Es ist schwie­rig, neu­tral über den Klein­bür­ger zu spre­chen. All­tags­sprach­lich gilt er wahl­wei­se als kon­ser­va­tiv, bor­niert, bie­der, klein­ka­riert, eng­stir­nig, klein­geis­tig, pro­vin­zi­ell, ein­fäl­tig, ver­klemmt. Sein Name taugt in ver­schie­de­nen Kon­tex­ten gera­de­zu als Schimpf­wort. Der Spies­ser ist ihm eng ver­wandt. Die­se pejo­ra­ti­ven Asso­zia­tio­nen haben die aka­de­mi­sche Sozio­lo­gie im Sin­ne der Wert­ur­teils­frei­heit ver­an­lasst, den ‚Klein­bür­ger‘ wei­test­ge­hend zu erset­zen durch die unver­däch­ti­ge ‚Mit­tel­schicht‘. Die Sozi­al­struk­tur­ana­ly­se kann damit quan­ti­fi­zier­ba­re Gesell­schafts­schich­ten erfas­sen, etwa anhand von Ein­kom­mens- und Vermögensdifferenzen.

Aller­dings gera­ten so die qua­li­ta­ti­ven Eigen­schaf­ten des Klein­bür­gers als cha­rak­te­ris­ti­sche Sozi­al­fi­gur moder­ner Gesell­schaf­ten aus dem Blick. Jede unvor­ein­ge­nom­me­ne Betrach­tung steht damit vor einer dop­pel­ten Schwie­rig­keit: Gegen­über der All­tags­spra­che ist die Vor­stel­lung vom eng­stir­ni­gen Klein­bür­ger nor­ma­tiv zu ent­schla­cken. Gegen­über der Wis­sen­schaft aber muss das Phä­no­men ‚Klein­bür­ger‘ sicht­bar blei­ben. Des­sen nega­ti­ve Eigen­schaf­ten sind als sol­che anzu­er­ken­nen und ernst zu neh­men. Zugleich dür­fen Kli­schees aber nicht wis­sen­schaft­lich re-pro­du­ziert werden.

Gerhard Polt mimt den Spiessbürger in "Man spricht deutsh" (Müller 1988, Bild: © Constantin Filmverleih)
Ger­hard Polt mimt den Spiess­bür­ger in „Man spricht deutsh“ (Mül­ler 1988, Bild: © Con­stan­tin Filmverleih)

Im Fol­gen­den soll holz­schnitt­ar­tig nach­ge­zeich­net wer­den, wie die Gesell­schafts­theo­rie des 20. Jahr­hun­derts den Klein­bür­ger sys­te­ma­tisch der Hoch­sta­pe­lei ver­däch­tigt hat. Sig­mund Freud psycho-ana­ly­siert den Cha­rak­ter derer, die bes­ser sein wol­len als sie tat­säch­lich sind. Das füh­re fast zwangs­läu­fig in die Neu­ro­se, die wie­der­um auf einem über­zo­ge­nen und schlecht orga­ni­sier­ten Trieb­ver­zicht beruht. Die­se Lust­feind­lich­keit ist Aus­druck einer rigi­den Selbst­dis­zi­pli­nie­rung, die Max Weber reli­gi­ons­his­to­risch auf die puri­ta­ni­sche Aske­se der pro­tes­tan­ti­schen Ethik zurück­ge­führt hat. Theo­dor W. Ador­no fokus­siert weni­ger auf den Genuss­ver­zicht als auf die Bil­dung. Er iden­ti­fi­ziert die Halb­bil­dung als wesent­li­ches Merk­mal des Klein­bür­gers, der zwar viel weiss, und damit auch ger­ne angibt, aber nichts wirk­lich ver­steht. Die­se höhe­re Dumm­heit (Robert Musil) aber ist nach Pierre Bour­dieu kei­ne indi­vi­du­el­le Eigen­schaft, son­dern das logi­sche Resul­tat aus der pre­kä­ren Posi­ti­on des Klein­bür­gers inner­halb des gesell­schaft­li­chen Macht­ge­fü­ges. Dadurch wird die Hoch­sta­pe­lei zur gera­de­zu ide­al­ty­pi­schen Pra­xis des Kleinbürgers.

Die Hoch­sta­pe­lei wird zur gera­de­zu ide­al­ty­pi­schen Pra­xis des Kleinbürgers

Der Habi­tus des Kleinbürgers

Pierre Bourdieu (1930-2002), einer der bekanntesten Soziologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war Bauerssohn
Pierre Bour­dieu (1930–2002), einer der bekann­tes­ten Sozio­lo­gen der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, war selbst Sohn eines Pöst­lers. (Bild: © Col­lege de France)

Die cha­rak­te­ris­ti­sche Eigen­schaft des Klein­bür­gers besteht laut Bour­dieu in der Prä­ten­ti­on, der „Bereit­schaft zum Bluff oder zum Usur­pie­ren sozia­ler Iden­ti­tät im Ver­such, das Sein durch den Schein zu über­ho­len“ (Bour­dieu 1982).  Sie bezeich­net den ver­bis­se­nen Wil­len, mehr zu sein als man tat­säch­lich ist, oder zumin­dest so zu erschei­nen, im Wil­len zum sozia­len Auf­stieg. Jeder Habi­tus, auch der des Klein­bür­gers, pro­du­ziert eine ihm eige­ne Lie­be zum Schick­sal (amor fati). Sie führt dazu, dass die Men­schen sub­jek­tiv das wol­len, wozu sie objek­tiv ver­pflich­tet sind, was also gesell­schaft­lich vor­ge­ge­ben ist. Der Klein­bür­ger ist struk­tu­rell auf den Auf­stieg ver­pflich­tet, Still­stand bedeu­tet für ihn not­wen­di­ger­wei­se Abstieg.

Im Gegen­satz dazu hat das eta­blier­te Gross­bür­ger­tum die­sen Auf­stiegs­wil­len nicht nötig und die ganz unten haben gar kei­ne Ambi­tio­nen. Des Klein­bür­gers wich­tigs­te Stra­te­gie besteht dar­in, so zu tun als wäre der Auf­stieg bereits erfolgt, als gehö­re er bereits auf die bes­se­ren Plät­ze der Gesell­schaft. Das ist ris­kant, der Schwin­del kann jeder­zeit auf­flie­gen. Damit das nicht geschieht, muss der Klein­bür­ger sein Ver­hal­ten und die Reak­tio­nen der ande­ren dar­auf stets genau beob­ach­ten. Aber obwohl er sich „fort­wäh­rend über­wacht, sich kon­trol­liert und kor­ri­giert“, will es ihm bei aller Anstren­gung nicht gelin­gen, den eige­nen Habi­tus abzu­le­gen, wes­halb er in der bestän­di­gen Angst lebt, ent­larvt zu wer­den. In die­ser Angst grün­det die ange­streng­te Ver­kramp­fung und ner­vö­se Ängst­lich­keit, die ihn zur – gege­be­nen­falls durch­aus aggres­si­ven – Pedan­te­rie treibt. Er ver­sucht zwar flei­ßig, sei­nen Man­gel an kul­tu­rel­lem Kapi­tal auto­di­dak­tisch wett­zu­ma­chen und ver­fällt dadurch dem Stre­ber­haf­ten und Über­kor­rek­ten. Das gilt ins­be­son­de­re für sein mora­li­sches „Bekennt­nis […] zu Rigo­ris­mus, sein Lob­lied auf Sau­ber­keit, Mäßi­gung und Sorg­falt“. Aber genau die Eigen­schaf­ten, von denen er sich den Auf­stieg ver­spricht, ver­un­mög­li­chen ihm eben die­sen. Bour­dieu, selbst ein klein­bür­ger­li­cher Auf­stei­ger, beschreibt die Cha­rak­ter­zü­ge die­ser tra­gi­schen Figur treffend:

In ihrer gan­zen Stren­ge hat sie [die Moral des Klein­bür­gers, RS] etwas Enges und For­cier­tes, Ver­krampf­tes und Reiz­ba­res, Eng­her­zi­ges und Stei­fes […]. Klei­ne Sor­gen, klei­ne Nöte – der Klein­bür­ger ist ein Bür­ger, der auf klei­nem Fuße lebt. Sei­ne gan­ze Erschei­nung […] ist die eines Men­schen, der sich klein machen muss, um durch die engen Pfor­ten zu pas­sen, die zur Bour­geoi­se führt: strikt und nüch­tern, dis­kret und akku­rat, fehlt ihm in sei­ner Klei­dung und sei­ner Spra­che – die­se aus über­trie­be­ner Wach­sam­keit und Vor­sicht über­kor­rek­te Spra­che! –, in sei­nen Ges­ten wie in sei­ner gan­zen Hal­tung ein wenig Sta­tur, Frei­mut, Groß­zü­gig­keit und Per­sön­lich­keit.“ (Bour­dieu 1982, 531)

Sein ver­zwei­fel­ter Ver­such, zu kom­mu­ni­zie­ren, dass er auch zur geho­be­nen Sphä­re der Gesell­schaft gehört, ver­hin­dert die Zuge­hö­rig­keit des Klein­bür­gers zu sei­ner erwünsch­ten Gesell­schafts­schicht. Nur wer über Sta­tus tat­säch­lich ver­fügt, kann es sich leis­ten, die­sen nicht extra zu signa­li­sie­ren. Non­cha­lance ist also das Indiz für ech­te Pri­vi­le­giert­heit. Dage­gen ist die Grund­la­ge des prä­ten­tiö­sen impres­si­on manage­ment (Goff­man 1976) das Stück­chen Wis­sen, das sich der Klein­bür­ger ange­le­sen – neben mora­li­scher Makel­lo­sig­keit, pin­ge­li­ger Kor­rekt­heit und ver­stock­ter Serio­si­tät. Weil er immer etwas zu wenig ist, ist der Klein­bür­ger immer etwas zu viel. Die­se Kom­pen­sa­ti­on mün­det in Über­trei­bung: er ist zu genau, zu kor­rekt, zu seri­ös. Die­se ‚Tugen­den‘ ermög­li­chen ihm die Prä­ten­ti­on über­haupt erst. Sie sind kei­nes­wegs den ein­zel­nen Men­schen zuzu­schrei­ben, schon gar nicht als indi­vi­du­el­le Defi­zi­te. Sie resul­tie­ren laut Bour­dieu mit einer fata­len Not­wen­dig­keit aus der pre­kä­ren Posi­ti­on im sozia­len Raum.

Die Moral des Kleinbürgers

Hier zei­gen sich inter­es­san­te Ähn­lich­kei­ten zu Max Webers Beob­ach­tun­gen der pro­tes­tan­ti­schen Ethik. Weber fin­det die „genuins­ten Anhän­ger puri­ta­ni­schen Geis­tes“ in den „im Auf­stei­gen begrif­fe­nen Schich­ten der Klein­bür­ger“. Sie gel­ten ihm als typi­sche Trä­ger kapi­ta­lis­ti­scher Ethik und cal­vi­nis­ti­schen Kir­chen­tums (Weber 1920). Ihr Ethos ver­pflich­tet sie auf durch­ge­hend metho­di­sche Beherr­schung der eige­nen Lebens­füh­rung. Die­se Aske­se wen­det sich mit vol­ler Gewalt vor allem gegen eins: „das unbe­fan­ge­ne Genie­ßen des Daseins und des­sen, was es an Freu­den zu bie­ten hat“. Es ergibt sich dadurch skiz­zen­haft fol­gen­de Cha­rak­te­ris­tik: Um über­haupt Chan­cen auf gesell­schaft­li­chen Auf­stieg zu haben, muss der Klein­bür­ger sich prä­ten­ti­ös ver­hal­ten. Er muss so tun, als wäre die­ser Auf­stieg bereits erfolgt, als wäre er selbst grös­ser, höher und mehr als er eigent­lich ist – mit einem Wort: er muss hoch­sta­peln. Damit die­ser not­wen­di­ge Betrug nicht auf­fliegt, muss er sich per­ma­nent selbst über­wa­chen. Die­se Fähig­keit zur Selbst­kon­trol­le wie­der­um grün­det in der ethisch moti­vier­ten Ein­übung einer strikt metho­di­schen Lebens­füh­rung. Die Ver­pflich­tung zu die­ser hat ihre reli­giö­sen Grund­la­gen in der inner­welt­li­chen Aske­se der pro­tes­tan­ti­schen Ethik.

Time is Money: Nach Weber ist Ben­ja­min Frank­lin das Bei­spiel schlecht­hin für die pro­tes­tan­tisch aske­ti­sche Arbeitsmoral.

Die Trie­be des Kleinbürgers

Was aber bedeu­tet die­se Dis­zi­plin-Ethik für den ein­zel­nen zur Hoch­sta­pe­lei gezwun­ge­nen Spies­ser? Sig­mund Freud hat die dunk­len Sei­ten die­ser Ver­pflich­tung zur Selbst­kon­trol­le theo­re­tisch erfasst. Eine Gefahr der über­trie­be­nen Selbst­be­herr­schung und des damit ver­bun­de­nen Trieb­ver­zichts liegt, wenn die­ser nicht recht gelingt, in der Begüns­ti­gung neu­ro­ti­scher Ver­hal­tens­wei­sen. Prä­ten­ti­on und Hoch­sta­pe­lei sind damit auf Engs­te ver­bun­den: „alle, die edler sein wol­len, als ihre Kon­sti­tu­ti­on es ihnen gestat­tet, ver­fal­len der Neu­ro­se“ (Freud 1908). Das liegt auch dar­an, dass eben die­sem streb­sa­men Klein­bür­ger jene Mit­tel zur Sub­li­mie­rung feh­len, die es dem Gross­bür­ger erlau­ben, die pri­mi­ti­ven Trieb­re­gun­gen in eine gesell­schaft­lich aner­kann­te und sogar hoch geschätz­te Rich­tung zu len­ken. Freud nennt exem­pla­risch etwa „die Freu­de des Künst­lers am Schaf­fen, an der Ver­kör­pe­rung sei­ner Phan­ta­sie­ge­bil­de, die des For­schers an der Lösung von Pro­ble­men und am Erken­nen der Wahr­heit“ (Freud 1930). Die musi­schen Talen­te für die höhe­ren For­men sub­li­mer Trieb­be­frie­di­gung sind indes­sen höchst ungleich ver­teilt und dem Klein­bür­ger nicht leicht zugäng­lich. Was ihm bleibt, sind meist nur Ver­zicht, Ent­sa­gung und Ver­drän­gung, allen­falls die „Mög­lich­keit, ein star­kes Aus­maß libi­di­nö­ser Kom­po­nen­ten, nar­ziss­ti­sche, aggres­si­ve und selbst ero­ti­sche, auf die Berufs­ar­beit […] zu ver­schie­ben“. Damit gelangt man, auf gänz­lich ande­rem Wege, wie­der zu Webers Arbeitsethos.

Stän­dig läuft er Gefahr, als der ein­fäl­ti­ge Phi­lis­ter erkannt zu wer­den, der er sei­ner Her­kunft nach eigent­lich ist.

Also zeigt sich der Habi­tus des Klein­bür­gers nicht nur in sei­nem Ver­hält­nis zu sei­nen Trie­ben, son­dern auch zu den sub­li­mier­ten Kul­tur- und Bil­dungs­leis­tun­gen. Nicht etwa ist der Klein­bür­ger ein­fach unge­bil­det, im Gegen­teil. Er nimmt Bil­dung sogar aus­ge­spro­chen ernst, wie­der­um: zu ernst. Kann sich der Gross­bür­ger auf­grund sei­ner Her­kunft unab­hän­gi­ge Urtei­le und ein durch­aus spie­le­ri­sches Ver­hält­nis zum Bil­dungs­spiel leis­ten, macht der auto­ri­täts­ge­bun­de­ne Klein­bür­ger „aus der Bil­dung eine Fra­ge von wahr und falsch, eine Fra­ge auf Leben und Tod“ (Bour­dieu 1982)

Die Bil­dung des Kleinbürgers

Des­halb neigt er zur aggres­si­ven Bes­ser­wis­se­rei. Er trumpft arro­gant auf, wenn es ihm gelingt, eine Schu­bert-Sona­te kor­rekt zu iden­ti­fi­zie­ren, eine latei­ni­sche Phra­se im rich­ti­gen Augen­blick zu plat­zie­ren oder zumin­dest mit einem pas­sen­den Goe­the­zi­tat prot­zen zu kön­nen. Aber gera­de durch die­se geschwol­le­ne Prah­le­rei setzt er sich auch wie­der beson­ders stark der Gefahr aus, ent­larvt zu wer­den. Natür­lich unter­lau­fen auch Gross­bür­gern Faux­pas, aller­dings – und das ist der ent­schei­den­de Unter­schied – kann es ihnen egal sein. Sie haben das gut infor­mier­te, aber ober­fläch­li­che Bescheid­wis­sen schlicht nicht nötig. Ihre tief inkor­po­rier­te Kul­ti­viert­heit erlaubt es ihnen, die offi­zi­el­le Kul­tur nicht so ernst zu neh­men. Sie ist ihnen gege­be­nen­falls eine ange­neh­me Berei­che­rung und eine Quel­le müs­si­ger Inspi­ra­ti­on, ihre sozia­le Iden­ti­tät hängt aber nicht dar­an. Ganz anders wird dem Klein­bür­ger zuge­schrie­ben, jeder Schnit­zer im Bereich der Kul­tur kön­ne für ihn das end­gül­ti­ge Ver­der­ben bedeu­ten. Die Wege nach oben sind für ihn, so will es die Theo­rie, vol­ler Stol­per­stei­ne und die Fall­tür nach unten ist immer weit geöff­net. Stän­dig läuft er Gefahr, als der ein­fäl­ti­ge Phi­lis­ter erkannt zu wer­den, der er sei­ner Her­kunft nach eigent­lich ist.

Die Wahl­ver­wandt­schaft von Halb­bil­dung und Klein­bür­ger­tum liegt auf der Hand„Theo­dor W. Adorno

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Die (klein-)bürgerliche Wohn­zim­mer­wand: Noch bis 2014 gestat­te­te es der Brock­haus, mit Wis­sen zu imponieren.

Theo­dor W. Ador­no hat die­ses pro­ble­ma­ti­sche Ver­hält­nis zur Kul­tur auf den Begriff der Halb­bil­dung gebracht: „Sie ist geis­tig prä­ten­ti­ös und bar­ba­risch anti-intel­lek­tu­ell in eins. Die Wahl­ver­wandt­schaft von Halb­bil­dung und Klein­bür­ger­tum liegt auf der Hand“ (Ador­no 1959)

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Theo­dor W. Ador­no (1903–1969), das Wun­der­kind, stamm­te aus gross­bür­ger­li­chen Verhältnissen.

Die schlich­te Unbil­dung ist der gelun­ge­nen Bil­dung näher als bei­de der Halb­bil­dung. Bei­de ermög­li­chen – in ganz ande­rer Art und Wei­se – einen zwang­lo­sen und offe­nen Bezug zum jewei­li­gen Gegen­stand des Inter­es­ses. Dage­gen ver­schliesst sich die Halb­bil­dung die­sem und ver­sucht statt­des­sen, ihn in die vor­ge­fer­tig­ten Kate­go­rien rigi­der Denk­sche­ma­ta ein­zu­ord­nen. Sie kennt Bil­dung nur als iden­ti­fi­zie­ren­des Wis­sen und ist regel­recht beses­sen von der Logik der Sub­sum­ti­on. Die ein­zel­nen Ele­men­te ver­schmel­zen nicht zu einem irgend­wie kohä­ren­ten Gan­zen, was gelun­ge­ne Bil­dung gera­de bean­sprucht. In gewis­sem Sinn ist die klein­bür­ger­li­che Halb­bil­dung das Gegen­teil von Wis­sen und – um hier in typisch klein­bür­ger­lich-halb­ge­bil­de­ter Manier ein tref­fen­des Zitat anzu­brin­gen – „das, was übrig bleibt, wenn wir alles ver­ges­sen haben, was wir in der Schu­le gelernt haben“ (Hei­sen­berg).

In illu­si­ons­lo­ser Nüch­tern­heit kon­sta­tiert Ador­no 1959, dass die Halb­bil­dung die gesam­te Kul­tur erfasst habe und dadurch nach­hal­tig zer­stö­ren wer­de – offen­bar ist der Klein­bür­ger trotz aller Stol­per­stei­ne auf dem Vor­marsch. Sicher­heits­hal­ber ver­wahrt er sich expli­zit gegen jeden Eli­tis­mus: „Eitel aber wäre auch die Ein­bil­dung, irgend jemand – und damit meint man immer sich sel­ber – wäre von der Ten­denz zur sozia­li­sier­ten Halb­bil­dung ausgenommen“.

Die Kri­tik des Klein­bür­gers (an der Kri­tik am Kleinbürger)

Wenn auch nicht alle Hoch­sta­pe­lei klein­bür­ger­lich ist und es natür­lich auch genu­in gross­bür­ger­li­che oder pro­le­ta­ri­sche Hoch­stap­ler gibt, so ist umge­kehrt der Klein­bür­ger auf­grund sei­ner Posi­ti­on in den gesell­schaft­li­chen Herr­schafts­ver­hält­nis­sen doch dazu beson­ders dis­po­niert, als sol­cher ver­däch­tigt zu wer­den. Dass damit kein Wert­ur­teil ver­bun­den ist, son­dern die­se Pra­xis sowohl aus sozi­al­struk­tu­rel­len als auch ideen­ge­schicht­lich-kul­tu­rel­len Grün­den erfolgt, dürf­te der Lese­rin und dem Leser klar gewor­den sein.

Wäre abschlies­send doch ein kri­ti­sches Urteil erlaubt, und zwar ein unum­wun­den nega­ti­ves, trä­fe es die aus­ge­spro­chen bor­nier­te und angst­be­setz­te, meist schlech­ter­dings hoch­nä­si­ge – para­do­xer­wei­se nicht sel­ten selbst: klein­bür­ger­li­che – Kri­tik am Klein­bür­ger. Da dem prä­ten­ti­ös-neu­ro­tisch-aske­tisch-halb­ge­bil­de­ten Autor die­ses Arti­kels für schnei­di­ge Stel­lung­nah­men indes­sen die gross­bür­ger­li­che Selbst­si­cher­heit fehlt, wäre die­se Kri­tik an der Kri­tik hier bloss ein wei­te­rer, beson­ders pein­li­cher Beweis für die ver­mes­se­ne Hoch­stap­le­rei des Klein­bür­gers. Er wür­de dann per­for­ma­tiv bestä­ti­gen, was er sich dis­ku­siv zu kri­ti­sie­ren anmasst. Es bleibt des­halb nur zu sagen: So sind wir halt.

Take it or lea­ve it.

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Der ‚Klein­bür­ger‘ Dio­ge­nes von Sinope ver­kün­det Alex­an­der dem Gros­sen die Wahr­heit (Bild: Gaet­a­no Gan­dol­fi, Dio­ge­nes und Alex­an­der 1792)

Lite­ra­tur

Ador­no, Theo­dor W.. 1972 [1959]. „Theo­rie der Halb­bil­dung“. In: Theo­dor W. Ador­no. Sozio­lo­gi­sche Schrif­ten 1. Frank­furt am Main: Suhr­kamp (Zita­te auf Sei­ten 118, 120).

Bour­dieu, Pierre. 1982. Die fei­nen Unter­schie­de. Kri­tik der gesell­schaft­li­chen Urteils­kraft. Frank­furt am Main: Suhr­kamp (Zita­te auf Sei­ten: 394, 331, 382, 531, 518)

Freud, Sig­mund. 2007 [1908]. „Die ‚kul­tu­rel­le‘ Sexu­al­mo­ral und die moder­ne Ner­vo­si­tät“. In: Sig­mund Freud. Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur. Und ande­re kul­tur­theo­re­ti­sche Schrif­ten, Frank­furt am Main (Zitat auf Sei­te 120).

Freud, Sig­mund. 2007 [1930]. „Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur“ [1930]. In: Sig­mund Freud. Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur. Und ande­re kul­tur­theo­re­ti­sche Schrif­ten, Frank­furt am Main (Zita­te auf Sei­te 46).

Goff­man, Erving. 1976. Wir alle spie­len Thea­ter: die Selbst­dar­stel­lung im All­tag. Über­setzt von Peter Weber-Schä­fer. Mün­chen: Piper. Erst­mals erschie­nen als: Goff­man, Erving. 1959. The Pre­sen­ta­ti­on of Self in Ever­y­day Life. New York: Doubleday.

Weber, Max. 1988 [1920]. „Die pro­tes­tan­ti­sche Ethik und der Geist des Kapi­ta­lis­mus“. In: Max Weber. Gesam­mel­te Auf­sät­ze zur Reli­gi­ons­so­zio­lo­gie I, Tübin­gen: Mohr, UTB (Zita­te auf Sei­ten 195, 183)

Bild­nach­weis

Lost in pat­terns”, foto­gra­phiert von Corin­ne Rusch.

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Robert Schä­fer

Robert Schä­fer ist pro­mo­vier­ter Sozio­lo­ge, forscht und lehrt an der Uni­ver­si­tät Fri­bourg. Er kennt sich in der Kul­tur­so­zio­lo­gie und Sozi­al­theo­rie genau­so aus wie in qua­li­ta­ti­ven Metho­den der empi­ri­schen Sozi­al­for­schung. In sei­ner Dis­ser­ta­ti­on, 2015 bei tran­script erschie­nen, ana­ly­siert Schä­fer den Tou­ris­mus als gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on von Außeralltäglichkeit.

Erschie­nen in:

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