ten voll­zog sich gleich­zei­tig mit unab­läs­si­gen Bemü­hun­gen um immer zuver­läs­si­ge­re Sys­te­me von Beschrei­bung, Erfas­sung und Kon­trol­le. Alle die­se Sys­te­me muss­ten not­wen­di­ger­wei­se selbst Aspek­te der Fik­ti­on ent­hal­ten (oder, wenn uns das bes­ser gefällt, der admi­nis­tra­ti­ven Abs­trak­ti­on), wenn sie leben­di­ge und wirk­lich exis­tie­ren­de Per­so­nen durch Auf­schrei­ben und Regis­trie­ren fest­hal­ten und sozu­sa­gen ver­viel­fäl­ti­gen woll­ten. Insti­tu­tio­nen set­zen sich nicht des­halb durch, weil sie sich der ihnen umge­ben­den Wirk­lich­keit mög­lichst effi­zi­ent anpas­sen. Im Gegen­teil, Insti­tu­tio­nen wer­den des­halb zu sol­chen, weil sie selbst über ihre Wirk­sam­keit hoch­sta­peln; weil sie ihre eige­nen Kri­te­ri­en der Wirk­lich­keit über­zie­hen und sie dadurch verändern.

Hochgestapelte Kontrolle: 18 Millionen Wehrmachtsakten (Foto: Timo Beurich, BZ-Berlin)
Hoch­ge­sta­pel­te Kon­trol­le: 18 Mil­lio­nen Wehr­machts­ak­ten (Foto: Timo Beu­rich, BZ-Berlin)

So erzählt das jeden­falls einer, der es wis­sen muss. Gert Pos­tel, gebo­ren 1958, ehe­ma­li­ger Post­bo­te, hat­te sich am Beginn der 1980er Jah­re mit gefälsch­ten Urkun­den mehr­fach als Not­arzt und psych­ia­tri­scher Fach­arzt aus­ge­ge­ben, bevor er als Dr. med. phil. Cle­mens Bar­thol­dy in Nord­deutsch­land als Amts­arzt ein­ge­stellt wur­de. Er hat­te sich schon erfolg­reich auf einen neu­en Job an einer Uni­ver­si­täts­kli­nik bewor­ben, als ihm 1984 ver­lo­re­ne Aus­wei­se, aus­ge­stellt auf unter­schied­li­che Namen, zum Ver­häng­nis wur­den. (Die Erfin­dun­gen des 15. Jahr­hun­derts haben eben lan­ge Nach­wir­kun­gen.) 1995 wur­de er erneut als Ober­arzt in einem psych­ia­tri­schen Fach­kran­ken­haus ange­stellt – dies­mal unter sei­nem rich­ti­gen Namen, plus ein­drucks­vol­lem gefälsch­tem aka­de­mi­schem Lebens­lauf. Er prak­ti­zier­te mehr als zwei Jah­re. Die Beför­de­rung zum Chef­arzt hat­te er schon in der Tasche, als alles her­aus­kam. 1999 wur­de er wegen Urkun­den­fäl­schung, Betrug und Miss­brauchs von aka­de­mi­schen Titeln zu vier Jah­ren Haft ver­ur­teilt und wegen guter Füh­rung nach zwei Jah­ren ent­las­sen. Ein sym­pa­thi­scher Mensch; mit vie­len erfolg­rei­chen Fern­seh­auf­trit­ten. Autor eines Best­sel­lers ist er mitt­ler­wei­le auch: Dok­tor­spie­le (Pos­tel 2001) heisst das Buch, in dem er sich als Hoch­stap­ler unter ande­ren Hoch­stap­lern beschreibt, sei­nen Dok­tor­kol­le­gen mit ech­ten Titeln. Und es gibt eine Gert-Pos­tel-Gesell­schaft, die ver­langt, das ihm der Nobel­preis ver­lie­hen wird.

Unter­wür­fi­ge Hoch­sta­pe­lei in der (Geistes-)Wissenschaft

Hät­te mich das beru­higt, als ich mir auf mei­ner ers­ten Kon­fe­renz auf Sizi­li­en wie ein Hoch­stap­ler vor­kam? Die wun­der­bar dotier­ten Kon­fe­ren­zen in Eri­ce gab es noch ein paar Jah­re. Dann kam der gros­se Kor­rup­ti­ons­skan­dal der Tan­gen­to­po­li, gefolgt von der der Ope­ra­ti­on mani puli­te, sau­be­re Hän­de, der gros­se Tei­le der eta­blier­ten ita­lie­ni­schen Poli­ti­ker für immer von der Macht ver­bann­te. Eini­ge wan­der­ten kurz­zei­tig sogar ins Gefäng­nis, auch auf Sizi­li­en. Die dis­kre­te Stif­tung gibt es noch, soweit ich weiss. (Ihre Home­page ist nicht so rich­tig aus­kunfts­freu­dig.) Aber die gross­zü­gig finan­zier­ten Kon­fe­ren­zen für His­to­ri­ker hör­ten Mit­te der 1990er Jah­re abrupt auf.

Und über die­se betrü­ge­ri­sche Welt der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten wol­le er jetzt einen zwei­ten Roman schreiben.

Ein Hoch­stap­ler ist ein Hoch­stap­ler, weil er es immer wie­der ver­sucht. Er kön­ne sich durch­aus vor­stel­len, hat Pos­tel in einem Inter­view (Mül­ler 2016) gesagt, glaub­wür­dig als Jurist auf­zu­tre­ten, am liebs­ten als Rich­ter an einem Land­ge­richt – aber nur im Straf­recht, sagt er, beim Zivil­recht gehe es nur mit ech­ten Kennt­nis­sen. Über die aka­de­mi­sche Welt der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten dage­gen urteilt er hart. Er sei län­ge­re Zeit mit einer Pro­fes­so­rin für Geschich­te ver­hei­ra­tet gewe­sen, ver­trau­te er sei­nem Inter­view­er an. Dort herrsch­ten unglaub­li­che Arro­ganz und Hoch­mut. Und über die­se betrü­ge­ri­sche Welt der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten wol­le er jetzt einen zwei­ten Roman schreiben.

Pos­tels Inter­view­er, ein pro­mo­vier­ter His­to­ri­ker, hat ihm übri­gens abge­ra­ten. Obwohl es mehr His­to­ri­ker als Psych­ia­ter gäbe, inter­es­sier­ten sich nur weni­ge Leu­te für deren Arbeit, sag­te er; und vor His­to­ri­kern – im Gegen­satz zu Psych­ia­tern – fürch­te sich auch nie­mand. Oder ist auch das ein raf­fi­nier­tes Manö­ver? Auf­fäl­lig ist zumin­dest, dass alle Pro­fes­so­ren für Geschich­te, die ich ken­ne, in der Rück­schau behaup­ten, sie hät­ten nie Pro­fes­sor wer­den wol­len: Es habe sich ein­fach so ergeben.

Bei mir ist das auch so. Denn das wuss­ten schon die Gelehr­ten vor vier Jahr­hun­der­ten: Nie zu dick auf­tra­gen, wenn es um einen sel­ber geht. Viel bes­ser, sich auf den Zufall zu beru­fen, auf das eige­ne Glück: Man sei eben zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort gewe­sen. Und das stimmt natür­lich auch. Denn erzeugt wird ein Wis­sen­schaft­ler von den Insti­tu­tio­nen, die ihn beschäf­ti­gen. Die ver­kün­den, dass sie Wahr­heit, ech­te Wahr­heit, nichts als die Wahr­heit pro­du­zie­ren, ver­wal­ten und beschei­ni­gen – mit schö­nen Doku­men­ten, gesie­gelt und gestem­pelt im Namen des Staa­tes. Ganz wie vor vier­hun­dert Jahren.

Beschei­ni­gung und Täu­schung, Selbst­er­for­schung und Mas­ken­spiel, demons­tra­ti­ve Beschei­den­heit und Hoch­sta­pe­lei gehö­ren eben zusammen

Beschei­ni­gung und Täu­schung, Selbst­er­for­schung und Mas­ken­spiel, demons­tra­ti­ve Beschei­den­heit und Hoch­sta­pe­lei gehö­ren eben zusam­men aus der Sicht der Wis­sen­schafts­ge­schich­te auf jeden Fall. Und nie­mand weiss das bes­ser als wir Gelehr­ten. Des­we­gen sind wir auch ein biss­chen baro­cke Höf­lin­ge. Das wür­de jeden­falls ein paar Eigen­hei­ten des Wis­sen­schafts­be­triebs ganz gut erklä­ren: die Nei­gung zu Ritua­len, Hof­ze­re­mo­ni­el­len und prun­ken­den Titeln. Die schmeich­le­ri­sche Unter­wür­fig­keit gegen­über Spon­so­ren. Und die schlech­te Nach­re­de über Kollegen.

Lite­ra­tur

Bodin, Jean. 1583/​1986. Sechs Bücher über den Staat. Buch IV-VI. Bd. 2. 2 Bde. Mün­chen: C. H. Beck.

Groeb­ner, Valen­tin. 2004. Der Schein der Per­son. Steck­brief, Aus­weis und Kon­trol­le im Mit­tel­al­ter. Mün­chen: C. H. Beck. [auf Per­len­tau­cher]

Pos­tel, Gert. 2001. Dok­tor­spie­le. Geständ­nis­se eines Hoch­stap­lers. Frank­furt am Main: Eich­born Verlag.

Mül­ler, Burk­hard. 2016. „Pos­tel. Die Ein­sam­keit des Hoch­stap­lers“, in: Mer­kur. Zeit­schrift für euro­päi­sches Den­ken. 801: 17–31.

Bild­nach­weis

The snow has no voice”, fo­to­gra­phiert von Corin­ne Rusch.

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Valen­tin Groebner

Valen­tin Groeb­ner ist Pro­fes­sor für Geschich­te an der Uni­ver­si­tät Luzern. Von 1991 bis 1999 war er Assis­tent an der Uni­ver­si­tät Basel. Seit­her hat er gelernt, dass man nicht davor gefeit ist, von den eige­nen Vätern unter ande­rem die Eigen­schaf­ten zu über­neh­men, die man frü­her uner­träg­lich gefun­den hat.

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